67. Mit Handicap am Jakobsweg unterwegs!

13. Juli 2018
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7 Minuten Lesezeit

Da für mich der Alltag noch immer Therapie bedeutet, war auch der Camino France eine Therapie. Allerdings eine alternative. Es wäre schön gewesen, auf Krankenschein hier herfahren zu können 😁, für mich zumindest. Denn es ist noch immer für mich wichtig, in allem was ich mache, mein Handicap zu verbessern.

Vieles in der Reha gelernte und zu Hause verfestigte, konnte ich hier im Alltag anwenden. Eine wohltuende Abwechslung. Aber auch die bestehenden Defizite konnten entsprechend trainiert werden.

Viele Herausforderungen am Weg haben mir geholfen Bereiche zu üben, in denen ich noch Defizite habe und die noch nicht funktionieren.

Gehen mit Handicap

Handicap 1: Das Gehen

Mein Hauptgrund hierher zukommen war ja, dass ich Gehen wollte. Allerdings, mit Behinderung auf einen so langen Weg? Ich wusste selbst nicht, was auf mich zukommt.

Nun, ich habe die Herausforderung angenommen. Was unmöglich schien, sollte Wirklichkeit werden. Das Gehen war und ist noch immer eines meiner Handicaps. Ich musste es also vorsichtig angehen und durfte nicht auf zu viel Verbesserung hoffen. Es braucht alles seine Zeit und ich bin ja schon bisher täglich gegangen. Verbesserung stellt sich trotzdem nur langsam ein.

Ein Bestreben von mir war, technisch möglichst gut zu gehen und keine Fehler einreißen zu lassen. Denn solche einmal eingelernten Fehler sind nur schwer wieder zu ändern.

Gehen

Am Anfang wenig Probleme

Lange gab es keine Probleme. Nur eine Blase und sonst nichts. Ich war natürlich gedanklich sehr stark beim Gehen. Automatisch lief nämlich gar nichts. Ich achtete auf die Füße und wo ich hintrat. Die ersten Tage war ich übervorsichtig unterwegs.

Zur Vorsicht Blasenpflaster

Besonders wo ich hintrat, erforderte besondere Konzentration. Ich merkte es bei Tunneln, deren es eine Menge gab. Meistens war es in der Mitte hin finster. Da hieß es dann besonders aufpassen. Ich muss sehen, wo ich hintrete, ansonsten habe ich kein Gefühl dafür, wieweit der Fuß noch vom Boden entfernt ist. Deswegen tue ich mich auch beim automatischen Gehen noch so schwer. Tunnel waren echt eine Herausforderung.

Der Teletubbi-Gang

Was komisch war, hier gingen viele den "Teletubbi-Gang". Es war auch mein Gang, besonders am Anfang und in bestimmten Situationen auch heute noch. Hier sind die meisten vom Gehen überfordert und schlurfen dann dahin.

Besonders lustig wurde es in der Früh in den Herbergen. Viele kamen fast nicht mehr von den Stockbetten herunter. Sie hatten solch einen Muskelkater, Sehnen- oder Bänderschmerzen, dass sie es nur unter größter Mühe schafften.

Verkürzungen
Besonders viele Asiaten hatten Probleme

Dehnen und Stretching

Stretching

Regelmäßiges Dehnen und Stretching gehörte bei mir dazu. Alles in meinem Körper muss erst wieder gestärkt werden, daher ist auch dehnen unverzichtbar. Seit dem Krankenhaus habe ich außerdem extreme Verkürzungen, besonders in den Beinen. In den ersten Tagen war ich besonders darauf bedacht, meine Beweglichkeit zu erhalten. Ich achtete sehr darauf, dass keine Sehnen- oder Bänderbeschwerden auftraten.

Handicap 2: Das Gleichgewicht

bergauf, bergab

Zum Gehen gehört auch das Gleichgewicht. Besonders steile Stücke sind für mich eine Herausforderung. Umso langsamer ich werde, desto mehr Probleme bekomme ich mit dem Gleichgewicht. Das ist an sich normal, ist bei mir aber nochmals verstärkt. Gerade steil bergauf wanke ich oft von links nach rechts. Zu Hause würde man mich als betrunken abstempeln, hier war es normal.

Die oft kleinen Japaner mit ihren großen Rucksäcken wankten bei jedem Schritt. Daher bin ich gar nicht so besonders aufgefallen. Wie man sieht, alles eine Ansichtssache!

Bei mir ist das gestörte Gleichgewichtsgefühl dafür verantwortlich. Andere Pilger taumeln ebenso dahin. Muskelkater, ein zu schwerer Rucksack oder andere Beschwerden lassen es nicht anders zu. Daher fühle ich mich hier nicht alleine. Der Unterschied ist aber, dass sie nach Ablegen des Rucksacks oder der entsprechenden Erholung wieder fit sind, bei mir bleibt es beständig.

Handicap3: Der Schwindel

Pause

Nach Pausen, die ich sitzend oder liegend verbringe, richte ich mich langsam auf, um nicht schwindlig zu werden. Dieses Leiden ist noch immer da und begleitet mich seit dem Krankenhaus. Damals, am Beginn, konnte ich mich oft nur 10 Minuten aufrecht halten. Das habe ich seither immer mehr ausweiten können, aber ich muss noch immer aufpassen und mich langsam aufrichten.

Handicap 4: Die Position des Körpers

Hineingehen in eine Steigung erfordert eine Neupositionierung des gesamten Körpers. Der (schwere) Rucksack mit seinen 6 bis 7 kg, tut seines dazu bei. Schwer ist natürlich relativ. Eigentlich ist es leicht, aber ich hatte immer das Gefühl, 20 bis 25 kg zu tragen. Immer wieder war ein Anpassen der Winkel im Körper, passend zur Steigung des Weges und des Untergrunds notwendig. Das musste ich immer bewusst machen. Meine gesamte Automatisation ist verloren gegangen.

In Leon passierte mir dann auch ein folgenschwerer Fehler. Dort waren extrem viele schräg hängende Gehsteige. Absolutes Gift für meine Sprunggelenke. Zuerst merkte ich nichts, aber außerhalb Leons begann ein eigenartiges Ziehen in Gelenk und Schienbein.

Es war wie mit Skischuhen auf einer schrägen zu gehen. Man hält es nicht lange aus. Ähnlich erging es mir. Ich war unvorsichtig geworden. Immerhin hatte ich schon fast 500 Kilometer ohne größere Probleme zurückgelegt. Das sollte sich rächen.

Gehsteige in Leon
Schräge Gehsteige in Leon

Aus wegen Unvorsichtigkeit

Am nächsten Tag spürte ich einen eigenartigen Schmerz, konnte ihn aber nicht deuten. Ich legte noch 40 km in Etappen zurück, um dann festzustellen, dass sich eine Sehnenscheidenentzündung bemerkbar machte. Die ungewohnte Bewegung über wenige Kilometer bescherte mir das Aus.

Unter Umständen wären mir mehrere Wochen Ruhepause bevor gestanden, wäre ich weiter gegangen. Da die letzten 250 km nach Santiago bergig sind, entschloss ich mich nach Astorga zurückzugehen und den Camino zu beenden. Da meine Reha bald anfängt, wollte ich nichts riskieren.

Schade, aber ich darf dankbar sein, so weit gekommen zu sein.

Handicap 5: Die Hände

Mir fehlt nach wie vor die Feinmotorik. Alles fummelige bereitet mir Probleme. Ein besonderes Training bescherten mir eingewickelte Zuckerln. Ich brauchte für jedes mehrere Minuten, um das mit Papier ummantelte zu öffnen. Es war gleichzeitig eine gute Übung für automatisiertes Gehen, da ich mit meiner Aufmerksamkeit beim Greifen war. Training pur also! Meine Ergotherapeutin hätte eine Freude mit mir gehabt.


Zuckerl    Zuckerl, Ergotherapie
Überhaupt war das Greifen schwierig. Am gemeinsamen Essen beteiligte ich mich nicht oft. Schüsseln wurden herumgereicht und das stellte mich oft vor ein Problem. Ich konnte sie nicht richtig fassen oder weiterreichen. Ungelenkig und potschert stellte ich mich an. Zu erklären, dass ich krank war, ist mir nicht möglich gewesen. Vor allem nicht in den verschiedenen Sprachen. So vermied ich es einfach, es war das leichteste für mich.

Handicap 6: Das Denken

Das Denken muss ich unterteilen, da es verschiedene Bereiche oder Umstände gibt.

Ein wichtiger Punkt ist mir gleich aufgefallen. Ich wollte ja Gehen, um im Kopf leer zu werden. Leer werden heißt aber, NICHT denken. Das tat ich und diese gewonnene Energie setzte sich in vermehrter Gehleistung nieder.

Gar nichts Denken konnte ich natürlich auch nicht. Meine Bewegungen musste ich natürlich noch immer andenken. Aber Gedanken über Probleme, was ansteht und vieles andere, sind weggefallen. Und diese frei werdende Ressource zeigte sich in Gehleistung.

Es gibt zwei Arten von Denken

Es ist eigentlich ganz einfach, hatte ich aber im Vorfeld nicht bedacht. Ich habe über den Tag eine bestimmte Menge Energie. Egal ob ich denke, gehe oder sonst wie bewege, diese Energie wird weniger. Da aber das Denken über die Probleme zu Hause wegfielen, blieb einfach mehr für das Gehen über.

Noch ist die Energie schneller vorbei, als der Tag Stunden hat. Daher spüre ich diese Veränderung sehr stark. Das war auch ein Hauptgrund für manch einen Zweifel vorher, ob ich überhaupt schon fahren kann. Ich musste halt aufpassen, diesen Punkt nicht zu übersehen, denn dann kann es mühsam werden.

Orientierung = denken

Wegweiser
Landkarte

Ich muss denken, um vorwärts zu kommen. Die Orientierung am Camino war nicht so schwer. Überall weisen gelbe Pfeile oder die Jakobsmuschel den Weg. Nur ganz selten war ich im Zweifel, ob ich noch richtig bin. Da machte mir die andere Art der Orientierung mehr Probleme.

Nämlich die Orientierung wo ich war. Damit war ich überfordert. Das nächste Dorf konnte ich mir gerade noch  merken. Aber aus welchem ich herkam oder wo ich hinwollte, dass hatte ich gleich wieder vergessen. Ich wurde immer wieder gefragt, wieweit ich noch zu gehen gedenke. Das konnte ich aber nicht sagen. Mein fehlendes Kurzzeitgedächtnis war daran schuld. Ich hatte kein Gefühl für Distanzen oder merkte mir einen Namen.

Wie ich ein Rezept zum Kochen immer wieder von vorne durchlesen muss, ist es auch mit der Tagesetappe. Immer wieder von vorne. Ich konnte im Reiseführer nachschauen, eine Minute später wusste ich nicht mehr, wohin oder wieweit. Es gab aber nur eine Richtung und die war mit gelben Pfeilen markiert. Und irgendwann musste auch eine Herberge kommen.

Soweit mich die Beine tragen

Ich ging einfach, soweit mich die Beine trugen. Zu Mittag begann ich nach einer Herberge Ausschau zu halten. Meine Konzentration lässt am Nachmittag stark nach, da wollte ich bereits ein Quartier haben.

Außerdem wurde es am Nachmittag recht heiß. Dem wollte ich mich nicht aussetzen. Während andere noch gingen, legte ich bereits die Beine hoch, obwohl ich die Hitze gut vertrug. Aber ich war meist schon seit frühen Morgen unterwegs, da konnte ich gerne stoppen. Mir lief ja nichts davon und ich hatte ja nicht das Ziel, nach Santiago zu gelangen. Zumindest zunächst nicht.

Erst gegen Ende zeichnete sich ab, dass ich den Camino France doch in Santiago beenden könnte. Allerdings durften keine Zwischenfälle vorkommen, was ja bekanntlich anders endete.

Denken und Gedanken

So reduzierte ich das Denken auf ein Minimum. Ich verfiel oft in ein meditatives Gehen. Keine Gedanken, kein durchspielen von Möglichkeiten, nichts. Denken und Gedanken, ein Mysterium. Mit Gedanken habe ich sowieso noch meine Probleme. Es sind mir noch keine weiterführenden Gedanken möglich.

Handicap 7: Die Konzentration

Eine gewisse Konzentration war notwendig. Für das Gehen, das Bewegen und für die Orientierung habe ich sie gebraucht. Alles andere versuchte ich zu vermeiden.

Angestrengte Gespräche und Diskussionen am Abend unter den Pilgern führte ich keine. Das kostete mir zu viel Energie. Außerdem wurden meist zwei, drei Sprachen am Tisch gesprochen. Das war mir zu anstrengend und ich verzog mich in mein Bett. Ich ordnete alles dem Gehen unter.

Handicap 8: Die verschiedenen Sprachen

Spanisch überforderte mich von Anfang an. Es war so anstrengend, dass ich mein Spanisch Wörterbuch bei nächster Gelegenheit nach Hause schickte. Wenn, dann musste Mr.Google herhalten. Einzig Englisch zu sprechen ging, war aber trotzdem schwer für mich. Ich konnte vielen Gesprächen nicht folgen.

Ein paar Pilger wussten über meine Probleme Bescheid. Sie gingen auf meine Problematik ein und halfen mir immer wieder. Mit ihnen ging ich auch ein Stück des Weges oder traf sie alle paar Tage wieder.

Es tat mir oft leid, dass ich vielem nicht folgen konnte und mich oft zurückzog. Aber es ging nicht anders, mein Hauptaugenmerk lag beim Gehen. Etwas anderes war mir nicht möglich.

Das wichtigste, Energie einsparen!

Gehen

Ich musste Energie einsparen, wo ich konnte. Mir war klar, dass ich vieles nicht erleben konnte, was den Camino ausmacht. Aber ich war ja wegen etwas anderem hier und dieses Erleben war genauso wertvoll. Wie man den Camino auch angeht, man wird so akzeptiert, wie man es möchte. Jeder kommt mit einer eigenen Motivation her.

Ich komme wieder

Besonders die Städte mit ihren alten Bauten und Kirchen sind sehr schön und sehenswert. Ich möchte unbedingt wiederkommen, um auch dieses "andere" am Camino zu erleben. Gerade die Städte und Dörfer haben einen eigenen Flair, den ich nur am Rande wahrnekmen konnte.

Nicht eingeschränkt, nur anders!

Nun, in diesen Bereichen lagen meine Defizite am Weg. Ich habe mit meinen Behinderungen zu leben. Das ist eben anders wie früher.

Das Erleben war nicht eingeschränkt, sondern nur anders.


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Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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