Ultra-Light Pilgern am Camino Frances, im Mai 2025 – Mit nur 2,5 kg zum Jakobsweg

Meine Entscheidung für Ultra-Light entstand nicht aus einer Modeerscheinung heraus, sondern aus einer Notwendigkeit. Nach dem Hirnabszess blieb eine Muskelschwäche zurück – eine jener unsichtbaren Lasten, die das Gehen zu einer täglichen Herausforderung machen. Doch gerade deshalb habe ich begonnen, meine Ausrüstung zu hinterfragen. Stück für Stück stelle ich jedes Gramm immer wieder auf den Prüfstand.

Von Tour zu Tour habe ich weiter reduziert, angepasst, verfeinert – immer auf der Suche nach diesen kleinen, aber entscheidenden Verbesserungen, die mir das Gehen erleichtern. Viele Wege hätte ich ohne diese konsequente Auseinandersetzung mit dem Thema Ultra-Light nicht gehen können. Es wurde zu einem stillen Verbündeten. Einer, der mir geholfen hat Strecken zu meistern, die vorher für mich undenkbar waren.

Scott Kinabalu, Ultra-Light am Camino
Ultra-Light, mein Gepäck am Jakobsweg, 2,5 kg

Mein Fokus am Camino Frances

Der Camino Frances ist der bekannteste unter den Pilgerwegen und ich habe ihn am häufigsten besucht. Er zieht jedes Jahr Tausende Pilger aus aller Welt an – mit unterschiedlichen Zielen: spirituelle Erleuchtung, sportliche Herausforderung oder, wie in meinem Fall, nach einer langen Krankheit. Sich mit Ultra-Light auseinanderzusetzen kann somit für jeden etwas sein, denn mit weniger Gewicht kannst du den Weg mehr genießen und legst vielleicht auch schneller mehr Ballast im Kopf ab.

Mein diesmaliger Fokus für den Jakobsweg im Mai ist klar: So leicht wie möglich unterwegs sein und durch diese Reduktion neue Erfahrungen machen können. 2,5 kg Basisgewicht – das ist alles, was ich mitnehme. Kein überflüssiger Ballast, kaum „Falls-ich-es-brauche“-Dinge, sondern ein durchdachtes System, das auf Minimalismus und Funktionalität setzt. Dazu kommt nur noch Wasser und Verpflegung. Mein Gesamtgewicht wird sich auf rund 4 Kilogramm beschränken.

Am Jakobsweg, in den Pyrenäen im Herbst 2022
Am Jakobsweg, Pyrenäen, November 2024, mit knapp 4 kg Basisgewicht

Seit Mitte Dezember, nach meinem Winter-Camino Frances, habe ich mich mit ganzer Kraft meinen Handicaps gewidmet. Therapeutischaes Tanzen, Dehnungs- und Kräftigungsübungen, gezieltes Wahrnehmungstraining und eine bewusste Ernährung bildeten das Fundament. Besonders die Knieschmerzen, aufgrund falscher Schuhwahl am Hexatrek, begleiteten mich lange und standen seither im Fokus.

Mein Ziel ist klar: Am Camino möchte ich wieder in meine Mitte finden, Schritt für Schritt, ohne äußere Störungen. Einfach nur gehen. Gerade gehen. Und dabei mein neues Ziel verspüren, welches Leben und Therapie vereint.

Warum das Ganze mit Ultra-Light?

Der Vorteil von Ultra-Light liegt in mehreren Aspekten:

  1. Körperliche Erleichterung: Ultra-Light-Ausrüstung bedeutet weniger Gewicht beim Gehen. Die Energie-Ersparnis ist mein größter Vorteil. Meine Gelenke werden weniger belastet, was ein immenser Vorteil ist.
  2. Effizienz und Geschwindigkeit: Weniger Gewicht bedeutet oft schnellere Fortbewegung, bzw. leichteres Bewegen. Ein so leichter Rucksack macht jede Bewegung einfacher. Geschwindigkeit ist diesmal nicht mein Thema, aber ein leichteres Bewegen am Weg, also Leichtigkeit.
  3. Mentale Freiheit: Wer weniger mit sich herumschleppt, kann sich besser auf die Natur, das Laufen oder den Moment konzentrieren. Weniger Ballast – auch im Kopf, macht frei. Zu wissen, so wenig zu benötigen, macht frei.
  4. Minimalismus als Lebensphilosophie: Ultra-Light geht über Sport hinaus – es ist eine Einstellung. Es bedeutet, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und überflüssigen Ballast loszulassen. Für mein Gehirn ist es noch einfacher, an weniger Dinge denken zu müssen.
  5. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Wer leicht unterwegs ist, kann schneller reagieren, neue Routen ausprobieren und ist nicht so stark an bestimmte Pläne oder Ausrüstung gebunden.
Ultra-Light am Hexatrek
Ultra-Light am Hexatrek in Frankreich, Basisgewicht 4,7 kg

Bei Ultra-Light geht es um Reduktion auf das Wesentliche, um Effizienz und darum, mit weniger mehr zu erreichen. Für mich wird es spannend, zu erleben, was das mit mir macht. So leicht war ich noch nie am Camino in Spanien unterwegs. Im Sommer würde ich auf noch weniger kommen, mit etwa 2 kg Basisgewicht. Am Foto oben, am Hexatrek in Frankreich, hatte ich knapp 5 kg Basisgewicht, allerdings mit Zelt.

In den Jahren seit meinem Hirnabszess optimierte ich alle Arbeitsschritte und praktiziere Reduktion, in fast allen Bereichen meines täglichen Lebens. Mein Gehirn ist damit weniger belastet, was ein riesiger Vorteil ist. Es hat dadurch weniger Arbeit und damit bleibt mehr Energie für die Bewegung.

Nach und nach setze ich Ultra-Light immer mehr beim Pilgern um. Auf meinen Wegen war ich schon immer leicht unterwegs, aber der Ultra-Leicht Gedanke machte erst vieles möglich.

Hier ist mein Setup für den Camino in Spanien:

hier gehts zur 2,5 kg lighterpack Liste für den Camino

Ja, es ginge noch leichter, aber im Mai möchte ich doch noch gewappnet sein für Kälte, Wetterumschwünge und Regen. Im Sommer wäre ich wahrscheinlich mit 2 kg unterwegs.

Warum Ultra-Light?

Als ehemaliger Trailrunner, Bergsteiger und Radfahrer habe ich schon viel Erfahrung mit der Optimierung von Ausrüstung. Doch nach meiner schweren Krankheit habe ich meinen Fokus noch stärker auf Effizienz und Energieeinsparung gelegt. Jedes überflüssige Gramm kann unterwegs zu unnötiger Belastung werden. Die Muskelschwäche fordert einen leichten Rucksack geradezu heraus.

Viele Pilger tragen klassische Rucksäcke – mit einem Basisgewicht von 8 bis 12 Kilogramm, wo noch Wasser und Proviant dazu kommt. Ich gehe diesen Weg nicht. Mein Ansatz ist ein anderer: so leicht wie möglich, so reduziert, dass ich den Rucksack kaum mehr spüre. Einerseits weniger Sachen mitnehmen und andererseits die anderen gegen noch leichtere austauschen.

Es ist nicht nur eine körperliche Entscheidung, sondern auch eine symbolische. Auf dem ersten Pilgerweg trägt fast jeder einen zu schweren Rucksack – nicht nur auf dem Rücken, sondern auch im Herzen. Er steht für all das, was einen innerlich beschwert: Sorgen, Ängste, alte Geschichten.

Und oft geschieht es ganz unbewusst, dass man im Laufe des Weges Dinge zurücklässt – Überflüssiges, Belastendes. Was bleibt, ist das Wesentliche. Und manchmal ist es genau das, was die Seele braucht: weniger Gewicht, innen wie außen und so wird der Rucksack leichter, weil man überflüssiges zurücklässt.

Ultra-Light bedeutet aber nicht „spartanisch“. OK, vielleicht ein bisschen, allerdings verzichte ich trotzdem nicht auf ein wenig Komfort, sondern wähle bewusst. Die Kunst liegt darin, sich auf das Nötigste zu beschränken, ohne wichtige Funktionen zu verlieren.

Mein Ultra-Light Setup für den Camino Frances

1. Rucksack:

Für mein Ultra-Light Setup am Camino Frances habe ich zwei Modelle zur Auswahl – beide sind eigentlich Lauf-Westen, aber genau deshalb optimal: leicht, körpernah, ohne unnötigen Schnickschnack. Keine dicken Polster, keine überladenen Fächer – einfach pur. Und genau das brauche ich. Schlussendlich habe ich mich für das Modell von Scott entschieden.

Als erster, der Decathlon Evo Trail 15

  • Gewicht: 360 g
  • Volumen: 15 Liter
  • Preis: unschlagbar günstig

Der Evo Trail von Decathlon ist schlicht, funktional und erfüllt genau das, was ich brauche – nicht mehr, nicht weniger. Klar, 15 Liter klingen knapp – sind sie auch. Aber ich habe wenig dabei, also reicht’s. Besonders wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt und täglich wäscht, ist das machbar. Mit seinen vielen Außenfächern geht er eher in Richtung 20 Liter Rucksack.

Ultra-Light Rucksack Decathlon 15 Liter
Decathlon 15 Liter

Scott Kinabalu TR 20

  • Gewicht: 280 g
  • Volumen: 20 Liter
  • Passform: sportlich-kompakt, ideal für lange Etappen
  • Preis: sehr günstig, da Auslaufmodell

Der Kinabalu TR 20 ist ein Leichtgewicht mit etwas mehr Spielraum. 20 Liter geben mir die Freiheit, nicht jeden Zentimeter packoptimiert nutzen zu müssen. Und trotzdem ist die Weste noch leichter als der Decathlon – 280 g für 20 Liter, das ist schon eine Ansage.

Die Passform ist exzellent, vor allem wenn man lange unterwegs ist und der Rucksack zur zweiten Haut wird. Mehr Platz bedeutet auch: etwas mehr Freiheit – im Notfall hat mehr zum Essen platz genug. Er hat den Vorteil von zwei rückwärtigen Stretchfächern, um zwei Trinkflaschen zu verstauen.

Warum aber ein so kleiner Rucksack? Ein großer verleitet dazu, mehr einzupacken. Ich habe bewusst einen kleinen gewählt, damit ich mich nicht mit überflüssigen Dingen belaste. Trotzdem habe ich alles dabei, bin auch gegen Kälte gewappnet und habe trotzdem noch einiges an Komfort dabei.

2. Schlafsystem – Minimalismus mit Komfort-Schlafsack:

Mein schon oft bewährter Schlafsack von Sea to Summit, der Spark I (360 g), ist ausreichend warm für die Nächte in den Herbergen und kann im Mai auch im Freien benutzt werden.

Ich schlafe normal in Pilgerherbergen und nutze bewusst die vorhandene Infrastruktur – das spart nicht nur Gewicht, sondern auch Platz im Rucksack. Dennoch bin ich vorbereitet, falls es unterwegs anders kommt: Sollte eine Herberge überfüllt sein oder ich nicht weitergehen wollen, bin ich auch für eine Nacht im Freien gerüstet. Leicht, flexibel und unabhängig.

Ultra-Light am Camino

3. Kleidung – Das absolute Minimum

Getragen: Leichte Wanderhose von Patagonia, 160g - Funktionsshirt von Craft mit Merinowolle - Fleecejacke von Kaikkala 205g - Laufhose & Ijinji Socken - Trailrunning Schuhe Hoka Speedgoat 6 wide - Kappe von Buff

Bekleidung
Kleidung die ich anhhabe

Im Rucksack: Zusätzliches Paar Socken - ein Ersatz T-Shirt (77g) - eine kurze Ersatz-Laufhose (90g) - Windjacke 79g -Regenjacke (170g) & dünne Daunenweste von Haglöfs (180 g) -Regenhose ONN (99g) - wasserdichte Handschuhe & Merino Haube - Poncho (136g) - Sandalen (58g)

Warum? Ein Set Kleidung trage ich – Ersatzset brauche ich keines. Wenn nötig, wird gewaschen. Als Kälteschutz fungiert eine Weste von Haglöfs, in Verbindung mit der Regenjacke. Besonderen Wert habe ich auf die Regenkleidung gelegt, weil mein Körper bei Kühle und Regen verschiedenartig reagieren kann.

Kälteschutz, Weste von Haglöfs
180g
Kälteschutz, Weste von Haglöfs, 180g
Ultra-Light am Jakobsweg
Regenhose und Jacke, Poncho, Wasserdichte Handschuhe

4. Technik & Sonstiges – Weniger ist mehr

Smartphone + Mini-Powerbank (5000 mAh) - USB-Ladekabel - Ladegerät - Mini-Stirnlampe - Mini-Erste-Hilfe-Set - Toilettenartikel (Seife, Sonnencreme)

Mein Komforteil ist ein Malset Wasserfarben mit Postkarten zum Bemalen.

Ich nehme nur das, was wirklich notwendig ist. Kein Buch, kein Tablet, kein überflüssiger Luxus.

Meine Ultra-Light Ausrüstung

Die Philosophie dahinter – Ultra-Light ist mehr als nur Gewicht sparen

Viele denken, Ultra-Light bedeutet, sich selbst zu quälen oder auf Komfort zu verzichten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, bewusst zu reduzieren, um sich freier zu fühlen. Das gilt für mich besonders, wegen der Muskelschwäche.

Der Jakobsweg ist eine Reise zu sich selbst – warum also mit unnötigem Ballast starten? Ich möchte jeden Moment bewusst erleben, ohne mich über schwere Schultern oder müde Beine zu ärgern. OK, die Beine werde ich auch trotz Ultra-Light spüren.

Der Weg gibt dir, was du brauchst

Kann ich wirklich so minimalistisch reisen, ohne dass mir etwas fehlt? Wird das geringe Gewicht einen spürbaren Unterschied machen? Oder merke ich unterwegs, dass ich an der falschen Stelle gespart habe? Eine Packliste aufzustellen ist das eine – doch die wahre Herausforderung beginnt, wenn ich Tag für Tag mit genau dieser Ausrüstung lebe.

Werde ich meine Entscheidungen feiern oder mich ärgern, nicht doch ein paar hundert Gramm mehr eingepackt zu haben? Wie wird sich der Verzicht auf unnötige Dinge auf meine mentale und physische Belastung auswirken? Ich weiß nur eins: Ich werde es herausfinden – Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer.

Schon im Winter hatte ich bisher mit rund 4 kg sehr leicht gepackt. Jeder Tag auf dem Camino beinhaltet eine neue Lektion. Vielleicht stelle ich erleichtert fest, dass mir wirklich nichts fehlt. Oder ich ertappe mich dabei, an ein zusätzliches Kleidungsstück zu denken. Ich freue mich schon auf meinen Frühjahrs-Camino seit langem.

Ultra-Light am Jakobsweg, Pierre aus Frankreich
Pierre machte den Camino France im Winter mit einer Laufweste

Im Februar 2023 traf ich Pierre – einen französischen Trailrunner, der mit seinem Minimalismus dort Maßstäbe für mich setzte. Er lief den Winter-Camino, ausgestattet nur mit einer 15-Liter-Salomon-Laufweste. Keine klassische Pilgerausrüstung, kein überflüssiges Gramm – nur das, was wirklich nötig war. Alles an ihm war auf Effizienz und Leichtigkeit ausgelegt.

Sein Ansatz beeindruckte mich: zwei Tage ging er jeweils rund 25 Kilometer, am dritten lief er etwa 50. Es ging ihm nicht ums Pilgern – es ging ums gezielte Training, um die Vorbereitung auf die Wettkampfsaison. Sein Weg war ein Statement: Weniger ist mehr.

„Je weniger du trägst, desto freier bist du. Der Weg gibt dir, was du brauchst.“

Er erzählte von der Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, aber auch von den Herausforderungen, die ein derart minimalistisches Setup mit sich brachte. Aufgrund der Folgen meiner Krankheit, brauche ich doch ein bisschen mehr Kleidung.

Die Idee faszinierte mich: Den Camino wie einen langen Trailrun erleben – mit minimalem Gewicht, maximaler Freiheit und der Bereitschaft, auf überflüssigen Komfort zu verzichten. Doch während Pierre ein erfahrener Ultra-Trail-Läufer war, bin ich gespannt, ob ich mit meinen 2,5 kg denselben Effekt spüre. Der Unterschied, ich werde nicht laufen, sondern mir Zeit nehmen.

Der Camino steht für Einfachheit – und genau diese Einfachheit will ich erleben. Kein schwerer Rucksack, der mich in die Knie zwingt. Keine Last, die meine Gedanken belastet. Nur der Weg, die Landschaft, die Begegnungen und der Rhythmus des Gehens. Es geht mir nicht um Schnelligkeit, sondern um das Erleben, so leicht wie möglich und mit weniger Sachen unterwegs zu sein.

Vielleicht werde ich am Ende sagen können: „Der Weg gibt dir, was du brauchst.“ oder ich kehre mit neuen Erkenntnissen über Minimalismus, Komfort und persönliche Grenzen zurück. So oder so – es wird eine Reise, die mich wieder verändert und meine Grenzen (hoffentlich) erweitert.

NEVER GIVE UP!

Hier nochmal mein Setup für den Camino in Spanien: 2,5 kg lighterpack Liste


Wieder unterwegs auf dem Jakobsweg – nicht wegen der Krankheit, sondern wegen des Lebens

Der Jakobsweg – mein inneres Navi

Es gibt Wege, die führen nicht einfach von Ort zu Ort. Sie führen zu einem selbst zurück. Der Jakobsweg ist für mich genau so ein Weg geworden. Schon beim ersten Mal war es kein klassisches Pilgern, sondern ein innerer Neuanfang. Keine Uhr, keine Termine, kein Müssen. Nur ich, mein Rucksack – und der nächste Schritt.

Nach allem, was passiert ist – der Hirnabszess, die langen Monate der Reha, das ständige Zuviel an Eindrücken – hat sich mein inneres Empfinden verändert. Die Hochsensibilität, die immer schon da war, hat sich verstärkt. Zu Hause wurde mir einfach alles zu viel: die Geräusche, die Bilder, die Geschwindigkeit. Es überfordert, statt zu stützen.

Deshalb zieht es mich wieder hinaus. Der Jakobsweg ist für mich kein Weg weg von der Krankheit – sondern hin zu mir selbst. Ein Ort, an dem Reizflut weicht und Weite entsteht. Kurzerhand packe ich meinen Rucksack und ziehe los – dorthin, wo Stille heilt und jeder Schritt mich wieder näher zu mir bringt.

Jakobsweg Meseta

Ich bin mehr als meine Geschichte

Natürlich hat mich die Krankheit geprägt. Natürlich war es heftig. Aber ich spüre immer stärker: Ich will nicht in dieser Geschichte stecken bleiben. Ich möchte nicht auf ewig „der mit dem Hirnabszess“ sein. Ich möchte wieder ich selbst sein. Der, der unterwegs ist. Der, der sucht – und manchmal auch findet.

Darum gehe ich wieder los. Nicht, um die Vergangenheit zu vergessen - sondern um das Jetzt zu leben. Mit allem, was dazugehört: der Hochsensibilität, den feinen Antennen für das Leben, den Zweifeln – aber auch dem Staunen und dem Vertrauen.

Ich habe in den letzten vier Monaten intensiv an mir gearbeitet – das hat Spuren hinterlassen, nicht nur positive. Durch meine verstärkte Hochsensibilität erlebe ich jeden Tag aufs Neue. Und so weiß ich oft erst im Moment selbst, wie es mir eigentlich geht. Ich nehme jeden Tag so wie er ist und mache das Beste daraus, ob gut oder schlecht.

Vorbereitung auf den Jakobsweg
Hier versuchte ich mich vor Jahren, das erste Mal,
von Stein zu Stein steigen!

Weite statt Therapie

Ich gehe nicht auf den Jakobsweg, um gesund zu werden. Ich gehe, um wieder Luft zu bekommen. Um Raum zu bekomen – außen und innen.

Hier draußen, im Gehen, verliert die Reizflut ihren Schrecken. Die Welt wird einfacher, die Wahrnehmung klarer. Kein Termindruck, kein Lärm, kein ständiges Reagieren. Nur das Gehen, der nächste Schritt, das Atmen. Schritt für Schritt – nicht schnell, aber stetig.

Es ist die einzige Art des Reisens und die einzige Art der Tätigkeit, die mir im Moment gut tut. Alles andere, wie Therapie, wäre jetzt zu viel. Im Gehen kann ich mich selbst wiederfinden – im eigenen Rhythmus, in der eigenen Zeit.

Jakobsweg Meseta

Bin ich über längere Zeit zu Hause, wird alles eng – mein Zustand verschlechtert sich. Schwindel, Muskel- und Gelenkschmerzen stellen sich ein, aber auch das brauche ich. Sobald ich dann – am besten für mehrere Wochen – in die Natur gehe, bessert sich mein Befinden mehr als spürbar. Meine Tiefensensibilität verbessert sich und damit auch meine Wahrnehmung im Außen.

Jakobsweg in Spanien 🇪🇸
Heil werden in der Natur

Ich will leben – nicht therapieren

Viele glauben, ich gehe, um zu heilen. Aber mein Weg ist diesmal ein anderer. Ich gehe nicht, um die Krankheit zu bekämpfen. Sondern ich gehe, weil ich leben will.

Ich will nicht in der Vergangenheit hängenbleiben, nicht immer wieder erzählen, wie schlimm alles war. Ich will erleben, wie schön es jetzt ist. Am glücklichsten bin ich beim Gehen in der Natur, fern von allem, was mein Gehirn belastet.

Darum packe ich meinen Rucksack. Darum gehe ich los. Nicht, weil ich muss – sondern weil ich will.

Ein Freund, der erst letzte Woche verstorben ist, hat mir wieder einmal gezeigt, dass ich auf nichts im Leben warten soll. Seine Besuche im Krankenhaus, damals, als kaum jemand kam, werde ich nie vergessen. Alle paar Wochen war er da, zusammen mit einem weiteren Freund – eine Geste, die mir mehr bedeutet hat, als ich je in Worte fassen könnte. Daran werde ich immer denken.

🙏

Mein Weg am Jakobsweg

In den nächsten Tagen geht es also los zum Camino Frances. Diesmal von Leon nach Santiago de Compostela, etwa 320 Kilometer. Diesmal ein kürzerer Weg, allerdings bin ich wirklich Ultra-Light unterwegs, mit 2,5 kg. Über die Ausrüstung habe ich einen eigenen Blogartikel geschrieben, der morgen erscheinen wird.

Kurzberichte mit Fotos gibt es diesmal nur auf Instagram, Blogbeiträge werde ich auf Facebook ankündigen. Oder einfach den Blog abonnieren und informiert werden. Danke und bis bald...

Buen Camino


Jeden Tag neu anfangen – Mein Leben mit Hirnschädigung

Manchmal fühlt es sich an, als würde ich in einer Endlosschleife leben – wie in dem Film „…und täglich grüßt das Murmeltier!“. Jeden Morgen wache ich auf, und alles beginnt wieder von vorne. Der Hirnabszess brachte eine Hirnschädigung im Körper und im Geist und das macht es so Herausfordernd.

Ich kämpfe immer gegen dieselben Herausforderungen an, ringe mit den gleichen Einschränkungen und starte jeden Tag mit einem Gefühl des Neuanfangs. Jeder Schritt, den ich mache, ist eine bewusste Entscheidung: nicht aufzugeben und das Beste aus diesem Tag herauszuholen.

Meine Hirnschädigung hat mein Leben radikal verändert. Pläne zu schmieden, langfristige Ziele zu verfolgen oder einfach unbeschwert durch den Alltag zu gehen – all das ist nicht mehr selbstverständlich. Jeder Tag verlangt volle Konzentration, jede Handlung braucht ihre Zeit. Kleinigkeiten, die andere Menschen mühelos meistern, kosten mich enorme Anstrengung. Oft wirkt der Alltag dadurch zäh und schwerfällig.

Hirnabszess MRT
Hirnschädigung

Trotzdem habe ich mir eine Haltung bewahrt, die mich immer wieder antreibt: NEVER GIVE UP! Dieser Satz ist für mich mehr als nur ein Motivationsspruch. Er ist ein Versprechen an mich selbst, niemals aufzugeben, egal wie schwer es ist. Auch wenn ein Tag mal im Bett endet und ich gefühlt keinerlei Fortschritte gemacht habe, zähle ich es als Erfolg. Denn das bedeutet, dass ich am nächsten Tag wieder aufstehen und es erneut versuchen werde.

Mit Hirnschädigung auf den Jakobsweg – Ein Weg zu mir selbst

Eine der prägendsten Erfahrungen war für mich der Jakobsweg. Tag für Tag war ich unterwegs – nur mit dem Nötigsten im Rucksack. Das Leben wurde auf drei Dinge reduziert: Gehen, Essen, Schlafen. In dieser Einfachheit liegt eine tiefe Klarheit, die mir geholfen hat, mich selbst besser zu verstehen. Jeder Schritt ist ein kleiner Sieg, jede Etappe ein Erfolg. Oft waren die Wege steinig, die Hitze drückend und der Körper erschöpft. Aber der Camino zeigt mir, dass es nicht darauf ankommt, wie schnell man geht, sondern dass man überhaupt weitergeht.

Mit Hirnschädigung am Jakobsweg
Erschöpft, aber glücklich!

Auf der Strecke habe ich gelernt, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sorgen über die Zukunft oder Gedanken an die Vergangenheit verlieren an Bedeutung. Der Weg zwingt mich, im Hier und Jetzt zu leben. Jeder Sonnenaufgang fühlt sich an wie ein neuer Anfang, jeder Kilometer ist eine Erinnerung daran, dass Fortschritt in kleinsten Schritten entsteht.

Die Einfachheit des Pilgerns hat mir eine Perspektive geschenkt, die ich heute in meinen Alltag integriere: Schritt für Schritt, Tag für Tag - immerhin lebe ich schon seit 9 Jahren mit der Hirnschädigung.

Raubvögeln in der Nähe des Crux de Ferro

Struktur gibt mir Halt

Mein Alltag funktioniert nur mit einer festen Struktur. Routinen sind mein Anker im Chaos, sie geben mir Sicherheit. Der Ablauf des Frühstücks, Zeiten für Pausen, Bewegung und Ruhephasen – das klingt vielleicht eintönig, aber es hilft mir, den Tag zu bewältigen. Diese Struktur ist wie ein Geländer, an dem ich mich entlangtasten kann. Ohne sie wäre ich oft verloren.

Dabei ist es wichtig, kleine Momente der Freude zu schätzen. Ein Spaziergang an der frischen Luft, ein gutes Gespräch, eine warme Mahlzeit – all das sind Dinge, die anderen selbstverständlich erscheinen, für mich aber große Bedeutung haben. Solche Augenblicke helfen mir, auch an schwierigen Tagen positiv zu bleiben, trotz der Hirnschädigung.

Lebe Grenzenlos, mit Hirnschädigung

Fortschritt in kleinsten Schritten

Oft messen wir unseren Erfolg an großen Zielen: Karriere, materielle Erfolge, perfekte Beziehungen. Für mich ist das anders. Fortschritt bedeutet für mich, kleine Schritte zu machen und mir selbst Zeit zu geben.

Manchmal ist das Aufstehen schon ein Sieg, an anderen Tagen schaffe ich es, mich intensiv zu konzentrieren oder eine Aufgabe zu Ende zu bringen. Die schönste Zeit erlebe ich auf meinen Pilger- und Weitwanderwegen, wo ich mein seit langer Zeit auf Alarm gestelltes Nervensystem Schritt für Schritt beruhigen konnte.

Ich lernte Lebendigkeit, Freude und ein Gefühl von Energie, anstatt Müdigkeit, die nicht durch den Schlaf vergeht und der Körper wie aus Blei besteht. Der Hirnabszess schaltete mein Nervensystem ab und ließ es erstarren. Die ersten Jahre nach dem Hirnabszess waren die schwersten. Ich fühlte mich oft als Pflegefall abgestempelt. Deshalb begann ich bald nur mir und nicht den Ärzten zu vertrauen. Das Roboterhafte gehen, bekam ich erst mit der Tanztherapie in den Griff.

Doch es geht nicht immer nur vorwärts. Oft geht es nur darum, den aktuellen Zustand zu halten. Stillstand ist manchmal schon ein Erfolg, denn ein Rückschritt passiert schnell, besonders wenn ich nicht konsequent dranbleibe.

Jede Pause, jeder verlorene Tag macht es schwerer, wieder am Leben anzuknüpfen. Dieser Kampf um den Erhalt meiner Fähigkeiten ist ein ständiger Begleiter. Rückschläge sind Teil des Weges, aber ich habe gelernt, sie anzunehmen und weiterzumachen. Wichtig ist nur, dass ich nicht stehen bleibe.

Training für den Alltag – Eine Parallele zum Radrennsport

Früher war ich Radrennfahrer. Tägliches Training war für mich selbstverständlich: jeden Tag raus, Kilometer um Kilometer abspulen, oft für kleinste Fortschritte, die kaum spürbar oder sichtbar waren. Ich habe gelernt, nicht zu hinterfragen, warum ich es tue, sondern es einfach zu machen. Dieser Ehrgeiz und diese Disziplin prägen mich bis heute.

Crocodile Trophy Australien

Auch jetzt trainiere ich jeden Tag – nicht mehr auf dem Rennrad, sondern im Alltag. Jede Bewegung, jeder Gedanke ist ein bewusster Schritt nach vorne. Es ist wie im Sport: Manchmal fühlt es sich an, als trete man auf der Stelle, doch wenn man weitermacht, sieht man irgendwann die Fortschritte.

Dieses Training hat mir geholfen, nicht aufzugeben, auch wenn es oft nicht einfach ist. Es ist ein täglicher Kampf, aber genauso auch eine tägliche Entscheidung: Schritt für Schritt, Tag für Tag.

NEVER GIVE UP – Schritt für Schritt, Tag für Tag.


27.März 2016 - Ein Hirnabszess stellte vor 9 Jahren alles auf den Kopf

27. März 2016. Ein Datum, das sich tief in mein Leben eingebrannt hat. Ostersonntag. Ein Tag, den viele mit Familie, Freude und Osterbräuchen verbinden. Doch für mich wurde er mit einem Hirnabszess zum Wendepunkt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

Während die Kinder Ostereier suchten, lag ich regungslos im Bett. Schwindel, Übelkeit, ein Gefühl, als würde mein Körper nicht mehr mir gehören. Ich hielt es für eine Grippe. Doch es wurde schlimmer. Ich konnte nicht mehr klar sprechen, Gedanken wurden unmöglich. Mein Gehirn begann, sich selbst aufzugeben.

Der Rettungswagen brachte mich ins LKH Graz. Dort dann die Diagnose: Hirnabszess.

Ein Wort, das mir bis dahin fremd war. Doch in diesem Moment bedeutete es alles. Von einer Sekunde auf die andere war mein altes Leben vorbei.

Hirnabszess
Hirnabszess

Noch wenige Tage zuvor war ich Extremradsportler, Trailrunner, Bergsteiger, Videojournalist – immer auf der Suche nach der nächsten Herausforderung. Nun stand ich vor der größten aller Herausforderungen: Zu Überleben. Neu lernen, was mir einst selbstverständlich war, kam später.

Intensivstation – Ein Körper am Nullpunkt

Die Tage auf der Intensivstation sind in meinem Gedächtnis nur noch als Bruchstücke vorhanden. Ich existierte, mehr nicht. Mein Denken war reduziert auf das absolute Minimum. Der Hirnabszess stoppte alles.

Besuch? Eine Last. Schon zehn Minuten Gespräch laugten mich aus. Mein Gehirn war erschöpft – als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt.

Auf der Intensivstation mit einem Hirnabszess  Bild von https://pixabay.com

Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, was an diesem 27. März die Diagnose mit mir gemacht hatte:

Wortfindungsstörungen – Ich wusste, was ich sagen wollte, doch die Worte waren fort und fanden nicht den Weg nach Draussen.

Lähmung der rechten Körperhälfte – Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, mein Bein war kraftlos, ich war rechtsseitig gelähmt. Dazu neurologische Störungen am ganzen Körper.

Schwindel – Stehen? Unmöglich. Selbst im Sitzen kippte ich zur Seite.

Kein Gefühl für Zeit – Vergangenheit? Zukunft? Beides existierte nicht mehr. Nur das HIER und JETZT blieb.

Ein totaler Systemabsturz. Ich fühlte mich wie ein Computer, der nach einem Reset völlig neu programmiert werden musste.

Von der Reha bis zum ersten Schritt

Nach fünf Monaten Krankenhaus begann die nächste Etappe: die Reha. Hier musste ich mich von Grund auf neu erfinden. Der Hirnabszess brachte mich auf die Stufe eines Kleinkindes.

🔥 Gehen lernen – Zehn bis 50 Meter waren eine Tagesleistung. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich durch Treibsand waten.

🔥 Schreiben lernen – Ein einziges Wort zu Papier zu bringen, dauerte Minuten. Oft verlor ich mitten im Satz den Faden. Allein den Stift zu halten, erforderte eine Konzentration und Kraft, die ich nicht hatte.

🔥 Sprechen trainieren – Gespräche erschöpften mich schneller, als ich es für möglich gehalten hätte.

🔥 Geduld üben – Ich wollte schneller vorankommen, doch mein Körper bestimmte das Tempo. Geduld mit mir selbst haben, war angesagt.

Jeder Tag war eine Herausforderung. Ein mühsames Vorwärtskommen, ein permanenter Kampf um jeden kleinsten Fortschritt. Doch egal, wie langsam es ging – ich bewegte mich vorwärts.

"Step by Step" wurde mein Credo und ja keinen Schritt überspringen.

Monatelang nach dem Hirnabszess noch im Rollstuhl
Monatelang im Rollstuhl

27. März – Ein Jahrestag voller Bedeutung

Jedes Jahr bringt dieser Tag mich zum Innehalten. Kein Geburtstag, kein Feiertag – und doch ist er für mich der einer der wichtigsten Tage im Jahr.

📌 Der Tag, an dem alles zerbrach.

📌 Der Tag, an dem ich überlebt habe.

📌 Der Tag, an dem mein neues Leben begann.

Früher war mein Motto: Höher. Weiter. Schneller. Grenzen waren dazu da, um sie zu verschieben. Doch der 27. März hat mir eine neue Lektion erteilt: Das Wesentliche liegt in den kleinen Dingen. Grenzen verschieben bekam eine neue Bedeutung. Die Jahre als Extremsportler waren nur eine Vorbereitung für die Zeit jetzt.

📌 Das HIER und JETZT ist das Einzige, das zählt. Ich plane nicht mehr weit in die Zukunft. Ich lebe den Moment.

📌 Weniger Multitasking. Mein Gehirn kann sich nur auf eine Sache konzentrieren – doch das tue ich mit voller Aufmerksamkeit.

📌 Sport als mentale Kraft. Auch wenn mein Körper nicht mehr so mitmacht wie früher – in Gedanken laufe ich durch den Wald. Meine Muskeln trainierte ich im Kopf.

Ich musste nicht nur meinen Körper neu aufbauen, ich musste mich selbst neu programmieren. Durch meinen Freund Harry begann ich bereits im Radrennsport mit Bewusstseins-Training.

Dieses gelernte Wissen hat mir am 27.März das Leben gerettet. Es ermöglichte mir das Überleben und bis heute ein Weiterleben.

Pilgern und Weitwandern – Mein Weg zurück ins Leben, nach einem Hirnabszess

So wie meine ersten Schritte nach dem Krankenhaus langsam und unsicher waren, so begann auch mein neuer Lebensweg: Schritt für Schritt.

Ich entdeckte das Pilgern und Weitwandern für mich – nicht als sportliche Herausforderung, sondern als Therapie, auch heute noch.

🚶‍♂️ Am Anfang waren es wenige hundert Meter. Jeder Schritt ein Kampf gegen die Unsicherheit, gegen die Angst, wieder zu stürzen. Ich begann mit der Bewegung auf der Stufe eines Kleinkindes.

🚶‍♂️ Erst nur ein paar Kilometer, dann immer mehr. Ich lernte, meinem Körper wieder zu vertrauen – auch wenn er nicht mehr derselbe war. Dieses Vertrauen in mich selbst übe ich bis heute.

🚶‍♂️ Heute, nach neun Jahren, bin ich Tausende Kilometer gegangen. Einmal zu Fuß rund um die Welt – in Etappen, aber ohne aufzuhören.

"Nur durch Wiederholungen kannst du lernen und dich verbessern. Wiederholungen und Übung sind der Schlüssel."

Dieser Satz veränderte viel in mir. Ich erkannte bald, umso mehr Wiederholungen, umso besser wird die Information im Gehirn verfestigt. So habe ich seit 2016 rund 85 Millionen Schritte gemacht, trotz der verlorenen Automatik.

Deshalb auch mein Weitermachen. Mein Geist entscheidet über Pflegefall oder nicht. Die verlorene Automatik kam bisher nicht wieder.

"Du erwächst jeden Morgen mit der Gelegenheit zu wachsen, etwas zur Stärke deines Charakters beizutragen, dein Wissen zu vermehren.

Der Wille, jene Kraft, jene Energie, die uns dazu brachte, zu kriechen und dann aufzustehen und dann die ersten wackeligen Schritte zu tun, ist das, was uns die ganze Zeit aufrechterhalten hat."

Diese Wanderungen haben mich gerettet. In der Natur finde ich zu mir selbst. Das Gehen ist nicht nur Bewegung, es ist Meditation, Therapie und Herausforderung zugleich. Der Wald und die Natur sind meine Therapeuten.

Denn meine Propriozeption, das Gefühl für meinen eigenen Körper, ist bis heute eingeschränkt. Lasse ich das Training schleifen, merke ich es sofort: Der Schwindel kehrt zurück, das Körpergefühl schwindet. Ich muss gehen. Jeden Tag.

Deshalb bin ich immer wieder auf den Wegen unterwegs – ob in den heimischen Wäldern oder auf den großen Pilgerpfaden Europas. Jeder Schritt bringt mich weiter, körperlich wie mental.

Pilgern nach dem Hirnabszess
Km 0, in Finesterre

Vom Patienten zum Blogger

Der 27. März war der Tag, an dem mein Leben in tausend Teile zerbrach. Doch er war auch der Tag, an dem etwas Neues begann.

Irgendwann kam der Punkt, an dem ich meine Geschichte aufschreiben wollte. Bloggen? Hatte mich nie interessiert. Doch plötzlich wurde es zu einem wichtigen Werkzeug – eine Möglichkeit, meine Krankheit zu verarbeiten.

Mit jedem geschriebenen Wort ordnete ich meine Gedanken. Schreiben wurde Therapie.

Der Wunsch, ein Buch zu schreiben, ist bis heute in mir. Die Handicaps sind allerdings derzeit noch größer. Es wurde wichtig, in meiner Mitte zu bleiben und mich gut zu fühlen, Buch hin und her.

Schreiben und Denken beginnen, nach dem Hirnabszess
Schreiben beginnen

Heute? Ich bin noch nicht dort, wo ich sein will. Aber ich bin auch nicht mehr bei NULL. Ich habe mir ein zweites Leben aufgebaut. Nicht ein anderes – sondern ein verändertes.

Und jedes Jahr, wenn der 27. März kommt, erinnere ich mich daran, wie weit ich gekommen bin.

🚶‍♂️ Als Überlebender, vom ersten wackeligen Schritt bis zu 50.000 Kilometern zu Fuß.

📖 Vom Patienten, der kaum sprechen konnte, zum Blogger, der seine Geschichte erzählt.

💡 Vom Mann, der nicht wusste, ob er überlebt, zu jemandem, der seinen eigenen Weg (bisher) gefunden hat.

Leben nach dem Hirnabszess
LEBEN!!!

27. März – Der Tag, an dem mein Leben neu begann. Und der Tag, an dem ich mir immer wieder aufs Neue beweise: Ich gehe weiter.


„Bleib auf deinem Weg“

„Bleib auf deinem Weg“ – nach meinem Hirnabszess bekam diese Aussage eine völlig neue Bedeutung. Früher war mein Weg geprägt von Leistung und Höchstform – sei es im Extremsport, im Trailrunning oder im Beruf.

Doch nach meiner Erkrankung stand ich bei null. Alles, was selbstverständlich war, musste ich neu lernen: Gehen, Sprechen, Schreiben, Denken. Mein Weg war nun ein anderer. Allerdings musste ich ihn erst finden.

Camino Frances, mein Weg
Manchmal verschwindet mein Weg im Nebel

Der alte Weg: Leistung, Geschwindigkeit, Erfolg

Am Anfang wollte ich schnell wieder „der Alte“ sein, zurück in mein altes Leben. Doch ich musste erkennen, dass es nicht darum geht, zurückzugehen, sondern einen neuen Weg zu finden. Erst in den Jahren danach wurde es mir bewusst, dass nichts mehr so sein wird, wie zuvor.

Das Gehen wieder zu erlernen, hatte für mich oberste Priorität – es war der Schlüssel zu einem Stück Freiheit. Doch erst mit der Zeit wurde mir klar: Allein das Gehen bedeutete nicht, dass meine Einschränkungen verschwunden waren.

Küstliche Strukturen zum Trainieren
Die Tiefensensibilität trainieren

Der neue Weg: Geduld, Akzeptanz, Vertrauen

"Das Leben ist wie eine Reise, die manchmal im Licht und manchmal im Schatten unternommen wird."

Joseph M. Marshall

Geduld, Akzeptanz, Vertrauen – Werte, die meinen neuen Weg prägen. Auf meinen Weitwander- und Pilgerwegen übe ich mich darin, lerne, sie anzunehmen und besser damit umzugehen. Heilung bedeutet nicht nur, die äußeren Einschränkungen zu überwinden, sondern auch die inneren. Vielleicht ist gerade dieses Innere der entscheidende Schlüssel – damit das Äußere folgen kann.

Joseph M. Marshalls Buch „Bleib auf deinem Weg“ beschreibt genau das. Er erzählt von einem Großvater, der seinem Enkel Weisheiten über das Leben mitgibt. Eine der wichtigsten Lektionen: Es geht nicht darum, schnell ans Ziel zu kommen, sondern darum, mit Würde, Beständigkeit und in Einklang mit sich selbst zu gehen.

Mein Neuer Weg bedeutet, im Einklang mit mir selbst zu bleiben. Es bedeutet, jeden noch so kleinen Fortschritt zu sehen und nicht aufzugeben, auch wenn es Rückschläge gibt oder sie nicht sofort erkennbar sind.

Mein eigener Weg der Heilung

Der Einschnitt durch den Hirnabszess: Zurück auf null

Nach meiner Krankheit verstand ich, dass mein Weg jetzt ein anderer sein muss. Ich kann nicht mehr mit Kraft und Willen alles erzwingen. Achtsam muss ich auf meinen Körper hören, mein Tempo akzeptieren. Mein Weg ist langsamer geworden, aber bewusster. Die Zukunft ist für mich nicht planbar, deshalb ist es so wichtig, im Hier und Jetzt zu leben.

Gelassenheit und Akzeptanz sind entscheidend. Dieses "akzeptieren, wie es ist" bedeutet nicht, dass es so bleiben muss. Ich tue viel dafür, dass es anders wird. Besonders die Eigenverantwortung war und ist essenziell. Denn eines habe ich schnell verstanden: Verlasse ich mich auf unser Gesundheitssystem, bin ich verlassen.

Seit ich das Krankenhaus verlassen habe, nehme ich mein Leben selbst in die Hand. Anfangs nutzte ich die Therapien und Reha-Angebote der Krankenkasse, doch bald merkte ich, dass sie mich nur begrenzt voranbrachten. Später sagte ein Arzt zu mir, ich könne mich glücklich schätzen – denn meine Art des Hirnabszesses endet normalerweise im Pflegefall.

Mittlerweile ist mir das nur allzu bewusst. „Bleib auf deinem Weg“ – ist allerdings leichter gesagt als getan. Unser System ist darauf nicht ausgelegt. Doch außerhalb dieses Systems meinen eigenen Weg zu gehen, gibt mir eine Selbstständigkeit, die zwar anstrengend, aber umso wertvoller ist. Liegenzubleiben, wäre der einfache Weg – aber der einfache Weg wäre kein lebenswertes Leben.

Der Einschnitt durch den Hirnabszess, ein langer Weg danach.
Der Einschnitt durch den Hirnabszess, ein langer Weg danach.

Was „Bleib auf deinem Weg“ für mich bedeutet:

  • Nicht aufgeben, auch wenn es schwer ist.
  • Nicht vergleichen, sondern meinen eigenen Fortschritt sehen.
  • Dem Prozess vertrauen, auch wenn ich nicht weiß, wohin er führt.
  • Im Moment leben und das Beste aus jedem Tag machen.

Bleib auf deinem Weg – und warum das oft schwerer ist, als es klingt

"Bleib auf deinem Weg." - Vier einfache Worte, die so viel bedeuten können. Eine Ermutigung zur Beständigkeit, eine Erinnerung daran, sich nicht beirren zu lassen – und doch ist genau das oft die größte Herausforderung.

Besonders in einer Gesellschaft, die Behinderungen nur dann anerkennt, wenn sie sichtbar sind.

Wenn man kämpfen muss, um ernst genommen zu werden

Es gibt Behinderungen, die sofort ins Auge fallen. Ein Rollstuhl, eine Gehhilfe – sie sprechen für sich. Doch was ist mit denen, die man nicht auf den ersten Blick sieht?

Behinderung mit Rollstuhl wird leichter wahrgenommen
Behinderung mit Rollstuhl wird leichter wahrgenommen

Neurologische Einschränkungen, chronische Erschöpfung, sensorische Überempfindlichkeiten – sie existieren, auch wenn sie für andere unsichtbar bleiben. Und genau das macht das Leben oft schwerer.

Weil man erklären muss. Weil man sich rechtfertigen muss. Weil man immer wieder beweisen muss, dass die eigene Realität nicht bloß Einbildung ist.

Warum "Bleib auf deinem Weg" so viel Mut erfordert

Auf dem eigenen Weg zu bleiben bedeutet in diesem Kontext mehr als nur Durchhaltevermögen. Es bedeutet, sich nicht von den Zweifeln anderer aus der Bahn werfen zu lassen. Es bedeutet, für sich selbst einzustehen, auch wenn man immer wieder auf Unverständnis trifft. Es bedeutet, eigene Grenzen zu akzeptieren – selbst dann, wenn andere sie infrage stellen.

Und manchmal bedeutet es auch, sich gegen Erwartungen zu wehren. Gegen den Druck, so zu funktionieren, wie es von einem verlangt wird. Gegen das Gefühl, nicht genug zu sein, nur weil man anders ist.

Die Kraft, die im Weitermachen liegt

Trotz all dieser Hürden lohnt es sich, den eigenen Weg nicht zu verlassen. Denn nur wer ihn geht, kann herausfinden, wohin er führt. Vielleicht ist es nicht der leichte Weg, nicht der gerade und schon gar nicht der, den die Gesellschaft für einen vorgesehen hat. Aber es ist der eigene. Und das allein macht ihn wertvoll.

Der eigene Weg ist nicht immer eben und geradeaus
Der eigene Weg ist nicht immer eben und geradeaus

Mein Fazit: Schritt für Schritt mit Herz und Überzeugung

Und genau das möchte ich weitergeben: Jeder hat seinen eigenen Weg. Wichtig ist, dass wir ihn mit Herz und Überzeugung gehen – Schritt für Schritt.

Das Geheimnis des Glücks ist Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist Mut im Leben. Du musst handeln, wenn du Freiheit erleben willst.

Du musst das Leben genießen, während du Probleme löst. Du kannst entweder im Sturm weinen oder im Regen tanzen.


Wenn Bewegung mehr sagt als Worte: Mit Tanztherapie zurück ins Leben

Vor neun Jahren hat ein Hirnabszess mein Leben aus der Bahn geworfen. Ein Einschnitt, den ich mir als Radsportler, Trailrunner und Videojournalist nie hätte vorstellen können.

Doch nach diesem Umbruch fand ich eine neue Art, Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen: das therapeutische Tanzen. Seit sechs Jahren begleitet es mich – und hat sich als eine der wirkungsvollsten Methoden in meiner Rehabilitation erwiesen.

Tanztherapie
Ich habe kaum Fotos von der Tanztherapie

Vom Stillstand zur Bewegung

Nach dem Hirnabszess war nichts mehr, wie es war. Die rechte Körperseite gelähmt, Worte oft unerreichbar, Erschöpfung allgegenwärtig. Gehen, Greifen, Sprechen – alles musste ich neu lernen. Jeder kleinste Fortschritt war ein Sieg. Doch es gab einen Moment, der alles veränderte: Ich spürte, dass Bewegung der Schlüssel ist.

Sport war immer ein Teil von mir gewesen, aber an Laufen oder Radfahren war lange nicht zu denken. Also begann ich mit sanften Bewegungen, mit physiotherapeutischen Übungen, mit ersten vorsichtigen Schritten zurück in den Alltag. Später begann ich zu Pilgern und hatte gerade meinen zweiten Jakobsweg beendet, den Camino Norte.

Im Wartezimmer meines Trauma-Therapeuten war ein Aushang an der Wand, wo therapeutisches Tanzen angeboten wurde. Mein Leben lang hatte ich Tanzen abgelehnt, aber da war etwas, was mich magisch anzog. Es wurde mein Wendepunkt, nach drei Jahren herkömmlicher Therapie: nämlich die Tanztherapie.

Tanztherapie – ein unerwarteter Durchbruch

Zunächst klang es ungewohnt. Tanz als Therapie? Doch schon nach den ersten Bewegungen wurde mir klar: Es geht um mehr als Schritte. Es geht um Rhythmus, um Musik, um das Spüren des eigenen Körpers. Um Gleichgewicht und Koordination, um Beweglichkeit – und vor allem um Freude.

Anfangs war es eine enorme Herausforderung. Mein Körper fühlte sich fremd an, jede Bewegung war unsicher, jeder Takt forderte vollste Konzentration. Dazu fand es im Gruppentraining statt, das eine große Herausforderung für mich darstellte.

Auch gemalt wird in der Tanztherapie

Doch dann kam der Rhythmus. Der Körper begann sich zu erinnern und ich lernte mich im Rhythmus zu bewegen. Bewegungen wurden fließender, das Zusammenspiel zwischen Kopf und Körper harmonischer. Schritt für Schritt fand ich in die Bewegung zurück. Selbst nach sechs Jahren verlasse ich jede Stunde mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen.

Konnte ich am Anfang nicht einmal zu Boden blicken, geschweige denn hinunterbeugen, ohne schwindlig zu werden, besserte sich das langsam. Heute, nach sechs Jahren des Übens und wertvoller Erfahrungen in der Therapie, habe ich Fortschritte erzielt, die vorher undenkbar gewesen wären. Bereits nach einem halben Jahr Therapie konnte ich die Verbesserungen auf meinem ersten Winter-Camino kurz vor der Pandemie umsetzen.

Tanztherapie in der Pandemie

Warum Tanztherapie so viel bewirkt

  • Ganzheitliches Training: Tanz fordert den ganzen Körper – Muskeln, Gleichgewicht, Koordination.
  • Emotionale Verbindung: Musik berührt, weckt Erinnerungen, kann heilsam sein.
  • Spielerisches Lernen: Anders als monotone Übungen in der Physiotherapie bringt Tanz Kreativität und Freude.
  • Neuroplastizität fördern: Rhythmus und neue Bewegungsabläufe stärken und formen neuronale Verbindungen.
  • Traumabearbeitung: Trauma ist steckenbleiben, durch gezielte Bewegung Trauma bearbeiten.

Sechs Jahre Tanz – ein neues Körpergefühl

Heute, fast sechs Jahre nach meiner ersten Tanztherapie-Stunde, weiß ich: Es war nicht eine, sondern es war die beste Entscheidung auf meinem Weg der Heilung. Mein Körpergefühl hat sich verändert, meine Bewegungen sind geschmeidiger, meine Koordination stabiler. Und vor allem: Tanzen und Bewegung gibt mir ein Gefühl von Freiheit.

Was mir früher der Extremsport gab – das Spüren des eigenen Körpers, das Erleben von Bewegung – finde ich heute im Tanz wieder. Die Musik trägt mich, der Rhythmus führt mich. In diesen Momenten bin ich einfach da. Trotzdem kann mich eine Tanzstunde absolut ans Limit bringen, körperlich wie geistig.

Bewegung als Sprache des Körpers

Ein Hirnabszess verändert alles. Doch durch Bewegung, durch das bewusste Wiederentdecken des eigenen Körpers, kann man sich ein Stück Lebensqualität zurückholen – und vielleicht sogar eine neue gewinnen. Mein Pilgern und die Weitwanderwege haben mir in Kombination mit dem therapeutischen Tanzen eine Qualität in das Leben gebracht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

Es war oft nicht einfach auf meinen Reha-Aufenthalten, mit dem Denken und den Aussagen anderer, darunter auch Ärzte, klarzukommen. Sie meinten es sicherlich gut, doch alles lief darauf hinaus, als Pflegefall betrachtet zu werden. Stark zu bleiben und diesem Bild entgegenzuwirken, erforderte enorm viel Energie und Durchhaltevermögen.

Tanztherapie ist weit mehr als körperliches Training. Es ist ein Weg zu sich selbst. Denn manchmal braucht es keine Worte – manchmal reicht es, sich zu bewegen. Und das unter der sachkundigen Führung meiner Therapeutin Hanna Treu, die genau erkennt, wo es gerade hakt oder worum es geht.

Unbegreiflicher weise wird diese Tanztherapie nicht von der Krankenkasse übernommen. Dabei hat sie mich davor gerettet, ein Pflegefall zu bleiben.

Tanztherapie

Tanztherapie und Trauma

Therapeutisches Tanzen und Bewegung spielen eine zentrale Rolle in der Traumabearbeitung, da traumatische Erlebnisse oft nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich gespeichert werden. Der Körper erinnert sich an belastende Erfahrungen, selbst wenn sie nicht bewusst abrufbar sind.

Durch gezielte Bewegungen und improvisiertes Tanzen können diese gespeicherten Emotionen und Spannungen ausgedrückt und verarbeitet werden. Bewegung ermöglicht eine direkte Verbindung zwischen Körper und Psyche, indem sie hilft, erstarrte oder unterdrückte Emotionen ins Fließen zu bringen.

Tanztherapie bietet dabei einen sicheren Raum, um Körperempfindungen wahrzunehmen, neue Bewegungsmuster zu erproben und so innere Blockaden zu lösen. Dies kann das Selbstbewusstsein stärken, das Nervensystem regulieren und dabei helfen, traumatische Erlebnisse schrittweise zu integrieren.

Kurz gesagt: Durch Tanz und Bewegung kann das, was im Trauma erstarrt oder abgespalten wurde, wieder in einen lebendigen Ausdruck gebracht werden – ein wesentlicher Schritt in der Heilung.

Leichtigkeit im Freien in der Tanztherapie lernen

Zurück ins Leben - rein ins Leben

Mein „Zurück ins Leben“ ist mehr und mehr einem kraftvollen „rein ins Leben“ gewichen – ein Wandel, zu dem die Tanztherapie in den letzten Jahren wohl am meisten beigetragen hat. Gerade während der Pandemie, als alle anderen Therapieformen wegfielen, war das therapeutische Tanzen für mich eine wertvolle Stütze.

So ist sie ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, neben dem Pilgern und Weitwandern.


9 Jahre oder 3.240 Tage – Die Suche nach Identität seit dem Hirnabszess

Neun Jahre sind vergangen – 3.240 Tage, um genau zu sein. Eine Zeit voller Herausforderungen, voller Wandel. Seit meiner Diagnose Hirnabszess hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich musste mich neu finden, meine Identität immer wieder hinterfragen.

Der Walkabout durch Austria war ein erster Schritt auf diesem Weg, ein Erfolg, der mich näher zu mir selbst brachte. Ausgestattet mit Werkzeugen der Tanztherapie, gaben mir immer mehr Leichtigkeit im Leben. Doch auch heute noch frage ich mich oft: Wer bin ich eigentlich?

Identität durch Leichtigkeit finden
Identität am Walkabout finden

Mein Gehirn funktioniert nicht mehr wie früher. Der Hirnabszess und die anschließende, fünfmonatige Antibiotikatherapie im Krankenhaus haben mehr hinterlassen, als ich anfangs dachte. Bis heute setze ich nur einzelne Bruchstücke zusammen – doch ein vollständiges Bild ergibt sich daraus noch lange nicht.

"I had to trust more and to do less."

Was ist Identität überhaupt?

Identität ist nichts Starres, sie verändert sich mit Erfahrungen, Beziehungen, Werten und Überzeugungen. Ein Puzzle, das sich mit jedem neuen Erlebnis weiterentwickelt. Doch nach meiner Erkrankung fühlt es sich oft an, als würden einige Teile fehlen – oder als würden sie nicht mehr dorthin passen, wo sie einmal waren.

Mit der Zeit kam die Erkenntnis: Ich bin irgendwie nicht mehr dieselbe Person wie vor dem Hirnabszess. Körperliche Einschränkungen, emotionale Höhen und Tiefen, soziale und kognitive Veränderungen – all das fordert mich Jahr für Jahr aufs Neue heraus. Ich muss ein neues Selbstbild entwickeln, ein neues Ich zulassen.

Identität

Warum ist die Identitätssuche nach einer Krankheit so schwierig?

Eine schwere Erkrankung stellt viele Aspekte der eigenen Identität infrage:

Körperliche Veränderungen: Mein Körper, einst ein verlässliches Werkzeug, wurde zur Quelle von Unsicherheit. Muskelschwäche und Schwindel ließen mein Vertrauen in mich bröckeln. Doch mit jedem Schritt auf meinen Pilger- und Weitwanderwegen kämpfe ich es mir zurück.

Dieses Jahr auf dem Hexatrek in den französischen Alpen – die Herausforderung technischer Passagen, das Überwinden von Hindernissen, das Wachsen mit jeder Hürde. Und doch, zurück zu Hause, muss ich mich zwingen in der Mitte einer Treppe hinunterzugehen, statt am Rand, entlang des Geländers. Diese Widersprüche führen mir vor Augen: Meine Behinderung ist und bleibt ein Teil meines Lebens.

Emotionale Achterbahn: Nach der Krankheit gab es nur Extreme – null oder hundert Prozent Emotionen. Das zu verstehen, dauerte lange. Es zu kontrollieren, beschäftigt mich bis heute. Viele Emotionen sind tief verwurzelt, Muster aus der Kindheit, die sich immer wieder zeigen. Sie zu erkennen und umzuwandeln, ist ein Prozess, der nur in kleinen Schritten gelingt.

Soziale Veränderungen: Beziehungen veränderten sich, Rollen mussten neu definiert werden. Nicht jeder konnte mit dem umgehen, was meine Krankheit mit sich brachte – ich selbst am wenigsten. Tiefgreifende Krisen stellen Beziehungen auf die Probe. Sie erfordern ein Umdenken, nicht nur von mir, sondern auch von meinem Umfeld.

Kognitive Beeinträchtigungen: Denken, Erinnern, die Verbindung zwischen Erlebnissen und Gedanken – oft fühlt sich das brüchig an. Die Welt um mich herum wirkt hektisch und überwältigend. Struktur fällt mir schwer, Konzentration ebenso. Seit acht Jahren lerne ich täglich, besser damit klarzukommen. Doch es bleibt ein Kampf.

Die Natur als Inspirationsquelle

In all den Jahren habe ich eines gelernt: Die Natur heilt. Das Gehen, die Stille, die Verbindung zur Umgebung – es ist, als würde ich Schritt für Schritt eine Brücke zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Ich bauen. Ob auf den Caminos in Spanien, auf Weitwanderwegen in Europa oder auf Wegen in meiner Heimat – die Natur hilft mir, mich selbst zu spüren, neue Puzzleteile zu finden und langsam ein Bild entstehen zu lassen.

Identität in der Natur finden
Identität in der Natur finden

Therapeutisches Schreiben – Worte als Anker

Eine weitere Säule meiner Identitätsfindung ist das Schreiben. Gedanken ordnen, reflektieren, neue Perspektiven gewinnen. Noch bevor ich mich an ein Buch wagen kann, ist das therapeutische Schreiben mein Werkzeug, um Klarheit zu schaffen. Doch, mit meinen kognitiven Einschränkungen ist es ein langsamer Prozess – allein an diesem Blogartikel habe ich Wochen gearbeitet.

Bin ich nach 9 Jahren komplett?

Trotz aller Fortschritte bleibt oft das Gefühl: Da fehlt noch etwas. Vielleicht wird die Suche nie abgeschlossen sein – und vielleicht ist genau das in Ordnung. Identität ist kein Ziel, sondern eine Reise. Mit jedem Schritt, jedem Wort, jeder neuen Erfahrung setze ich das Puzzle ein wenig weiter zusammen.

Identität

3.240 Tage und immer noch ich

Nach all diesen Jahren kann ich eines sagen: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf eine Reise geschickt, auf der ich mich selbst neu entdecken darf.

Und ich bin gespannt auf die nächsten Schritte, die nächsten Herausforderungen. Denn auch wenn nicht alle Puzzleteile an ihrem Platz sind – ich bin auf dem Weg. Und das zählt.

Fünf Dinge, die mir auf diesem Weg helfen:

  • Geduld haben: Identitätsfindung braucht Zeit.
  • Selbstmitgefühl üben: Freundlich zu mir selbst sein.
  • Kleine Schritte setzen: Realistische Ziele wählen, kleine Erfolge feiern.
  • Unterstützung annehmen: Keine Scheu haben, Hilfe zu suchen.
  • Flexibel bleiben: Offen für Veränderung bleiben.

Auch die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen spielt eine Rolle auf diesem Weg – etwas, das ich besonders beim Gehen erfahre.

Was ich bisher gelernt habe...

  1. Resilienz und Anpassungsfähigkeit Ich habe gelernt, dass ich mich neuen Lebensumständen anpassen und Herausforderungen meistern kann. Krankheit und Rehabilitation haben mich gelehrt, flexibel zu bleiben und meine Ziele immer wieder anzupassen.
  2. Wertschätzung von Achtsamkeit Achtsamkeit hat einen festen Platz in meinem Alltag gefunden. Ich habe gelernt, im Moment zu leben, die kleinen Dinge bewusst wahrzunehmen und ihnen Bedeutung zu schenken.
  3. Die Bedeutung von Bewegung Bewegung ist für mich mehr als nur körperliche Aktivität – sie ist Heilung, mentale Stärkung und Motivation. Sport hilft mir, meinen Körper wieder kennenzulernen und mir Stück für Stück Vertrauen zurückzuerobern.
  4. Soziale Verbundenheit Die Begegnungen auf dem Jakobsweg haben mir gezeigt, wie wertvoll zwischenmenschliche Beziehungen sind. Sie haben meinen Blick auf andere Menschen verändert und mir bewusst gemacht, wie wichtig soziale Unterstützung ist. Rückblickend waren es oft genau diese Begegnungen, die mich am meisten bereichert haben und mich noch immer bereichern.
  5. Zielorientierung trotz Widrigkeiten Trotz gesundheitlicher Rückschläge bin ich meinen Weg weitergegangen. Ich habe gelernt, mir erreichbare Ziele zu setzen und konsequent an meiner Gesundheit zu arbeiten – so weit es mir möglich ist.
  6. Offenheit für persönliche Entwicklung Ich bin bereit für Veränderungen und sehe meine Erfahrungen als Chance für persönliches Wachstum. Doch ich habe auch erkannt, dass dieser Prozess Zeit braucht – und dass es in Ordnung ist, wenn nicht alles sofort gelingt.

...und was mir hilft bei der Suche nach Identität?

Professionelle Unterstützung: Ein Therapeut kann helfen, die Krankheit zu verarbeiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Für mich ist das therapeutische Tanzen die wertvollste Unterstützung.

Tagebuch schreiben: Gedanken und Gefühle aufzuschreiben hilft mir, mich selbst besser zu verstehen.

Achtsamkeit: Achtsamkeitsübungen lassen mich im Hier und Jetzt ankommen und mich bewusster wahrnehmen.

Neue Aktivitäten: Durch das Ausprobieren neuer Dinge entdecke ich immer wieder neue Seiten an mir selbst.

Zielsetzung: Kleine, realistische Ziele geben mir das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit.

Spirituelle Aspekte: Die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Identitätsfindung. Besonders beim Gehen finde ich Antworten.

Kreativität: Kunst, Musik oder Schreiben helfen mir, meine Gefühle auszudrücken und neue Perspektiven zu gewinnen.

Natur: Sie ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und des Trostes. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg. Was für den einen funktioniert, muss nicht für den anderen passen. Das Wichtigste ist, diesen Weg zu finden – und sich dabei Unterstützung zu holen, wenn es nötig ist.

Schlusswort: Die Reise geht weiter

Nach neun Jahren, nach 3.240 Tagen, bleibt eines sicher: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf einen Weg geschickt, der kein klares Ziel hat – doch vielleicht ist genau das der Punkt.

Identität ist kein fertiges Bild, sondern ein Puzzle, das sich ständig verändert. Manche Teile passen sofort, andere brauchen Zeit, um ihren Platz zu finden. Manche gehen verloren, neue kommen hinzu. Und mit jedem Schritt, jeder Begegnung, jeder Herausforderung entsteht ein vollständigeres Ich.

Ich weiß nicht, was die nächsten Jahre bringen, welche Puzzleteile sich noch fügen werden. Aber ich bin bereit, weiterzugehen – mit Neugier, mit Mut und mit der Gewissheit, dass der Weg selbst die Antwort sein könnte.

Denn auch wenn nicht alles vollständig ist, zählt vor allem eines: Ich bin auf dem Weg.


Alltag als größtes Abenteuer: Pilgern, Wandern und die Kunst des Lebens

Pilgern und Weitwandern – ich liebe es, mich auf lange Wege zu begeben, mich von der Natur umarmen zu lassen und den Rhythmus des Gehens zu spüren. Dort lerne ich seit meinem Hirnabszess die Kunst des Lebens, die ich im Alltag brauche.

Diese Reisen haben mir so viel gegeben: Klarheit, Freiheit und die Möglichkeit, tief in mich hineinzuhören. Doch je mehr ich pilgere, desto mehr wurde mir eines bewusst: Die größte Herausforderung meines Lebens liegt nicht auf den Wegen da draußen, sondern in meinem Alltag zu Hause. Für die "Kunst des Lebens" bildet das Pilgern und Weitwandern die Grundlage dafür.

Alltag Weitwandern
Alltag am Hexatrek

Alltag – der unwegsame Weg

Wenn ich mich auf einen Weitwanderweg begebe, habe ich ein Ziel vor Augen. Es gibt Etappen, eine Route, eine Struktur. Doch zurück im Alltag scheint vieles weniger klar. Kein ausgeschilderter Weg, keine festgelegten Kilometer, die ich gehen muss.

Der Alltag fühlt sich manchmal an wie ein Labyrinth ohne Karte. Hier finde ich die wahre Herausforderung: In den täglichen Anforderungen zu Hause ist es nur allzu leicht, die Verbindung zu mir selbst zu verlieren.

Vom Pilgern lernen

Das Pilgern hat mir Werkzeuge in die Hand gegeben, die mir helfen, auch den Alltag zu meistern. Auf den Wegen habe ich alles gelernt, was ich fürs Leben brauche. Es geht nicht darum, große Strecken zurückzulegen, sondern Schritt für Schritt voranzukommen, egal wie weit ich gehen möchte. Diese Haltung versuche ich in meinen Alltag mitzunehmen. Jeder Augenblick zählt, und jede kleine Aufgabe ist ein Schritt.

Doch der Alltag verlangt mehr von mir. Er fordert Geduld, Selbstdisziplin und die Fähigkeit, mich immer wieder selbst zu motivieren, auch wenn die Aufgaben manchmal weniger inspirierend erscheinen als die Aussicht auf einen Gipfel oder die Schönheit der Natur. Auch zu Hause ist es allerdings wichtig, mit Freude jeder Tätigkeit nachzugehen.

Das Leben neu lernen - die Kunst des Lebens lernen

Nach meinem Hirnabszess vor neun Jahren habe ich nicht nur das Gehen wieder erlernen müssen – ich bin noch immer dabei, das Leben selbst neu zu lernen. Und genau das ist es, was den Alltag so herausfordernd macht: Er ist nicht selbstverständlich. Jede noch so kleine Aufgabe, sei es ein Gespräch, das Planen eines Tages oder das Bewältigen von scheinbar banalen Dingen, kann für mich ein Abenteuer sein.

Der Thalamus Abszess hat mir alle Filter im Gehirn genommen. Diese Hochsensibilität ist nur schwer zu händeln und zu verbessern, dass habe ich nach 9 Jahren einsehen müssen. Es ist nicht getan daran, mich einfach nur Schritt für Schritt daran wieder zu gewöhnen.

Und genau das macht es auch lohnend. Denn jeder gemeisterte Tag ist ein Erfolg. Jeder Moment, den ich bewusst erlebe, ist ein Schritt hin zu mehr Erfüllung. Mein Gehirn lässt vieles nicht zu, was ich gerne machen würde. Zu leicht verliere ich dann die Verbindung zu mir selbst, weil ich zu viel von dem möchte, was nicht funktioniert. Ich freue mich im Gegenzug über alles, was geht.

Waldbaden beruhigt das Gehirn
Waldbaden beruhigt das Gehirn

Die Balance finden

Pilgern und Alltag – sie könnten unterschiedlicher kaum sein, und doch gehören sie zusammen. Auf den Wegen tanke ich auf, finde Kraft und Inspiration. Zu Hause wird diese Kraft auf die Probe gestellt. Es ist ein ständiges Wechselspiel, ein Tanz zwischen der Ruhe der Wege und der Unruhe des Alltags.

Für mich liegt die Kunst darin, beide miteinander zu verbinden: Die Gelassenheit, die ich auf meinen Wanderungen finde, in den Alltag mitzunehmen. Und die Stärke, die ich im Alltag gewinne, auf den Wegen einzusetzen.

Balance im Alltag
Balance im Alltag

Ein Abenteuer ohne Ende

Vielleicht ist der Alltag tatsächlich mein größtes Abenteuer. Er ist unberechenbar, fordert mich jeden Tag aufs Neue heraus und gibt mir immer wieder die Möglichkeit über mich hinauszuwachsen. Anders als wie auf einem Weitwanderweg gibt es keine klare Karte, keinen fertigen Plan, dem ich folgen kann. Der Alltag verlangt, dass ich flexibel bin, dass ich im Moment lebe und mich den Gegebenheiten anpasse. Das habe ich auf den Weitwanderwegen Europas und beim Pilgern gelernt.

Und vielleicht liegt genau darin der Reiz: die Kunst, das Besondere im scheinbar Gewöhnlichen zu entdecken. Es sind keine spektakulären Gipfel oder weiten Ausblicke, die mir im Alltag begegnen – es sind die kleinen, unscheinbaren Momente, die oft viel tiefer wirken, ich muss es nur zulassen. Ein Lächeln, ein Gespräch, ein Augenblick der Ruhe zwischen den Aufgaben – all das sind kleine Perlen, die der Alltag bereithält, wenn ich bereit bin, sie zu sehen, was nicht immer gelingt.

Es erfordert ein anderes Maß an Achtsamkeit, diese Momente wahrzunehmen. Wo der Weitwanderweg mich mit seiner Schönheit fast überwältigt, muss ich im Alltag genauer hinschauen, feiner spüren.

Aber gerade das macht es zu einem so besonderen Abenteuer. Es ist eine Übung darin, jeden Tag aufs Neue Sinn zu finden, in dem, was ich tue. Die Schönheit in den einfachsten Dingen zu entdecken – in der Tasse Kaffee am Morgen, in der Struktur des Tages oder in der Zufriedenheit, eine Aufgabe bewältigt zu haben. Oft macht es aber auch Sinn, den ganzen Tag einfach dazuliegen. Das darf ich mir zugestehen.

Für die nächsten Monate steht Therapie an

Seit Wochen therapiere ich mich zu Hause, mit all den Dingen, die mir zur Verfügung stehen. Nach einer Zeit das Leben zu finden, steht wieder einmal die Therapie im Vordergrund. Magnetfeldtherapie, Dehnen und Kraftübungen, auf die Ernährung schauen, mit Unterstützung von Nahrungsergänzungen, Tanztherapie und manch so anderem, ist es oft nicht leicht für mein Gehirn, alles im Überblick zu behalten und in allem, was ich mache, Sinn zu finden.

Vielleicht ist es aber genau das, was den Alltag zu einem Abenteuer macht: Er ist wie eine verborgene Schatzkarte, die ich erst entziffern muss. Und wenn ich das tue, erkenne ich, dass die wahre Magie nicht immer in der Ferne liegt, sondern genau hier – in den kleinen Augenblicken meines täglichen Lebens.

Die Diskrepanz zwischen dem Weitwandern oder Pilgern und der notwendigen Therapie ist für mich manchmal wie der Unterschied zwischen Freiheit und Disziplin – zwei scheinbar gegensätzlicher Pole, die doch beide Teil meines Lebens sind.

Beim Weitwandern oder Pilgern erlebe ich eine Leichtigkeit, die mich tief erfüllt. Ich bin in Bewegung, draußen in der Natur, frei von den Zwängen des Alltags. Der Weg gibt mir Struktur, aber auch Raum für Selbstbestimmung. Jeder Schritt ist ein Stück Selbstentfaltung, eine Verbindung zu mir selbst und zur Welt um mich herum. Es ist eine Form des Seins, die von Klarheit und Einfachheit geprägt ist.

Die notwendige Therapie hingegen hat eine ganz andere Dynamik. Sie ist oft von Routine bestimmt und erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Hier geht es nicht um Weite, sondern um Detailarbeit – darum, gezielt an mir zu arbeiten, an meinen Fähigkeiten, an meiner Stärke. Während ich auf dem Pilgerweg vor allem nach innen horchen kann, fordert die Therapie meine aktive Mitgestaltung: Ich muss bewusst üben, reflektieren und Schritt für Schritt an meinen Fortschritten arbeiten.

Weitwandern und Alltag

Gegensätze

Diese beiden Welten fühlen sich manchmal wie Gegensätze an. Das Pilgern ist befreiend, fast mühelos, obwohl es körperlich anstrengend sein kann. Die Therapie hingegen kann ermüdend sein, gerade weil sie so zielgerichtet und präzise ist. Auf dem Weg verliere ich mich in der Weite, in der Therapie fokussiere ich mich auf die kleinsten Fortschritte.

Doch genau in dieser Diskrepanz liegt auch eine Verbindung. Beide Welten haben mir gezeigt, dass Fortschritt nur durch Bewegung möglich ist – sei es die physische Bewegung auf einem Wanderweg oder die innere Bewegung, die durch Therapie entsteht.

Bewusstsein im Alltag

Auch wenn die Therapie oft herausfordernder ist als das Weitwandern, weiß ich, dass sie mir die Grundlage gibt, um überhaupt pilgern und wandern zu können. Sie ist das Fundament, das mich auf meinen Wegen trägt. Und umgekehrt gibt mir das Pilgern die Kraft, die Therapie anzunehmen und weiterzumachen, auch wenn die Fortschritte manchmal nur langsam sichtbar werden.

Am Ende ergänzen sich diese beiden Welten – so unterschiedlich sie auch scheinen. Beide fordern Geduld, Hingabe und die Bereitschaft, jeden Tag aufs Neue einen Schritt zu gehen. Und beide zeigen mir auf ihre Weise, was es bedeutet, das Leben als eine Reise zu begreifen – mit all seinen Höhen, Tiefen und der Freude, Schritt für Schritt weiterzukommen.


Weitwandern, Pilgern und ein Hirnabszess: Meine Reise zurück ins Leben – 9 Jahre danach

Vor neun Jahren änderte sich mein Leben schlagartig. Ein Hirnabszess, eine Krankheit, die ich mir nie hätte vorstellen können, zog mir den Boden unter den Füßen weg, von einem Tag auf den anderen. Doch was wie das Ende wirkte, war in Wirklichkeit der Beginn einer Reise – einer Reise, die mich durch tiefe Täler, über weite Wanderwege und zu mir selbst führte.

Heute, 9 Jahre später, möchte ich eine Zusammenfassung meiner Geschichte mit euch teilen. Nicht, um Mitleid zu erregen, sondern um zu zeigen, wie man selbst in der Dunkelheit Licht finden kann. Und wie das Weitwandern und Pilgern mich gerettet hat.

Pilgern nach dem Hirnabszess
In Santiago de Compostela

Von der Diagnose zum Umdenken: Der Hirnabszess und seine Folgen

Ein Hirnabszess – das klingt wie ein medizinischer Albtraum, und das war es auch. Die Schmerzen, die Unsicherheit, die Operation. Mein Körper und mein Geist wurden auf eine Art geprüft, die ich nie für möglich gehalten hätte. Nach Monaten im Krankenhaus und einer langen Reha fühlte ich mich verloren, ich wusste nicht, wer oder was ich bin.

Hirnabszess MRT

Überlebt zu haben war das Eine, aber den Sinn darin zu finden, überlebt zu haben, den musste ich erst finden. Die Erfahrung hat meine Augen geöffnet. Ich habe gelernt, dass ein Leben mit Behinderung nicht nur von Einschränkungen geprägt ist, sondern auch von großer Stärke und Lebensfreude.

Eines Tages begann ich, mich zu fragen: Was, wenn dieser Kampf nicht das Ende ist, sondern ein neuer Anfang?

Das Weitwandern: Schritt für Schritt zurück ins Leben

Ich begann klein, so klein wie es kaum jemand glauben kann: Nach drei Monaten im Krankenhaus konnte ich erstmals die etwa zehn Schritte zur Tür meines Krankenzimmers zurücklegen, wo ich ohnmächtig zusammengebrochen bin. Am Boden kriechend gelangte ich im Anschluss daran zurück zum Bett, an dem ich mich hochzog und mich hineinplumpsen ließ.

Viele Monate später, eigentlich über ein Jahr später, wurde es ein Spaziergang hier, eine kurze Wanderung dort. Bald wurde das Gehen zu mehr als nur die Bewegung zu lernen – es wurde meine Therapie – Gehen als Therapie. Mit jedem Schritt eroberte ich mir, Stück für Stück, meine Selbstständigkeit zurück, allerdings eine andere wie früher.

Dann kam der Moment, der alles veränderte: Ich las von Menschen, die auf Weitwanderungen ihre Leben transformiert hatten. Der Pacific Crest Trail, der Jakobsweg – das schien wie eine Welt, die mir nie mehr zugänglich war. Doch etwas in mir flüsterte: Warum nicht du?


Pilgern: Die spirituelle Dimension meiner Heilung

Zweieinhalb Jahre nach meiner Diagnose stand ich am Start des Jakobswegs. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, aber ich wusste, dass ich es versuchen musste.

Die ersten Tage und Wochen waren hart. Mein Körper war nicht so stark wie früher, und die Narben, physisch und mental, schmerzten. Doch dann passierte etwas Magisches: Die Begegnungen mit anderen Pilgern, die Stille der Landschaft, das Gefühl, nur mit einem Rucksack und meinen Gedanken unterwegs zu sein – all das begann mich auf eine Weise zu heilen, die ich nicht erklären kann.

Mein erster Camino Frances, zweieinhalb Jahre nach dem Hirnabszess

Ich lernte, loszulassen. Alte Ängste, alte Vorstellungen davon, wer ich war oder sein sollte. Der Weg zeigte mir, dass es in Ordnung ist, unvollkommen zu sein – solange ich weitergehe. Seit 2016 bin ich rund 50.000 Kilometer zu Fuß gegangen, darunter zahlreiche Pilger- und Weitwanderwege. Die Automatik habe ich weiterhin verloren, aber damit das Leben von einer anderen Seite kennengelernt.

Die Rehabilitation nach meinem Hirnabszess war und ist ein langer Weg, den ich Schritt für Schritt, Wanderung für Wanderung, mehr oder weniger gemeistert habe. Ob auf dem Camino Frances, den ich achtmal besuchte, beim JOGLE in England, dem Walkabout durch Österreich oder dem Hexatrek in Frankreich – jede Tour war ein Meilenstein meiner Genesung. Jeder Weg bot mir die Möglichkeit, Körper und Geist auf eine neue Art herauszufordern und zu stärken.

John oGroats - Lands End, Jogle
2.000 km zu Fuß, 7 Jahre nach dem Hirnabszess
Am JOGLE in England

9 Jahre später: Was bleibt?

Heute, 9 Jahre nach dem Hirnabszess, bin ich nicht mehr dieselbe Person wie damals – und eigentlich doch noch. Ich bin allerdings stärker, freier und dankbarer. Das Weitwandern und Pilgern haben mir gezeigt, dass das Leben kein Sprint ist, sondern ein langer und schöner Weg sein kann. Überlebt zu haben, ergibt Sinn!

Natürlich gibt es Rückschläge. Narben, die schmerzen. Momente der Zweifel. Aber dann erinnere ich mich an die Lektion, die mir der Jakobsweg lehrte: Der Weg ist das Ziel. Und auf diesem Weg lerne ich zu mir selbst zu kommen.

Physiotherapie nach dem Hirnabszess

Meine Botschaft an dich

Wenn du selbst vor einer Herausforderung stehst, die unüberwindbar erscheint, möchte ich dir sagen: Es gibt einen Weg. Vielleicht beginnt er mit einem kleinen Schritt vor die Tür, vielleicht mit einer großen Entscheidung. Aber er beginnt – wenn du bereit bist.

Die Entscheidung, nach dem Hirnabszess niemals aufzugeben!
Entscheidung für "Never give up"

Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder träumst du davon, eines Tages deinen eigenen Weg zu gehen, sei es auf einem Pilgerpfad oder im Alltag? Das Geheimnis ist es ANZUFANGEN, egal wo du stehst!

Früher habe ich oft gedacht: 'Ich kann nicht, weil…'. Heute weiß ich, dass das nur eine Ausrede war. Der Hirnabszess hat mir gezeigt, dass ich stärker bin, als ich dachte. Und dir? Dir kann auch nichts im Weg stehen, glaub an DICH!

ANFANGEN und NEVER GIVE UP!!!

Lass uns gemeinsam die Welt ein Stückchen heller machen!


Rückschau auf meinen 10en Camino, 9 Jahre nach dem Hirnabszess!

Ja, ich war wieder unterwegs. Nach meinem zehnten Camino und inzwischen neun Jahren Rehabilitation nach meinem Hirnabszess ist es an der Zeit, Rückschau zu halten und ein (Zwischen-) Resümee zu ziehen.

Diesmal begleitete mich kein Social Media, und auch das Telefon kam nur selten zum Einsatz. Dieser Weg war ganz für mich allein – ein Moment, um nachzudenken und Bilanz zu ziehen, um zu erkennen, wo ich heute stehe.

Camino Frances

Der Weg zurück ins Leben, eine Rückschau

Vor neun Jahren stand mein Leben still. Der Hirnabszess kam unerwartet und zog mir den Boden unter den Füßen weg. Monatelang fast nur liegend im Krankenhaus, eine Operation und eine langwierige Rehabilitation prägten mein Leben seither.

Die einfachsten Dinge – sprechen, gehen, denken – waren plötzlich eine Herausforderung und wollten neu gelernt werden. Es dauerte Monate, bis ich wieder ein Messer beim Essen verwenden konnte. Noch heute ist es mir unangenehm mit mehreren Menschen am Tisch zu essen, denn ich brauche die volle Konzentration für die Beherrschung des Besteck.

Der Gedanke an den Camino, gab mir Hoffnung. Nur drei Monate vor der Krankheit, wollte ich eine Dokumentation darüber drehen. Der Camino war so stark in mir und wurde danach zu einem Ziel: Einem Symbol für Stärke, Heilung und Leben.

Nach meinem Hirnabszess zum Camino

Wie geht es mir, neun Jahre nach dem Hirnabszess

Das ist eine schwierige Frage, denn es ist eigentlich leichter zu beschreiben, was noch nicht geht, als was funktioniert. Heilung bedeutet nicht, dass alles wie vorher sein muss. Die Definition laut Wikipedia lautet:

"Heilung ist der Prozess der Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Integrität."

Für Außenstehende mag mein Zustand gar nicht so schlecht aussehen, was im Vergleich zur Krankheit auch tatsächlich stimmt. Dennoch gibt es noch so vieles, das nicht funktioniert. All das in Worte zu fassen, fällt mir nach wie vor schwer und ist auch nicht sichtbar.

Immerhin kann ich gehen – und das ist mittlerweile mein zehnter Camino in sieben Jahren. Aber was dieses „Gehen können“ wirklich bedeutet, ist für viele kaum nachzuvollziehen und oft auch widersprüchlich zu dem, was man sieht. Ich habe viel erreicht, aber das Verhältnis zur Zeitdauer, die ich dafür gebraucht habe, lässt sich nicht mit vor dem Hirnabszess vergleichen.

Einfachste Dinge können sich unglaublich schwer anfühlen, weil mein Gehirn mit so vielen anderen Prozessen überfordert ist. Würde ich den ganzen Tag nur im Bett liegen, ohne mich zu bewegen, könnte mein Gehirn – besser gesagt, mein Denken – wahrscheinlich besser funktionieren. Aber mein Gesundheitszustand wäre dann ein völlig anderer.

Deshalb bleibe ich in Bewegung, so lange ich kann, auch wenn das bedeutet, dass mein Denken oft eingeschränkt ist. Ich möchte es nicht riskieren, es auszuprobieren, denn selbstbestimmt und auf eigenen Beinen aufs Klo zu gelangen, steht über allem. Es bekommt erst eine Wichtigkeit, wenn man es nicht mehr kann.

Außerdem ist mein Kurzzeitgedächtnis verloren, und auch nach all den Jahren Training hat sich das kaum verbessert. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Wie andere damit und mit mir umgehen, kann ich nicht beeinflussen, und ich kann es auch nicht jedem erklären.

Bewegungen müssen nach wie vor sehr bewusst ausgeführt werden. Mein Gehirn ist so damit beschäftigt, dass für anderes nur wenig Platz bleibt. Single Tasking statt Multi Tasking. Mein Buch zu schreiben ist ein gutes Beispiel. Ich schreibe oft, komme aber nur langsam voran, weil mir der Überblick fehlt. Mein Gehirn ist kaum in der Lage, zusammenhängend zu denken.

Das macht alles nicht leichter, besonders wenn es um frühere Erlebnisse geht. Deshalb gehe ich am liebsten und lebe im Hier und Jetzt. Es fühlt sich oft noch an wie im Krankenhaus, als ich nur auf direkte Fragen an mich antworten konnte. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle.

Spruch am Camino
WAKE UP, YOURE ALIVE

Die Vorbereitung auf den Camino

Die Vorbereitung auf diesen 10. Camino war nicht viel anders als bei den vorherigen. Die Entscheidung dazu viel erst kurz davor. Da ich im Sommer am HexaTrek in Frankreich unterwegs war, wollte ich meine dort neu gewonnene Stärke überprüfen.

Ich konnte damals zwar nichts an der Muskelschwäche ändern, aber ein großer Erfolg war es, dass mir danach der Puls bei Anstiegen und Stufen steigen nicht mehr so hoch schnellte. Das wollte ich unter anderem am Camino überprüfen, da ich die Wege und mein Befinden dort kenne.

In den letzten Jahren hatte ich zu lernen, dass mein Körper nicht mehr derselbe ist. Er funktioniert so anders und ich kann oft nie vorher sagen, wie genau er sich verhalten wird. Deshalb lerne ich noch immer täglich dazu, um ihn verstehen zu lernen.

Dieser Camino sollte nicht nur ein Jubiläum sein, sondern auch eine Überprüfung, wo ich stehe.Ich wollte diesmal nur für mich selbst gehen, deswegen verzichtete ich auf eine Begleitung durch Social Media und konnte mich so zu 100% auf mich einlassen, um zu sehen, wie es mir ergeht. Durch das weglassen von Social Media hatte ich täglich mehr Zeit für mich und wurde nicht abgelenkt.

Trotzdem war auch ein wehmütiges Auge dabei, denn immerhin begleitet mich der Blog, Facebook und Instagram seit 2017, wo ich über meine Rehabilitation berichte und was ich bisher machte, um wieder ins Leben zu gelangen. Das hantieren mit dem Handy diente außerdem meiner Feinmotorik, ob beim Bearbeiten von Fotos oder dem kreieren von Beiträgen. Das fiel alles diesmal weg.

Facebook

Der Weg: Herausforderung Camino

Die ersten Schritte auf dem Camino fühlten sich an wie eine Rückkehr nach Hause. Egal ob auf Weitwanderwegen oder Caminos, der Aufenthalt in der Natur tut meinem Körper, wie auch dem Geist unglaublich gut. Kann ich gehen, fühle ich mich wohl. Draußen auf dem Weg fühle ich mich lebendig. 

Es hat etwas Magisches, sich der Natur auszusetzen. In der Energie der Natur zählt in dieser Zeit nichts anderes. Keine Fristen, kein Drama, nur ich und die Natur. Deshalb verweile ich auch nicht lange in Städten und Dörfern, am liebsten bin ich am Trail unterwegs.

Doch die Schritte waren auch schwer. Mein Körper erinnerte mich an seine Grenzen, vor allem an steilen Anstiege, wenn es finster war oder auf langen Tagesetappen. Doch mit jedem Schritt ist immer mehr Leichtigkeit zurück gekommen. Gerade das therapeutische Tanzen hilft mir sehr dabei und viele Übungen von meiner Therapeutin Hanna Treu bilden einen wesentlichen Grundstein für mein jetziges Leben.

Unterwegs auf dem Camino: Mein Weg über den Camino France und Invierno

Meine Pilgerreise führte mich von Saint Jean Pied del Port, 570 km auf dem Camino Francés bis nach Ponferrada. Dort entschied ich mich, erstmals den Camino Invernio zu nehmen, den sogenannten Winterweg nach Santiago de Compostela.

Camino Frances und Invernio
Camino Frances und Invernio

Die Begegnungen mit anderen Pilgern waren diesmal seltener – besonders auf dem weniger frequentierten Camino Invierno. Doch genau diese Stille eröffnete mir Raum für tiefere Reflexionen und ein tiefes Eintauchen in mir selbst.

Wenn ich mit einigen der wenigen Pilger ins Gespräch kam, teilte ich meine Geschichte offen. Nicht aus Selbstmitleid, sondern um zu zeigen, dass Heilung möglich ist und was Heilung überhaupt bedeutet. Die Reaktionen, die eigenen Geschichten der anderen und die Verbindungen, die dabei entstanden, waren für mich ein weiterer Schritt auf meinem Heilungsweg.

Bilderstrecke bin Bugos

Die Zeit bis Burgos verbrachte ich größtenteils mit Dan aus Seattle. Kontakte knüpfen und Kommunikation standen im Vordergrund.

Die Meseta, Zeit zum Reflektieren

Ab der Meseta war ich wieder alleine. Gehen, gehen, gehen - im Gehen kann ich meine Gedanken ordnen oder aber auch nichts denken. Das Gehirn leer werden lassen. Einen Teil Denken brauche ich trotzdem noch für das Gehen. Alles andere loszulassen, Gedanken sein lassen zu können, tut gut.

Vielleicht ist es gerade diese Einfachheit, die die Meseta für viele Pilger auf dem Jakobsweg so besonders macht. Sie wird oft als eintönig beschrieben, aber in ihrer Schlichtheit steckt eine Einladung, das "Zuviel" loszulassen und sich im Gehen selbst zu finden. Für viele ist das zuviel, diese Konfrontation mit sich selbst. Sie überspringen die Strecke lieber mit dem Bus.

Auf der Meseta genoss ich das Gehen, ohne über jeden Schritt so viel nachzudenken, wie zuvor am HexaTrek. Es wurde zu einer Erholung für den Geist.

Das Crux de Ferro

Am Crux de Ferro läßt man traditionell einen Stein von zuhause zurück, als Symbol für eine Last, die man hier zurück lässt.

Warum den Camino Invierno?

In Ponferrada entschied ich mich für den Camino Invierno, weil ich ihn noch nie gegangen war. Außerdem reizte mich die Idee, eine alternative Route zu wählen – eine, die besonders in den Wintermonaten oft still und einsam ist.

Mir war bewusst, dass ich auf diesem Weg weniger Begegnungen mit anderen Pilgern haben würde, das nahm ich aber in Kauf. Die Interaktion mit Menschen, die das Pilgern so besonders macht, hatte ich im ersten Teil. Tatsächlich hatte ich auf dem Camino Francés bis Burgos interessante Gespräche, besonders mit Dan, einem Amerikaner aus Seattle. Ab der Meseta war ich jedoch wieder alleine unterwegs und traf nur mehr auf wenige Menschen.

Erst in Ponferrada fiel die Entscheidung für den Invierno. Am Morgen ging ich von der Herberge, die knapp außerhalb der Stadt liegt, in die Stadt hinein, um zu frühstücken. Während ich danach  losging, beschloss ich spontan, diesen neuen Weg zu erkunden.

Neue Wege – neue Herausforderungen

Der Camino Invierno forderte mich auf eine besondere Weise heraus. Neue Wege zwingen mich, meine Komfortzone zu verlassen. Sie verlangen mehr Aufmerksamkeit und Kreativität – eine echte Herausforderung für Körper und Geist.Doch gerade das machte diesen Weg für mich so besonders.

Ich bin überzeugt, dass mich genau diese Herausforderungen weiter bringen – nicht nur als Pilger, sondern auch als Mensch und dass, besonders nach dieser Krankheit.

Persönliche Erlebnisse und Begegnungen

Auf dem Camino Invierno waren Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen selten. In den acht Tagen auf dieser Strecke sprach ich nur kurz mit zwei Pilgern und sah insgesamt lediglich fünf weitere auf dem Weg.

Doch diese Ruhe war für mich kein Nachteil. Im Alleinsein fand ich die Möglichkeit, tiefer über mein eigenes Sein nachzudenken. Mein Fokus lag darauf, persönliche Einsichten zu gewinnen: Wie hat sich mein Gehen verändert? Wie gehe ich mit Herausforderungen um? Und wie kann ich meine Gedanken ordnen, wenn ich allein mit mir selbst bin?

Besonders spannend war es, Lösungen für unvorhergesehene Herausforderungen zu finden. Die langen Distanzen zwischen den Herbergen erforderten eine gute Planung und oft auch Improvisation. Doch erstaunlicherweise fügte sich alles immer wieder, vor allem dann, wenn ich Vertrauen hatte.

Vertrauen als Lebensbegleiter

Vertrauen ist einer der Grundpfeiler meines neuen (Lebens-)Weges – nicht nur auf dem Camino, sondern auch im täglichen Leben. Es hilft mir, ruhig zu bleiben, wenn ich mit Unsicherheiten oder Herausforderungen konfrontiert bin. Doch so einfach das klingt, gelingt es mir nicht immer, in diesem Zustand zu bleiben.

Wenn ich jedoch Gelassenheit und Vertrauen in solchen Momenten der Herausforderung finde, fühlt sich alles leichter an. Diese innere Balance ist für mich ein Schlüssel, um mit schwierigen Situationen klarzukommen, gerade wenn der Verstand manchmal mit zu vielen Gedanken ringt.

Herausforderungen und Überraschungen

Auf dem Camino Invierno wurde ich oft von der spärlichen Infrastruktur überrascht. Es war keine Seltenheit, dass ich Etappen von 20 bis 30 Kilometern zurücklegen musste, ohne die Möglichkeit, Verpflegung einzukaufen oder einfach einen Kaffee mit Croissant in einem Café zu genießen.

Das war eine deutliche Umstellung im Vergleich zum Camino Francés, wo alle 20 bis 25 Kilometer – oder spätestens nach 40 bis 50 Kilometern – eine offene Herberge zu finden ist und dazwischen wesentlich mehr Cafés geöffnet haben. Hier auf dem Invierno war das anders.

Doppeletappen, die ich auf dem Francés problemlos hätte planen können, wären hier schlicht unmöglich. Oft folgte nach einer 30-Kilometer-Etappe erst nach weiteren 30 Kilometern die nächste offene Herberge – ohne Alternativen wie Hotels dazwischen. Dadurch war ich auf Übernachtungen in größeren Orten angewiesen, was meine Flexibilität einschränkte, aber auch eine neue Herausforderung mit sich brachte.

Natur und Landschaft

Trotz vieler Herausforderungen war die Landschaft des Camino Invierno für mich ein echtes Highlight. Sie ist völlig anders als auf dem Camino Francés: Der Weg führt häufig entlang eines Flusses durch die Berge, mit malerischen Ausblicken und der Ruhe der Natur. Immer wieder steigt der Weg steil an, um weite Flussschleifen über einen Berg abzukürzen, was für einige Höhenmeter sorgt – eine gute Herausforderung für Körper und Geist, mit diesen Veränderungen klarzukommen.

Besonders beeindruckend waren die Weinberge, durch die ich vor allem in Galicien wanderte. Die Hügel und die kultivierten Reben sorgten für eine ganz eigene Atmosphäre. Oft leuchtete der Hang in Rot oder Gelb, von den Blättern der Weinreben. Und mit dem Wetter hatte ich unglaubliches Glück: Einzig am zweiten Tag, zwischen Roncevalle und Pamplona regnete es. Danach hatte ich keinen einzigen weiteren Regentag, außer am letzten Tag, wo ich zwischen und in Gewitterfronten nach Santiago ging.

Gewitterleuchten

Einsamkeit und Geisterdörfer

Die lange Zeit der Einsamkeit störte mich nicht, im Gegenteil – sie gab mir Raum für Reflexion und Achtsamkeit. Doch manchmal hoffte ich trotzdem auf eine offene Bar in einem der vielen kleinen Dörfer, um für einen Moment auszurasten. Viele dieser Orte wirkten jedoch wie ausgestorben, beinahe wie Geisterstädte. Diese Leere hinterließ einen eigentümlichen Eindruck – melancholisch, aber zugleich faszinierend.

Da ich eigentlich immer der einzige Pilger in der Herberge war, bin ich schon zeitig aufgebrochen. Ich brauchte mich nicht darum zu sorgen, jemanden durch mein frühes Aufstehen zu stören.

Noch im Dunkel des Morgen, die Dämmerung bricht erst gegen 8h30 an, suche ich eine offene Bar und nehme Kaffee mitToast und Marmelade zu mir. Danach gehe ich meist noch eine weitere Stunde im Dunkeln und werde danach fast immer mit einem wunderschönen Sonnenaufgang draußen in der Natur belohnt.

Meseta am Camino Frances
Meseta, Camino Frances

Tierbeobachtungen

Die Tiere haben es mir besonders angetan. Mein Pilgerfreund Dan hat sich den Spaß gemacht, den Ruf von Raubvögeln, wie Bussard oder Milan, mit meinem Namen zu verbinden. Schwebte wieder einmal einer über uns, rief er langgezogen meinen Namen. Für einen Amerikaner ist das "ö" schwer auszusprechen, so nennt er mich York, dass dem Ruf der Vögel ähnlich ist.

"Yoork, Yooork!"

Dan imitierte mit seinen Armen das Gleiten des Vogels durch die Luft und vermittelte mir Leichtigkeit. Immer wenn ich einen Bussard höre, wird mir diese Leichtigkeit bewußt gemacht. Es vermittelt mir, mit Leichtigkeit über die Trails und Wege zu laufen!

Religiöse und kulturelle Traditionen in den Dörfern

Auf dem Weg, besonders am Invernio, befinden sich viele alte Kirchen, aber die meisten sind geschlossen. Von Außen sind sie allerdings auch sehr schön. Nur wenige sind renoviert und die alten Steingemäuer sind oft Moosbewachsen und schimmern in Grün.

Jedes noch so kleine Dorf hat seine Kirche, die zumeist auch der Mittelpunkt ist. Umgeben von Kinderspielplätzen und Bänken luden sie zur Rast ein.

Da der Abstand von Herberge zu Herberge im Verhältnis groß ist, kann man nicht oft eine Doppeletappe einlegen. Wenn doch, hätte man oft über 50 Kilometer zu gehen, meist sogar über 60, ohne dazwischen wo einkehren zu können. Da es im November/Dezember nicht solange Tageslicht hat, ist man limitiert damit, bei Tageslicht weit gehen zu können.

In manchen Orten war die Herberge ganz geschlossen, aber für 20 Euro bekam ich ein Einzelzimmer im Hotel, dass aus diesem Grund oft für Pilger günstiger angeboten wird.

Verpflegung: Lokale Spezialitäten

Hin und wieder ging ich essen. Das war nicht oft möglich, da in Spanien erst spät zu Abend gegessen wird. Das sagt mir aber überhaupt nicht zu und deswegen jausne oder koche ich in der Herberge meist selbst.

In Navarette war die Herberge geschlossen und so wichen Dan und ich in ein Hotel aus. Ein Doppelzimmer um 40 Euro war günstig zu bekommen. Es ist um diese Zeit kaum was los und so geben die Wirte ihre Zimmer im Winter an Pilger billiger her, vor allem, weil die Herbergen zu haben.

Der Wirt war ein Brasilianer, der hier im Ort hängen geblieben ist. Zum Hotel dazu eröffnete er ein kleines Restaurant, dass er als ehemaliger Haubenkoch installierte. Das Hotel kam eigentlich eher zufällig dazu. An diesem Abend speiste ich wohl wie noch nie zuvor am Camino und trank zur Abwechslung auch ein Glas Wein.

Hinweise zur Vorbereitung: Schwierigkeit des Weges, Ausrüstung, beste Reisezeit.

Der November zählt bereits zum Winter und man sollte auf alles vorbereitet sein. Von Regen und Sturm, bis Kälte und Schnee, aber auch Wärme, kann man alles erwarten. Trotzdem war ich nur mit einem 20 Liter Laufrucksack unterwegs, der mit seinen Außentaschen allerdings mehr fasste.

Ich war für jedes Wetter gerüstet, auch Kälte und Schnee. Wegen meines kleinen Rucksacks sahen andere in mir einen Tageswanderer, der sein Gepäck jeden Tag vorausschickte. In den Herbergen war manch einer verwundert, was ich alles hervor zauberte.

Ich war Leichtgewichtig unterwegs, aber trotzdem mit ein wenig Komfort. Anbei ist mein Link zur Ausrüstungsliste auf lighterpack. Mein Basisgewicht lag übrigens bei etwa dreieinhalb Kilo.

https://lighterpack.com/r/q7p070

Meine Winterausrüstung im November/Dezemberz

Im Endeffekt hatte ich sogar zuviel mit, den das Wetter meinte es gut mit mir. Nur zwei richtige Regentage in den über drei Wochen war weit weniger, als ich erwarten durfte und es war niemals Schnee.

Wie immer hatte ich zusätzlich zur Regenjacke einen Poncho mit, eigentlich unnötig, zwei dieser Dinge zu tragen, aber für mich ist es Komfort, mit allen möglichen Schichten wechseln zu können.

Wichtig war, dass ich alles Gewand im Rucksack verstauen konnte. An einigen Tagen war es so warm, dass ich nur mit dem T-Shirt ging. Der Rest musste dann alles auf und in den Rucksack, der damit am Limit war. Dazu erhöht sich das Gewicht.

Beim Schlafsack ist mir ein Fehler unterlaufen. Beim Packen zuhause wollte ich nur den Unterschied sehen, zwischen dem SEA to Summit Spark I und II. Ich vergaß vor der Abfahrt sie wieder auszutauschen und nahm den wesentlich wärmeren Spark II mit, der auch um etwa 200g schwerer ist.

Dieser Schlafsack war überdimensioniert. Ich wollte ja nur Herbergen nutzen und nicht im Freien übernachten. Er war zwar oft zu warm, aber dafür kuschelig.

Reflexionen auf dem Weg

Der Camino gibt einem Zeit zum Nachdenken. Ich reflektierte über die letzten neun Jahre – die Herausforderungen, die Ängste, aber auch die kleinen und großen Erfolge. Der Hirnabszess war ein Einschnitt, der mich verändert hat, aber er hat mir auch gezeigt, wie stark ich bin.

Auf diesem 10en Camino spürte ich erneut, wie wichtig Dankbarkeit ist. Dankbarkeit für meinen Körper, der nach allem, was er durchgemacht hat, immer noch mit mir geht. Dankbarkeit für die Menschen, die mich in meiner dunkelsten Zeit unterstützt haben. Und Dankbarkeit für den Camino selbst, der mir immer wieder neue Perspektiven schenkt.

Das Weitwandern hat mich wieder ins Leben gebracht, wenn auch etwas anders, als gedacht. An die Stadt versuche ich mich nur mehr soviel wie nötig zu gewöhnen. Das wichtigste ist es, mich gut zu fühlen. Da mich die Stadt auch nach Jahren des Trainings noch stresst, muss ich mich nicht mit aller Macht daran gewöhnen.

Ankommen

Am Ende des Weges, in Santiago de Compostela, stand ich vor der Kathedrale und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Es war ein Moment der Erleichterung, des Stolzes und der tiefen Freude.

In solchen Momenten kann ich meine Gefühle nicht im Zaume halten. Szenen aus den letzten Jahren spielen sich vor meinem geistigen Auge ab.

Zunächst war es aber ein flüchten vor dem Gewitter mit starkem Regen.

Die ersten krampfhaft Gehversuche kommen mir immer wieder in den Sinn. Ja, es ist nicht leicht hier zu gehen, nach wie vor nicht. Andererseits, als Pflegefall im Bett zu liegen, ist sicher noch schwerer. Um das hier zu erleben, nehme ich gerne das Überwinden von Herausforderungen in Kauf, als von vornherein aufzugeben.

Fazit: Der Camino als Metapher für das Leben

Dieser 10. Camino war für mich nicht nur eine Wanderung, sondern ein Spiegel meines Lebens. Er zeigte mir, dass Rückschläge uns formen, aber nicht definieren müssen. Dass Heilung Zeit braucht, aber möglich ist. Und dass jeder Schritt, egal wie klein, uns weiterbringen kann.

Durch meine Geschichte hoffe ich, andere zu inspirieren, eine schwierige Phase in ihrem Leben überwinden zu können. Der Weg zeigt sich, wenn wir bereit sind, ihn zu gehen.

"Never give up!", wurde zu meinem Leitsatz.

Buen Camino!


Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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