Nach dem Jakobsweg hat der Reha Aufenthalt in Judendorf begonnen. Es ist eine große Umstellung, von der weiten Natur, plötzlich in der Klinik wie "eingesperrt" zu sein. Eine intensive Arbeit an und mit mir steht an.
Meine Haut wurde sofort wieder dünner und war wieder leichter verletzbar. Auch das intensive Denken strengte mich an. Mir fehlt das ohne Absicht, einfache dahingehen.
Jede Therapie Einheit dauert eine halbe Stunde und das vier bis sechsmal am Tag. Ich musste mich erst wieder an diese neuen Gegebenheiten gewöhnen.
Meine täglichen Gedanken sind enorm wichtig für mein Weiterkommen. Dieser Spruch von Marcus Aurelis begleitet mich schon lange. Aber Wissen und es Leben sind zwei paar Schuhe. Auch der Hirnabszess war nur ein Produkt meiner Gedanken.
Die kleinsten Bewegungsabläufe muss ich mir wieder oder noch besser gesagt, noch immer, aneignen. Am Jakobsweg braucht man nur zu Gehen, niemals steigen. Damit habe ich nämlich noch große Probleme. Stiegen rauf und hinunter sind noch immer nicht einfach. Es liegt einerseits am Mangel der Kraft, andererseits aber auch am Neurologischen. Nur ein Bruchteil der trainierten Kraft kommt an.
In der Physiotherapie werden mir Übungen für die kleinsten Muskeln beigebracht, um das Steigen zu lernen, aber auch größere Schritte zu meistern.
Hand in Hand geht die Ergotherapie, wo daran gearbeitet wird, die Steifigkeit aus dem Oberkörper zu bekommen.
Spartanisch, aber alles was ich brauche. Bett, Nachttisch und Kasten. Da hatte ich am Jakobsweg weniger, daher bin ich auch nicht verwöhnt. Die vorangegangenen Reha-Aufenthalte waren für mich noch schwieriger durchzustehen, diesmal fällt es mir leichter und ich bin seit dem Jakobsweg motivierter, die Defizite zu verringern.
Dem Barfuß gehen bleibe ich auch hier treu. Es ist unter der Woche fast mein einzige Kontakt mit der Natur.
Der Judendorfer Kirchberg ist mein Ausgleich zur Reha. Hier hole ich mir Kraft und kann in den Wald eintauchen.
Der Wald spielt für mich seit dem Hirnabszess eine besondere Rolle. Ohne ihn wäre es unmöglich, meinen Fortschritt zu erlangen. Es ist für mich unvorstellbar, wie es Menschen in Großstädten geht. Viele habe verloren, sich selbst wahrzunehmen und leiden unwissend dahin. Sie geben ihre Verantwortung zur Heilung lieber an andere ab, als sich selber darum zu kümmern.
Gerade das Waldbaden hat heuer an Bedeutung gewonnen und wird in Japan als Therapie für unterschiedlichste Befindlichkeiten angewendet. Langsam findet es auch bei uns Einzug.
Die Kirche hoch über der Klinik ist heuer öfter mein Ziel. Vor einem Jahr habe ich es noch nicht geschafft, den Berg zu erklimmen. Jetzt geht es, ist aber noch immer eine Herausforderung. Am Jakobsweg hatte ich nie einen vergleichsweise so schweren Anstieg zu bewältigen. Ich tue mich noch immer schwer und wie in fast allen Fragen: STEP BY STEP
Ich entkomme dem Pilgern auch in Judendorf nicht. Der Weg führt über den Kirchberg und weiter den Weststeirischen Jakobsweg entlang. Pilgern wird immer moderner, was wieder zeigt, dass immer mehr Menschen die Langsamkeit suchen, die sie im Alltag nicht bekommen.
Langsamkeit fördert Aufmerksamkeit, das kann ich mittlerweile bestätigen. Deswegen tut mir Pilgern so gut.
Hier geht es zu einem Video von Alexander Rüdiger, der heuer am Weststeirischen Jakobsweg unterwegs war. (Zum Video)
Es liegt noch für längere Zeit viel Arbeit vor mir. Es ist mein Full Time Job, wieder "gesund" zu werden. In der Reha Klinik wird so intensiv gearbeitet, dass ich öfter mein Limit wieder lange vor dem Abend erreiche.
Aber dieses gefordert sein, bringt mich natürlich weiter. Im Moment befinde ich mich in einer Art Überkompensation, es geht mir eigentlich sehr schlecht. Ich bin immer aus Prinzip die Stufen in den zweiten Stock zu Fuß gegangen. Allerdings musste ich die letzten zwei Tage davon abweichen, es war mir unmöglich. Schweren Herzens musste ich den Lift benutzen.
Noch stehen mir drei Wochen hier bevor. Ich werde den Reha Aufenthalt bestmöglich nutzen, gerade die Physio- und Ergotherapie geben mir hervorragenden Input.
So schließe ich mit den Worten:
"Willst du den Körper heilen, musst du zuerst die Seele heilen."
Platon
Was habe ich am Jakobsweg gelernt? Achtsamkeit oder war es doch ein Grenzgang? Wahrscheinlich habe ich das erfahren, was alle am Jakobsweg erfahren, jeder aber auf seine eigene Art und Weise. Achtsamkeit ist ein Schlüssel dazu. Allein die unterschiedlichen Wege. Ohne Achtsamkeit war das Gehen unmöglich.
Jeder Pilger hat einen anderen Beweggrund zu Pilgern, dadurch einen anderen Zugang und andere Erlebnisse. Ich musste meine Komfortzone endlich wieder einmal verlassen. Bin ich doch seit über zwei Jahren gefangen in einer Welt voll von Therapie, Training und Übungen. Ein Vorteil war, ich musste alles mit Achtsamkeit angehen.
Im Frühjahr 2018 machte mir allgemein viel zu schaffen, besonders Rückschläge. Prägend war eine falsche Übung in der Physiotherapie. Mit einer kurzen Übung waren Monate Training dahin. Sieben Wochen therapierte ich nur an den Auswirkungen und nicht an meiner Verbesserung. Ich war im Kopf derart am Limit, dass ich den Ausweg nur in einer Veränderung der Situation sah. Es war kein flüchten, ich musste nur einmal aus meinem System raus.
Ich habe schon des Öfteren vom Jakobsweg geschrieben und das ich dort einmal hin möchte. Es kam früher als gedacht. Meine Behinderungen nahm ich natürlich mit. Ich war mir nicht sicher, ob es schon geht, aber was hatte ich zu verlieren. Wenn es nicht ging, wäre ich eben wieder nach Hause gefahren.
Es war ein lautes STOPPP!!! in mir. "Du musst raus aus dem Alltag". Den Fehler, weswegen ich den Hirnabszess bekam, wollte ich nicht wieder begehen. Glauben nicht wegzufahren zu können oder zu dürfen, kein Geld oder keine Zeit dafür zu haben. Es waren alles Ausreden. Ich durfte diesmal, vielleicht zum Ersten mal in meinem Leben, egoistisch sein und an mich denken. Denn es ging immerhin um mich und mein Leben.
Die Entscheidung dazu war sicher ein Grenzgang, aber an der Grenze bewege ich mich sowieso schon seit zwei Jahren. Und das jeden Tag. An der Grenze zu sein, war mir nichts Neues.
Es hat mir dabei sicher geholfen, dass ich früher Extremsportler war. So hatte ich sicher einen anderen Zugang, als so manch anderer.
"Seien wir realistisch, versuchen wir das unmögliche"
Che Guevara
Dieser Spruch beschreibt sicher am besten mein Gefühl dazu. Es war realistisch und unmöglich zugleich. Ich fuhr ohne Erwartungen hin und ließ einfach alles auf mich zukommen.
(Zum Puls4 Beitrag vom Oktober 2017) Wie es damals um mich stand.
Ein Grund war, dass ich mich wieder finden wollte. Meinen Platz im Leben wieder finden wollte, mich eigentlich neu erfinden musste.
Die letzten zwei Jahre lebte ich zwar, aber mit mir war nicht viel anzufangen. Ich konnte nicht unter Menschen gehen, keine kulturellen Aktivitäten besuchen, nur beschränkt wandern, tat mich schwer in der Stadt und alles musste sehr langsam vor sich gehen.
Besonders für die Familie eine besondere Belastung, da sie immer auf mich Rücksicht nehmen musste.
Es wurde für mich zur Belastung, in allem unterstützt zu werden, ja, unterstützt werden zu müssen. Ich konnte ohne Begleitung kaum außer Haus gehen, musste mich überall mit dem Auto hinführen lassen, ich war abhängig von anderen. Das genaue Gegenteil von meinem bisherigen Leben. Diese Abhängigkeit belastete alle.
Der Jakobsweg war die Gelegenheit, in einem geschützten Rahmen, mich wieder im Leben zu finden. Außerdem konnte ich meine Achtsamkeit ohne große Ablenkung schulen.
Es war mir nicht wichtig wie weit ich komme. Das Gehen war schon für längere Zeit meine Medizin. Warum es also nicht am Jakobsweg versuchen. Mein Ziel war so weit zu gehen, wie mich die Füße tragen.
Wenn es sein sollte, nur über die Straße in die nächste Herberge. Ich erwartete mir nichts.
Die Infrastruktur hat sich am Jakobsweg in den letzten Jahren sehr verbessert. Mehr Herbergen, mehr Einkaufsmöglichkeiten und besonders die Wegmarkierungen boten mir die Sicherheit, trotz Handicap zu bestehen.
Ausserdem ist die Hilfsbereitschaft unter den Pilgern besonders groß. So hat man mich unter die Fittiche genommen oder mir bei Städtedurchquerungen geholfen.
Die Natur war mir sehr wichtig. Kleine Dinge am Weg erfreuten mich. Ein Käfer, eine Blume oder eine Wolkenformation. Dazu wertet sie nicht, sie war einfach da.
Meine Achtsamkeit steigerte sich und ich war für die kleinen Dinge des Lebens offen.
Alle Städte durchquerte ich nur, hielt mich nicht lange auf. Die Tage draußen in der Natur hingegen genoss ich. Egal ob schönes oder nicht so schönes Wetter. Es war egal, auch ich wertete nicht. Regen war genauso willkommen wie Sonnenschein. Eins werden mit der Natur, sie so akzeptieren wie sie ist.
Meine Langsamkeit konnte ich hier besonders gut ausleben. Denn es geht jeder in seinem Rhythmus und der ist bei einem langsam und beim anderen schneller. Es wird darauf Rücksicht genommen und akzeptiert, dass jeder seinem eigenen Rhythmus geht.
Und es ist wichtig das man seine Geschwindigkeit kennt. Manchmal versucht man sich an eine andere Gruppe anzuhängen. Das geht nur eine Weile gut und bald ist man wieder in seinem Schritt unterwegs.
Diese Langsamkeit zieht sich durch mein ganzes derzeitiges Leben und Tun. Ich fühlte mich aber nie gedrängt oder unter Druck gesetzt. Ich hatte nie Stress und konnte meinen Rhythmus leben.
Für mich ist Gehen ein wichtiger Teil meines Heilungsprozesses geworden. Natürlich tat ich mich noch schwer damit. Gehen ist noch immer ein Defizit von mir. Aber am Jakobsweg herrscht ein eigener Spirit. Weder davor, noch danach, konnte ich mich so bewegen.
Es werden so viele Ressourcen frei, damit hat man die Möglichkeit sich ganz dem Gehen hinzugeben. Man begibt sich in den Fluss des Lebens. Der Stoffwechsel wird angeregt und man fühlt sich freier. Es war ein für mich bedeutender Schritt zurück ins Leben.
Wieder mehr auf meine innere Stimme hören, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Das ist besonders wieder wichtig zu Hause, wo ich darauf vertrauen darf, zu wissen was mir gut tut.
Das Gehen spielte somit in vielen Bereichen eine Rolle. Achtsames Gehen wurde täglich praktiziert. Es tat unendlich wohl. Gehen und nichts zu denken.
Mich zu finden bedeutete, erst einmal leer zu werden. Es wurde mein schönstes Erlebnis am Camino - nämlich an nichts zu denken! Ich konnte leer werden.
Seit zweieinhalb Jahren denke ich, wenn ich die Augen aufmache und höre zum Denken auf, wenn ich die Augen schließe. Ich muss zwar noch für die Bewegungen des Gehens denken, aber jeder Gedanke darüber hinaus fiel weg. Mein Geist kam erstmals seit langem zur Ruhe.
Der Körper meldete mir allerdings sofort, wenn etwas nicht stimmte. Kamen Gedanken auf, reagierte der Körper mit Schmerzen. Meistens waren es Hüft- oder Beinschmerzen. Sie repräsentieren ja quasi den geraden Gang durchs Leben. Ich realisierte bald, dass mit dem Einstellen dieser Gedanken auch der Schmerz verschwand. Es war faszinierend, dass so direkt zu erfahren und mir dessen bewusst zu werden.
Seit dem Hirnabszess lebe ich praktisch nur im HIER und JETZT. Dass was ich in den letzten zwei Jahren, vor dem Hirnabszess, suchte und nicht fand. Jetzt befinde ich mich gezwungenermaßen den ganzen Tag im Jetzt und ich lebe es.
Im Sport war es ebenso möglich, ganz im HIER und JETZT aufzugehen. Ich kannte zwar das Gefühl, es war mir aber nicht mehr möglich es umzusetzen. Ich war gefangen im Hamsterrad.
Der Jakobsweg zeigte mir wieder, worauf es wirklich im Leben ankommt.
Jeder Kilometer am Jakobsweg war Meditation pur. Ich habe das klassische meditieren im Sitzen kaum praktiziert, im Gegensatz dazu die Geh-Meditation aber öfter.
Am Weg findet man immer wieder Metapher fürs eigene Leben. Jeden Tag findest du etwas, läuft dir etwas über den Weg oder fällt dir was auf, was du als Metapher für dich selbst nehmen kannst.
Als Beispiel nur die Schnecke am Kuhfladen. Die meisten ekelt es davor. Sie sehen nur wie eine schleimige Schnecke über ein Stück Scheiße kriecht. Es kann aber auch die Bedeutung haben: Die Schnecke gleitet sicher auch über Scheiße und bekommt sogar Nährstoffe davon.
Man sieht, alles hat auch andere Seiten. Wir möchten halt nur die Seite sehen, die wir aufgrund früherer Erfahrungen, als wahr erkennen wollen. Es gibt aber mehrere Sichtweisen auf eine Sache und unsere muss nicht stimmen.
Das sollten wir anerkennen.
Ich wurde quasi in die Achtsamkeit gezwungen und sie mir auferlegt.
"Denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dass sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht."
Johann Wolfgang von Goethe
Wahre Achtsamkeit im täglichen Leben, wurde zu einem Schlüsselerlebnis am Jakobsweg. Meine Behinderungen erfordern enorm viel davon. Diese Achtsamkeit habe ich am Camino noch besser ins tägliche Leben integrieren können, aber auch Achtsam gegenüber der Natur und meinen Mitmenschen.
Jetzt liegt es an mir, aus diesem am Camino gelernten, etwas zu machen. Zuerst wurde ich durch die Krankheit gezwungen, aber jetzt ist es mittlerweile ein Teil meines Lebens geworden.
"Ich lebe im hier und jetzt. Ich bin das Ergebnis von allem, was geschehen ist oder geschehen wird, aber ich lebe hier und jetzt."
...schreibt Paulo Coelho in seinem Roman Aleph. Wie wahr!
Achtsamkeit bedeutet, bewusst zu leben! Eigentlich einfach, wenn es nicht so schwer wäre. Oder?
Der Jakobsweg hatte für mich eine vielfältige Funktion. Er zeigte mir die Wichtigkeiten des Lebens als Metapher am Weg. Besonders das Denken nahm eine besondere Rolle ein.
Ich liebte es früh aufzustehen und den erwachenden Morgen am Weg zu erleben. Immer wieder fand sich ein neues Farbenspiel in meinem Rücken wieder.
Das schönste was ich vom Jakobsweg an Erfahrung mitbringen durfte, war mehr über das Denken zu erfahren.
"Es ist ein sehr tiefer und schöner Zustand des Glücks, wenn wir nicht mehr denken können, weil wir so sehr das Leben genießen, das in uns fliest."
Hans Kruppa
Diesen Spruch fand ich in einem alten, vergilbten Buch mit Gedichten von Hans Kruppa. Es lag in einer Herberge und ich schrieb mir verschiedene daraus ab.
Er hat mich deswegen so angesprochen, weil ich am Jakobsweg nicht denken brauchte und mich ganz dem Gehen widmen konnte. Die letzten zweieinhalb Jahre waren oft sehr schwierig für mich, da mir das Denken besonders viel Anstrengung abverlangte.
Vielleicht konnte ich am Weg deswegen nicht denken, nicht weil ich es nicht kann, sondern weil ich in der Zeit des Gehens so glücklich war, dieses Leben so genießen konnte und nach langer Zeit wieder einmal im Fluss war. Ich wurde durch nichts abgelenkt.
Daher stieg die Gehleistung auch gleich an, weil ich viel Energie sparte. Das war schön zu beobachten und zu erleben.
Draußen am Land fühlte ich mich wohl. Wie auch in meiner Heimat rund um Graz, stressen mich besonders die Städte. Ich hielt mich unterwegs nie lange auf und zog die Einsamkeit der Natur vor.
In den Städten, aber auch Dörfern, zeigten einem meist die gelben Pfeile den Weg. So fand ich auch durch die größeren Städte recht schnell wieder hinaus.
Draußen unterwegs zu sein, war mit nichts zu vergleichen. Dort lebte ich auf.
Da ich zur Zeit auf Reha bin, kann ich nur eingeschränkt schreiben. Demnächst also wieder mehr und ausführlicher. Besonders meine Erkenntnisse vom Camino France möchte ich mit Euch teilen.
Gehen am Camino France kann sehr abwechslungsreich sein. Die Gegend, die Farben und die Gerüche wechseln immer wieder. Er bietet jeden Tag ein neues Thema an. Themen, die als Metapher für das Leben zu Hause stehen.
Das hier erzählte kommt alles aus meiner Erinnerung. Am Camino bin ich ja kläglich daran gescheitert, ein Tagebuch zu führen. Handschriftlich ging überhaupt nichts. Da ich limitiert bin mit dem Schreiben, es wird nach wenigen Sätzen unleserlich, habe ich nicht viel getan.
Selbst mein Tablet verwendete ich selten, denn mein Ziel war es, den Kopf frei, bzw. leer zu bekommen. Einzig die Fotos sind mir eine große Hilfe, mich an viele Ereignisse zu erinnern.
Einzig auf Instagram schrieb und postete ich. Das war mein Tagebuch, um mich an die Wichtigkeit des Tages später erinnern zu können. Denn ganz ohne Denken ging es nicht. Der Journalist in mir kam dabei zum Vorschein. Schreiben wollte ich darüber, aber eben auf meine Art und wie ich es derzeit kann.
In der Reha habe ich jetzt Gelegenheit meine Reise aufzuarbeiten und versuche es niederzuschreiben. Wichtig waren aber die Erlebnisse in meinem Inneren.
Gehen hat vielfältige Funktionen, das wusste schon Hippokrates. In einigen seiner Zitate kommt es vor.
Für mich hat das Gehen eine große Bedeutung. Gerade der Jakobsweg zeigte es mir sehr gut. Es war mein Hauptbestreben nach dem Hirnabszess, wieder Gehen zu lernen und eine Motivation zum Jakobsweg zu kommen. Laufen fällt aufgrund der neurologischen Defizite derzeit aus.
Verschiedene Leitungen für die Übertragung der Laufbewegung können diese Impulse nicht so schnell übertragen. Daher sind alle schnellen Bewegungen für mich derzeit nicht möglich. Daher auch die Schwierigkeit damit, über Wasserlacken zu springen.
Der Jakobsweg bot mir die Gelegenheit, das Gehen von allen möglichen Seiten zu erfahren. Besonders eindrucksvoll wurden die langen Geraden, in denen man monoton dahin schreiten konnte oder die bergauf, bergab Strecken. Es gibt täglich etwas, was dir der Weg mitteilen möchte. Auf Instagram kann man erkennen, was gerade am Tag (m)ein Thema war.
Zu erkennen, wie es mir im Moment geht, war besonders eindrucksvoll. Einen Schmerz hier, einen Schmerz da, hatte ich meistens nur dann, wenn sich Gedanken einstellten. Waren die Gedanken leer beim GEHEN, hatte ich auch keinen Schmerz. Es zeigte mir, wie sehr uns Gedanken auf etwas hinweisen möchten. Schaue ich nicht hin, kommt Schmerz. Ist es (wirklich) nicht mehr wichtig, also konnte ich loslassen, war auch der Schmerz weg. Erstaunlich, das zu erleben.
Ich bin oft in eine Geh-Meditation gefallen, obwohl ich kein Mensch bin, der oft oder gar regelmäßig meditiert. Trotzdem bin ich ein meditativer Mensch, aber eben nicht im Sitzen. Auf dem Jakobsweg konnte ich viele Stunden damit verbringen.
Gerade beim Meditieren ist es oft eine Herausforderung, an nichts zu denken. Immer wieder zum Atem zurückzukommen, wenn man abschweift. Für mich war es gar nicht so schwer, Gedanken beiseite zu lassen und nur zu gehen. Es war eine Wohltat, nach einer so langen Zeit des Therapierens an nichts denken zu müssen. Es war mein erster Urlaub für das Gehirn seit über zwei Jahren. Mein Gehirn-Muskel konnte erstmals entspannen.
Es war faszinierend zu sehen, wie viel Energie täglich für Denken draufgeht. Oft sind es Gedanken, die uns nicht guttun. Zu Hause zum Beispiel zu viele Gedanken über die Zukunft, die ich aber eh nicht denken kann. Wenn ich unterwegs zu viel dachte, konnte ich einfach nicht so weit gehen, ganz einfach. So habe ich auch Konversationen, wofür ich zu viel denken musste, vermieden. Und schon konnte ich weiter gehen.
Die schönste Zeit verbrachte ich auf der Meseta. Eine meist flache Hochebene mit ein paar Hügeln, wenig Schatten, langen Geraden und großer Hitze. Hier konnte ich die Geh-Meditation immer wieder anwenden. Der Jakobsweg führt durch die Nord-Meseta von Burgos nach Leon. Ein besonderes Erlebnis.
So wurde GEHEN zu meiner Medizin am Jakobsweg.
Ich spreche hier vom Camino France, dem bekanntesten und meist begangenen Weg, von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela.
Der Jakobsweg gilt weithin als anstrengend, schwer und nur für trainierte machbar. Natürlich ist es mit Training leichter machbar, aber im Grunde kann ihn jeder gehen. Das habe ich bewiesen, indem ich mich mit Handicap auf den Weg machte. Man darf sich nur nicht zu hohe Erwartungen setzen.
Ich ging los, ohne einen Anspruch öder Erwartungen zu haben. Es wird ja nur schwer, wenn ich mehr möchte, als mir im Moment möglich ist. In der Regel ist aber alle 5 Kilometer eine Herberge zu finden. Sollte ich also einmal nicht weiter kommen, finde ich überall eine Unterkunft. Oft musste man nur zweimal umfallen und war in der nächsten Herberge auf der anderen Straßenseite.
Es ist allgemein üblich, dass man nur einmal in jeder Herberge nächtigen darf. Dafür gab es deren aber genug und es tat gut, dieses Sicherheitsnetz zu haben. Deswegen war der Camino France für mich auch so ideal.
Da ich die letzten Monate nie weiter als 5 Kilometer gegangen bin, erwartete ich mir auch nichts. Seit dem Hirnabszess übe ich täglich in allen Bereichen. Es ist das Anstrengende, dass ich so viele verschiedene Bereiche des Körpers zu trainieren habe. Irgendwann ist die Energie am Tag erschöpft, egal ob ich denke oder gehe, es wird weniger.
Wie Denken unterschätzt wird, dazu passt der Spruch von Astrid (www.astrimage.at): "...du arbeitest ja eh nicht wirklich, du sitzt ja nur vorm Rechner und denkst...! - Das Leiden der Filmemacher! Es soll aber hiermit gesagt werden, Denken kostet gleich viel Energie wie Bewegung. Das wird sehr unterschätzt.
Meine Beschränkungen habe ich gleich in den ersten Tagen gemerkt und in der Folge vermieden, was nicht notwendig war. Alles Kulturelle fiel daher recht bald unter den Tisch. Kaum Kirchenbesuche in den größeren Städten, alles was mit Menschenansammlungen zu tun hatte und somit auch kein kulturelles Auseinandersetzen mit dem Weg. Ich wollte im Kopf leer werden, um ihn wieder neu befüllen zu können.
Das war natürlich schade, denn es war immer wieder etwas am Weg zu finden. Auch Gespräche mit anderen Pilgern fielen dem zum Opfer. Es kostete einfach zu viel Energie. Die weite freie Fläche außerhalb der Städte war mir lieber.
Auch was die Pilger betrifft, man trifft eh nur auf die richtigen, bzw. die richtig für mich waren. Da waren dann wirklich interessante Gespräche möglich.
Für mich ging es weiter in Richtung Logrono. Kurze steile Anstiege wechselten mit flachen Stücken ab. Jede steilere Steigung bremste mich auf "gerade noch in Bewegung" ab.
Immer wieder ist mir die alte Frau eingefallen, die mir zu Hause, mit vollgepackten Taschen in den Händen, an einer kurzen Steigung, bergauf davon gegangen ist. Ich schnaufte wie ein altes Dampfross und war für meinen Begriff schnell unterwegs. Meine Wahrnehmung war damals aber noch stärker gestört als heute. Ich war damals langsamer als langsam unterwegs. Diese Erinnerung kam immer wieder hoch.
Bei Steigungen musste ich extrem zurückschalten. Da kommen wieder die Erwartungen und die Achtsamkeit ins Spiel. Jeden Schritt musste ich entsprechend Achtsam angehen und darf nicht anfangen Erwartungen zu haben. Beim Bergauf gehen war meine ganze Konzentration beim Gehen. Über die Tage und Wochen ist so eine schöne Zeit zusammen gekommen, in der ich, unter anderem, Achtsames Gehen praktizierte.
Alle paar Tage war eine größere Stadt zu durchqueren. Logrono war die nächste, die Hauptstadt Riojas. Knapp vor Logrono traf ich auf drei Pilgerinnen. Zusammen machten wir uns an die Durchquerung. Zunächst ging es auf Asphalt über kleine Wege und Straßen dahin. Vorbei an großen Weinkellereien, standen wir bald am Eingang der Stadt, die wir über eine große Brücke betraten.
Ich konnte ein bisschen die Stadt anschauen, weil ich mich nicht auf die Pfeile und das Suchen des Weges konzentrieren musste. Sogar eine Kirche betrat ich. Es ging soweit alles gut, aber ich bemerkte den Unterschied, wenn ich, im Gegensatz dazu, in der freien Natur unterwegs bin.
Den obligatorischen Kaffee genoss ich noch und schon gingen wir wieder aus der Stadt raus. Draußen wartete eine elend lange Allee mit einem Stausee am Ende.
Es war einer der heißesten Tage bisher und unsere Gruppe verlor sich aus den Augen. Es ging jeder seinen eigenen Schritt und man traf sich sowieso immer wieder.
Ich saß gerade unter einem der spärlichen Bäume zum Ausrasten, als ein Auto den holprigen und staubigen Weg vorbeifuhr. Es verlangsamte bei mir, damit ich nicht im Staub versank. Vorbeikommende Pilger erzählten von einem Filmteam, die eine Doku über den Camino machten. Sofort wurden in mir Erinnerungen wach.
Am folgenden Berg flog plötzlich eine Drohne über uns. Ich war mit der Pilgerin Christina unterwegs, da wir beide etwa dasselbe Tempo drauf hatten. Es war landschaftlich eine beeindruckende Gegend, kein Wunder, das sie hier Flugaufnahmen machten. Oben angekommen hatten wir sie plötzlich vor uns.
Die drei kamen aus Brasilien und produzierten eine Doku über den Jakobsweg. Ein Pilger, der mir schon öfter aufgefallen ist, wurde von ihnen begleitet und in diversen Einstellungen gefilmt.
Es ergab sich ein kurzes Gespräch unter "Kollegen" und wir stellten uns noch für ein paar Film- und Fotoaufnahmen zur Verfügung, damit sie ihre Geräte einstellen konnten.
Es wurde für mich die Motivation und Herausforderung, über ein Filmprojekt am Jakobsweg nachzudenken. Nur drei Monate vor dem Hirnabszess hatte ich mit Alexander Rüdiger beschlossen, dieses Projekt im Frühjahr durchzuführen. Ich kam mit den Gedanken zwar nicht weiter, aber es war zumindest ein Hinweis, darüber nachzudenken. Es fühlte sich jedenfalls gut an und verdient weiterer Beachtung.
In der nächsten Ortschaft Ciurena wollten wir die Herberge nehmen. Zuvor ging es aber noch am Golfplatz vorbei. Völlig unwirklich stand er plötzlich inmitten der Gegend. Aber noch unwirklicher war das dahinter.
Mehrstöckige Gebäudereihen standen in großer Anzahl. Allerdings unbewohnt. Eine Geisterstadt wie ich sie noch nie gesehen habe. Dazwischen einige bewohnte Doppelhäuser. Hochhausgerippe standen am Horizont, umgeben von Nirgendwo. Es war Gespenstisch.
Mitten in der Pampa dürfte vor einigen Jahre eine Immobilienblase geplatzt sein. Traurig das anzusehen.
Am nächste Tag spazierte ich 7 Kilometer in die nächste Stadt Santa Domingo, wo ich mir einen Ruhetag verordnete. Ich wollte meinen Körper und Gelenken Ruhe geben und sie nicht überstrapazieren.
Ich besorgte zum Essen Brot, Oliven, Fisch aus der Dose und Apfelsaft. Mit einem Café Solo ließ ich es mir gut gehen und genoss den Tag.
Leider hatte ich meine Kappe in der Stadt verloren, aber in einem Souvenir-Shop fand ich einen günstigen Ersatz. Früh am Abend ging ich schlafen, denn ich wollte noch vor Sonnenaufgang wieder unterwegs sein.
Die ersten Tage am Camino waren für mich und meine Emotionen oft schwer zum Einordnen. Der Abszess saß am Thalamus und störte somit die Steuerung desselben.
Die letzten 2 Jahre verbrachte ich unter anderem damit, diese Emotionen wieder selbst steuern zu lernen, mir dessen bewusst zu werden.
Die Überquerung der Pyrenäen war aber zu viel. Immer wieder kämpfte ich mühsam mit mir, diese Emotionen in den Griff zu bekommen. Zum Glück waren es positive, die hatte ich leichter im Griff. Es ist aber schwer zu beschreiben. Immer wieder kamen mir die Bilder der letzten Jahre hoch. Ein Auf und Ab.
Im Oktober letzten Jahres hatte ich einen Filmbeitrag auf Puls4 über mein Schicksal. Ich sah mich damals zum Ersten mal selbst gehen. Diese Bilder kamen mir immer wieder. Wie ich unsicher und unbeholfen über die Wege stolperte. Damals war so viel noch nicht möglich. Wichtig war aber, dran zu bleiben!
Drangeblieben bin ich. Das Gehen ist noch mit Schwierigkeiten verbunden, aber nichts kann mich davon abhalten, mehr zu wollen. Nervensachen sind eine eigene Geschichte. Oft bin ich mir nicht sicher, habe ich mich verbessert oder nur besser damit umgehen gelernt. Habe ich mich nur daran gewöhnt?
Zunächst durchquerte ich Pamplona und danach ging es durch das Weinbaugebiet Rioja. Meist Hügelig, dann mal wieder flach.
Besonders die kurzen steilen Anstiege stellten eine Herausforderung dar. Bergab hatte ich das Gefühl, die Erdanziehung zog mich hinunter. So schnell konnte ich gar nicht, die Beine machten nicht mit. Langsam und bedächtig musste ich auch bergab auftreten. Ich kann zwar gehen, aber wenn zu große Kraft auf die Oberschenkel eintrifft, knicke ich leicht ein. Daher geht auch Laufen noch nicht.
Bergauf war genauso schwer. Schritt für Schritt ging ich nach oben. Die Erdanziehung wirke genau in die andere Richtung. Der Rucksack wurde immer schwerer und wie ein Höhenbergsteiger stapfte ich nach oben. So erklomm ich eine Steigung nach der anderen. Die Pausen wurden mehr.
Oben angekommen wurde ich wieder nach unten gezogen zu werden. Dieses Spiel wechselte sich immer wieder ab. Gewöhnt habe ich mich bis heute nicht daran. Die Schwerkraft spüre ich besonders stark.
Bald nach Pamplona ist ein Gebirgszug zu überqueren. Er bildet eine Wetterscheide in der Gegend und so kann es an einer Seite regnen und an der anderen die Sonne scheinen. Bekannt ist er aber für seine Windräder und ein Denkmal am Pass.
Ich schnaufte schwer hinauf, mich wieder Schritt auf Schritt konzentrierend. Step by Step sollte mich noch den ganzen Weg begleiten.
Abgelenkt wurde ich nur durch ein Reiben im Schuh. Sofort blieb ich stehen und sah nach. Eine gerötete Stelle war vorhanden, Blasen aber bin ich von den Schuhen nicht gewohnt. Es war eigenartig.
Beim genaueren Nachschauen entdeckte ich dann, dass ein Teil der Polsterung fehlte. Rund, wie ausgeschnitten war sie. Das war zu blöd. Sofort kam es mir. In der letzten Herberge hatte ich als einziger keinen Platz auf der Schuhablage. So stellte ich sie daneben auf den Boden. Ein fataler Fehler.
Eine Maus nahm das Angebot an und besorgte sich Polstermaterial für ihr Nest. Für sie gut, für mich aber blöd gelaufen.
Ich nahm mein erstes Blasenpflaster und klebte zur Vorsicht die Ferse ab. Am Anfang noch ungewohnt, hatte ich dann aber bis zum Schluss keine Probleme mehr damit. Nochmal gut gegangen.
Am Passübergang steht ein markantes Denkmal. Ein Wind blies über die Kuppe, dass einem Hören und Sehen verging. Ein paar Fotos noch und dann ab in den Abstieg. Vor lauter konzentrieren auf den Weg, habe ich die Emotionen vergraben. Erst später kamen sie hoch, als ich schon wieder im Abstieg war.
Steil und felsig führte der Weg nach unten. Ich musste es langsam angehen. Gerade die Kraft in den Oberschenkeln wollte nicht und nicht mehr werden. Gehen ging, aber ein Ausfallschritt und selbst zu große Schritte, waren mir noch immer nicht möglich. Bergab konnte ich es nicht laufen lassen, sondern musste wirklich, Schritt für Schritt, bergab steigen.
So hatte ich mit Herausforderungen zu tun und aufgrund der Langsamkeit nicht nur bergauf, sondern auch bergab mit dem Gleichgewicht zu kämpfen.
Die nächste größere Stadt war Puenta de la Reina. Eigentlich sollte es ein Etappenziel sein, aber bei der Durchwanderung war es größer als gedacht.
Die Entscheidung war sofort klar, ich gehe weiter bis zur nächsten Herberge. Weder den üblichen Kaffee, noch etwas zum Essen, genehmigte ich mir. Mir war einfach zuviel Trubel.
Ich besuchte noch die markante Brücke in der Stadt und machte mich dann auf in die nächste Herberge, außerhalb der Stadt. Ich verwechselte allerdings rechts mit links und war plötzlich auf dem Weg in die nächste Ortschaft. Das Problem ist, dass ich dauernd rechts und links verwechsle. Sollte ich den Kilometer wieder zurück gehen?
Ich entschied mich dagegen und ging weiter auf dem Camino, sechs Kilometer zum nächsten Dorf. Ich war mir aber unsicher, ob das klug war. Bergige sechs Kilometer waren für mich noch eine Ewigkeit.
Wenig außerhalb nach Puenta de la Reina traf ich auf Theo. Mit seinen 74 Jahren ging er guten Schritts dahin. Es passte gut und so gingen wir die nächsten Kilometer zusammen. Er erzählte mir aus seinem Leben und ich aus meinem. In seinen Anekdoten war so viel Weisheit drinnen, Weisheit aus 74 Jahren eben.
Es sind oft nur kurze Augenblicke am Camino, die wir mit anderen Menschen teilen. Aber diese können umso nachhaltiger sein.
Danke Theo, dass ich dich kennen lernen durfte!
Bereit für die Reise mit Handicap?
Ich hatte keine Antwort darauf und suchte auch nicht danach. Ich buchte den Bus kurzfristig, setzte mich hinein und fuhr los. Bereit oder nicht, ich war unterwegs.
Die Fragen waren aber da:
Fragen, auf die ich doch keine Antworten hatte. Besser gesagt, keine Antworten finden konnte. Denn mein Gehirn verweigerte noch jede Arbeit.
Ich konnte nicht denken und war innerlich leer. Diese Leere wollte ich aber im Kopf. Denn dann hatte ich die Chance, ihn neu zu befüllen. Ob ich bereit war, sollte sich zeigen.
Der Bus war eine gute Wahl. Ich brauchte zwar zwei Tage bis nach Saint Jean Pied de Port, aber so hatte ich Zeit hin- bzw. anzukommen, auch im Kopf. Alles was langsam geht, tut mir gut. Bus ist besser als Flugzeug. Am liebsten wäre ich von zu Hause losgegangen.
Mein Reisegepäck bestand aus einem 30 Liter Rucksack und das war es. Ich verwendete fast nur Material aus dem Trailrunning Bereich, das ich noch von früher hatte. So brauchte ich mir nichts zu besorgen. Als Rucksack verwendete ich eine Superleicht Version, den ich früher bei meinen Filmproduktionen am Berg verwendete. Er wog ca. 500 Gramm.
Ich nahm nur das notwendigste mit. Drei T-Shirts, eine Fleecejacke, eine dünne Daunenjacke, 2 lange und eine kurze Hose, Haube, Handschuhe, 4 Paar Socken, Regenhose und -jacke, ein langes Unterleibchen, Lauf- und Crocks Schuhe. Mit den Crocks konnte ich auch zur Not gehen. Dazu einen superleichten Schlafsack, Sonnenbrillen, Kontaktlinsen, Handtuch, und verschiedenes Kleinzeug. Das Schwerste an allem war mein Tablet mit Tastatur. Ich kann noch immer schlecht mit der Hand schreiben, sondern tippe alles per Tastatur.
Der Rucksack war zwar leicht, aber aufgrund meiner körperlichen Verhältnisse fühlte es sich an wie 20 Kilogramm. Das behinderte mich vor allem bergauf. Jede noch so kleine Steigung meisterte ich im Tempo eines Höhenbergsteigers.
Allerdings war doch einiges unnötige dabei. 800 Gramm schickte ich bei nächster Gelegenheit per Post nach Hause. Somit hatte ich unter 6 kg als Rucksackgewicht. Dazu kam noch die Verpflegung.
Ich war verblüfft. Der Rucksack wog nur knapp 6 kg und sollte für die nächsten Wochen mein Zuhause sein. Was ich zum Leben brauchte, passte also in einen kleinen Rucksack und es ging mir nichts dabei ab. Wäre ich ein Jahr weggefahren, mein Rucksack hätte kaum anders ausgeschaut.
Die erste Etappe ging über die Pyrenäen und war somit gleich meine erste Herausforderung. Zunächst noch ins Tal sehend, ging es immer höher, wo der Nebel auf mich wartete und alles verschluckte.
Eine Pilgerin, 20 Meter vor mir gehend, verschwand im Nebel. Er war streckenweise so dicht, dass ich gerade die Füße vor mir sah. Es gab diverse Kreuze oder Wegweiser, aber bei dem Nebel konnte ich nichts erkennen.
Die Grenze zu Spanien ging Emotionslos an mir vorbei, ich war so auf das Gehen konzentriert. Von Orrison waren es 19 km, die ich unbedingt schaffen musste, da es keine Nächtigungsmöglichkeit gab. Mein Geist war voll und ganz darauf programmiert das Kloster Roncesvalles zu erreichen.
Zumindest den Rolands-Brunnen konnte ich sehen. Schon Karl der Große ist ist seinem Heer hier entlang gezogen.
Der Nebel besserte sich beim Abstieg, nicht jedoch der Weg. Über frisch ausgewaschene Pfade ging es talwärts. Nach 7 Stunden erreichte ich das alte Kloster.
Ich war müde und erschöpft, aber gut gelaunt. Hatte ich doch die schwierigste Etappe für mich gemeistert. Es war einfach unglaublich. Ich fand keine Worte.
Im April 2016 war ich noch gelähmt, konnte weder Zähne putzen, nur mit Mühe eine Gabel halten und Gehen ging gar nicht. Bis August 2016 war ich im Rollstuhl unterwegs. Langsam wurde es mir bewusst. Die Emotionen, die ich am Weg ausschalten musste, kamen jetzt hervor. Ich lag in meiner Koje und dicke Tränen liefen mir runter.
Das monatelange Training und Üben hatte sich ausgezahlt. Eigentlich hatte ich keine andere Chance, denn nicht zu Üben hätte Aufgeben bedeutet und das kam auf keinen Fall in Frage. Ich stolperte und schlurfte zwar mehr dahin, als das ich ging, aber dieses Gefühl unterwegs zu sein konnte mir niemand mehr nehmen. (zum Beitrag Gehen und Pilgern als Zwischenziel)
Von jetzt an fand ich im Durchschnitt alle 5 Kilometer eine Herberge. Ich war glücklich, mit den Pyrenäen meine größte Herausforderung geschafft zu haben. Nachdem dieser Druck weg war, konnte ich nur mehr genießen.
Die Tage danach ging ich mal mehr, mal weniger.
Ich schaltete jeden Gedanken aus, das schlug sich in Gehleistung nieder. Es war für mich ein neues Erlebnis. Dieses Nicht-Denken tat so gut. Zu Hause war das nicht möglich gewesen, zu viele Ereignisse prallten auf mich ein. Das Üben, Arztbesuche, die Kinder mit der Schule, die Beziehung - alles wurde mir zu viel.
Beim Gehen am Jakobsweg konnte ich zum Ersten mal abschalten, wie ich es bisher noch nie erlebt habe.
Im Krankenhaus konnte ich keine Treppen hinuntersteigen. Im Tagebucheintrag schrieb ich im Juli 2016:
"Zum ersten mal 4 Stufen hinunter gestiegen. Konnte den oberen Fuß nicht abheben, bevor ich mit dem anderen nicht auf der unteren Treppe stand. Zerrungen in der Wade war die Folge."
Ich brauchte damals Wochen, bis ich die ersten Stufen steigen konnte.
Und jetzt hatte ich die Pyrenäen überquert. Ich konnte es gar nicht glauben, es fühlte sich alles so unwirklich an.
Am nächsten Tag in der Früh verzichtete ich auf das Frühstück und ging schon beim ersten Licht los. Ich genoss die Morgenluft im Wald, ging über vom Regen befeuchteten Waldboden, wich Regenpfützen aus und hörte den Vögeln im Wald zu. Ich fühlte mich total wohl. Zum Ersten mal seit dem Hirnabszess war ich wirklich bei mir und fühlte mich dem Leben wieder näher.
Ich freute mich als ich Pamplona erreichte. Allerdings war die Stadt für mich schwer auszuhalten. Der Tunnelblick setzte ein und ich musste mich stark konzentrieren. Tunnelblick heißt, wie mit einer Stirnlampe in der Nacht unterwegs sein. Der Blick verengt sich und ich nehme um mich nichts mehr wahr. Ich musste vermehrt aufpassen. Unter Stress bekomme ich ihn auch zu Hause in Graz noch.
Verkehr, Fussgänger und den Weg finden, alles zusammen überforderte mich. An der Kathedrale vorbei und das war es auch schon. Mehr konnte und wollte ich von Pamplona nicht sehen und mein Ziel war es, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Auf das Zentrum der Stiertreiber konnte und durfte ich mich nicht einlassen. Es hätte zu viel Energie gekostet.
In einem Park am Ende der Stadt setzte ich mich hin und schnaufte durch. Dass mich eine Stadt so schnell aus der Ruhe und ans Limit bringen konnte, überraschte mich. Ich nahm mir vor, in keiner Stadt zu verweilen und die Etappen so anzulegen, dass ich jede Stadt durchgehen konnte und erst im nächsten Dorf Nächtigte.
Der Weg wurde meine Therapie. Gedanken konnte ich weglassen, allerdings musste ich noch immer verschiedenes andenken. Ständig wurde ich durchs Stolpern erinnert, meine Füße weit genug anzuheben. Bei steinigen Wegen musste ich konzentriert jeden Schritt denken, ich war mit den Gedanken bei jedem Tritt. Das war zuhause auch so.
Allerdings brauchte ich hier über den Tag nie an Dinge denken, die zu Erledigen waren oder mich mit irgendwelchen Problemen zu Hause zu beschäftigen. Ich brauchte mich nur aufs Gehen einlassen. Kontakt mit anderen Pilgern vermied ich die ersten Tage. Ich musste mich erst an Spanisch und Englisch gewöhnen. Das war mir im Moment noch zu viel.
Eines machte mir in den ersten Tagen zu schaffen, nämlich Gatschlacken. Für meine Deutschen Freunde: "Schlammpfützen".
Da die letzten Tage starker Regen gefallen ist, war der Weg gesäumt mit Lacken in allen Größen. Kleinere waren zum Umgehen, die großen standen rechts und links am Weg an und waren nicht zu umgehen. Man musste drüber und durch.
Auf einige wurde in weiser Voraussicht Baumstämme gelegt. Das hieß aber, mehrere Schritte darüber balancieren. Ich konnte mir zwei, drei Schrittfolgen merken, aber mehr nicht. Mit Schwung ging es gut, solange bis ich das Gleichgewicht halten musste. Es war somit vorprogrammiert, dass ich dann rechts oder links hinein gefallen bin. Mein gestörter Gleichgewichtssinn war dafür noch nicht tauglich.
Es wollte einfach nicht gelingen, ohne in den Dreck zu fallen, auf die andere Seite zu gelangen. Auch springen war nicht möglich. Da ich keine Schnellkraft mehr besitze, endete es jedes mal im Schlamm. Gedanklich sprang ich zwar ab, aber es endete damit, dass die Füße nicht mitmachten und ich jedes mal mitten in der Lacke landete.
Für meine Mit-Pilger am Weg war es ein sichtlicher Spaß mir zuzusehen. Den einen oder anderen ließ ich mit fragendem Blick an mir vorbeiziehen. Direkt fragen traute sich keiner. Ich sah es aber als Training an, irgendwann würde es schon funktionieren. Der Nachteil war, jedes mal Schuhe putzen.
Einmal gab es Mausalarm bei mir. Die Schuhe werden in Herbergen immer in Gestellen abgestellt. Für meine Schuhe war aber kein Platz mehr, so stellte ich sie daneben am Boden ab. Beim Anziehen in der Früh und später am Weg merkte ich zunächst nichts, aber nach einigen Kilometern fing es im Fersenbereich an zu reiben. Ich hielt an, um Nachschau zu halten.
Ein großes Loch, wo die Polsterung fehlte, klaffte mir entgegen. Es war nicht abgerieben, sondern sehr gut ausgefressen. Ich holte zur Sicherheit mein erstes Blasenpflaster hervor und klebte meine Ferse ab. Der Maus hat die Polsterung hoffentlich geholfen, denn eine Reparatur oder ein neuer Schuh war bei mir nicht möglich. Ich hatte aber zum Glück die weiteren Wochen keine Probleme mit der Scheuerstelle mehr.
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Da für mich der Alltag noch immer Therapie bedeutet, war auch der Camino France eine Therapie. Allerdings eine alternative. Es wäre schön gewesen, auf Krankenschein hier herfahren zu können 😁, für mich zumindest. Denn es ist noch immer für mich wichtig, in allem was ich mache, mein Handicap zu verbessern.
Vieles in der Reha gelernte und zu Hause verfestigte, konnte ich hier im Alltag anwenden. Eine wohltuende Abwechslung. Aber auch die bestehenden Defizite konnten entsprechend trainiert werden.
Viele Herausforderungen am Weg haben mir geholfen Bereiche zu üben, in denen ich noch Defizite habe und die noch nicht funktionieren.
Mein Hauptgrund hierher zukommen war ja, dass ich Gehen wollte. Allerdings, mit Behinderung auf einen so langen Weg? Ich wusste selbst nicht, was auf mich zukommt.
Nun, ich habe die Herausforderung angenommen. Was unmöglich schien, sollte Wirklichkeit werden. Das Gehen war und ist noch immer eines meiner Handicaps. Ich musste es also vorsichtig angehen und durfte nicht auf zu viel Verbesserung hoffen. Es braucht alles seine Zeit und ich bin ja schon bisher täglich gegangen. Verbesserung stellt sich trotzdem nur langsam ein.
Ein Bestreben von mir war, technisch möglichst gut zu gehen und keine Fehler einreißen zu lassen. Denn solche einmal eingelernten Fehler sind nur schwer wieder zu ändern.
Lange Zeit ging alles gut. Keine Probleme, keine Schmerzen – nur eine einzige Blase, mehr nicht. Ich war – natürlich – gedanklich stark beim Gehen. Denn automatisch lief hier gar nichts.
Jeder Schritt wollte gesetzt, jede Bewegung bewusst geführt sein. Ich achtete auf meine Füße, auf den Boden, auf jeden Tritt. Die ersten Tage war ich übervorsichtig unterwegs, tastend fast, als würde ich mich in unbekanntem Gelände bewegen – was es ja auch war, zumindest für meinen Körper.
Besonders das, wohin ich trat, verlangte meine volle Konzentration. Ich merkte es deutlich in den Tunneln – und davon gab es viele. Meistens war es in der Mitte stockdunkel. Da hieß es: besonders achtsam sein. Ich muss sehen, wo ich hintrete. Ohne diese visuelle Rückmeldung fehlt mir das Gefühl dafür, wie weit der Fuß noch vom Boden entfernt ist. Genau deshalb fällt mir das automatische Gehen noch immer so schwer. Diese Tunnel – sie waren echte Prüfsteine auf meinem Weg.
Was komisch war, hier gingen viele den "Teletubbi-Gang". Es war auch mein Gang, besonders am Anfang und in bestimmten Situationen auch heute noch. Hier sind die meisten vom Gehen überfordert und schlurfen dann dahin.
Besonders lustig wurde es in der Früh in den Herbergen. Viele kamen fast nicht mehr von den Stockbetten herunter. Sie hatten solch einen Muskelkater, Sehnen- oder Bänderschmerzen, dass sie es nur unter größter Mühe schafften.
Regelmäßiges Dehnen und Stretching gehörte bei mir dazu. Alles in meinem Körper muss erst wieder gestärkt werden, daher ist auch dehnen unverzichtbar. Seit dem Krankenhaus habe ich außerdem extreme Verkürzungen, besonders in den Beinen.
In den ersten Tagen war ich besonders darauf bedacht, meine Beweglichkeit zu erhalten. Ich achtete sehr darauf, dass keine Sehnen- oder Bänderbeschwerden auftraten. Aufmerksamkeit auf meine Handicaps legen, war wichtig.
Zum Gehen gehört auch das Gleichgewicht. Besonders steile Stücke sind für mich eine Herausforderung. Umso langsamer ich werde, desto mehr Probleme bekomme ich mit dem Gleichgewicht. Das ist an sich normal, ist bei mir aber nochmals verstärkt. Gerade steil bergauf wanke ich oft von links nach rechts. Zu Hause würde man mich als betrunken abstempeln, hier war es normal.
Die oft kleinen Japaner mit ihren großen Rucksäcken wankten bei jedem Schritt. Daher bin ich gar nicht so besonders aufgefallen. Wie man sieht, alles eine Ansichtssache!
Bei mir ist das gestörte Gleichgewichtsgefühl dafür verantwortlich. Andere Pilger taumeln ebenso dahin. Muskelkater, ein zu schwerer Rucksack oder andere Beschwerden lassen es nicht anders zu. Daher fühle ich mich hier nicht alleine. Der Unterschied ist aber, dass sie nach Ablegen des Rucksacks oder der entsprechenden Erholung wieder fit sind, bei mir bleibt es beständig.
Nach Pausen, die ich sitzend oder liegend verbringe, richte ich mich langsam auf, um nicht schwindlig zu werden. Dieses Leiden ist noch immer da und begleitet mich seit dem Krankenhaus. Damals, am Beginn, konnte ich mich oft nur 10 Minuten aufrecht halten. Das habe ich seither immer mehr ausweiten können, aber ich muss noch immer aufpassen und mich langsam aufrichten.
Hineingehen in eine Steigung erfordert eine Neupositionierung des gesamten Körpers. Der (schwere) Rucksack mit seinen 6 bis 7 kg, tut seines dazu bei. Schwer ist natürlich relativ. Eigentlich ist es leicht, aber ich hatte immer das Gefühl, 20 bis 25 kg zu tragen. Immer wieder war ein Anpassen der Winkel im Körper, passend zur Steigung des Weges und des Untergrunds notwendig. Das musste ich immer bewusst machen. Meine gesamte Automatisation ist verloren gegangen.
In Leon passierte mir dann auch ein folgenschwerer Fehler. Dort waren extrem viele schräg hängende Gehsteige. Absolutes Gift für meine Sprunggelenke. Zuerst merkte ich nichts, aber außerhalb Leons begann ein eigenartiges Ziehen in Gelenk und Schienbein.
Es war wie mit Skischuhen auf einer schrägen zu gehen. Man hält es nicht lange aus. Ähnlich erging es mir. Ich war unvorsichtig geworden. Immerhin hatte ich schon fast 500 Kilometer ohne größere Probleme zurückgelegt. Das sollte sich rächen.
Am nächsten Tag spürte ich einen eigenartigen Schmerz, konnte ihn aber nicht deuten. Ich legte noch 40 km in Etappen zurück, um dann festzustellen, dass sich eine Sehnenscheidenentzündung bemerkbar machte. Die ungewohnte Bewegung über wenige Kilometer bescherte mir das Aus.
Unter Umständen wären mir mehrere Wochen Ruhepause bevor gestanden, wäre ich weiter gegangen. Da die letzten 250 km nach Santiago bergig sind, entschloss ich mich nach Astorga zurückzugehen und den Camino zu beenden. Da meine Reha bald anfängt, wollte ich nichts riskieren.
Schade, aber ich darf dankbar sein, so weit gekommen zu sein.
Mir fehlt nach wie vor die Feinmotorik. Alles fummelige bereitet mir Probleme. Ein besonderes Training bescherten mir eingewickelte Zuckerln. Ich brauchte für jedes mehrere Minuten, um das mit Papier ummantelte zu öffnen. Es war gleichzeitig eine gute Übung für automatisiertes Gehen, da ich mit meiner Aufmerksamkeit beim Greifen war. Training pur also! Meine Ergotherapeutin hätte eine Freude mit mir gehabt.
Überhaupt war das Greifen schwierig. Am gemeinsamen Essen beteiligte ich mich nicht oft. Schüsseln wurden herumgereicht und das stellte mich oft vor ein Problem. Ich konnte sie nicht richtig fassen oder weiterreichen. Ungelenkig und potschert stellte ich mich an. Zu erklären, dass ich krank war, ist mir nicht möglich gewesen. Vor allem nicht in den verschiedenen Sprachen. So vermied ich es einfach, es war das leichteste für mich.
Das Denken muss ich unterteilen, da es verschiedene Bereiche oder Umstände gibt.
Ein wichtiger Punkt ist mir gleich aufgefallen. Ich wollte ja Gehen, um im Kopf leer zu werden. Leer werden heißt aber, NICHT denken. Das tat ich und diese gewonnene Energie setzte sich in vermehrter Gehleistung nieder.
Gar nichts Denken konnte ich natürlich auch nicht. Meine Bewegungen musste ich natürlich noch immer andenken. Aber Gedanken über Probleme, was ansteht und vieles andere, sind weggefallen. Und diese frei werdende Ressource zeigte sich in Gehleistung.
Es ist eigentlich ganz einfach, hatte ich aber im Vorfeld nicht bedacht. Ich habe über den Tag eine bestimmte Menge Energie. Egal ob ich denke, gehe oder sonst wie bewege, diese Energie wird weniger. Da aber das Denken über die Probleme zu Hause wegfielen, blieb einfach mehr für das Gehen über.
Noch ist die Energie schneller vorbei, als der Tag Stunden hat. Daher spüre ich diese Veränderung sehr stark. Das war auch ein Hauptgrund für manch einen Zweifel vorher, ob ich überhaupt schon fahren kann. Ich musste halt aufpassen, diesen Punkt nicht zu übersehen, denn dann kann es mühsam werden.
Ich muss denken, um vorwärts zu kommen. Die Orientierung am Camino war nicht so schwer. Überall weisen gelbe Pfeile oder die Jakobsmuschel den Weg. Nur ganz selten war ich im Zweifel, ob ich noch richtig bin. Da machte mir die andere Art der Orientierung mehr Probleme.
Nämlich die Orientierung wo ich war. Damit war ich überfordert. Das nächste Dorf konnte ich mir gerade noch merken. Aber aus welchem ich herkam oder wo ich hinwollte, dass hatte ich gleich wieder vergessen. Ich wurde immer wieder gefragt, wieweit ich noch zu gehen gedenke. Das konnte ich aber nicht sagen. Mein fehlendes Kurzzeitgedächtnis war daran schuld. Ich hatte kein Gefühl für Distanzen oder merkte mir einen Namen.
Wie ich ein Rezept zum Kochen immer wieder von vorne durchlesen muss, ist es auch mit der Tagesetappe. Immer wieder von vorne. Ich konnte im Reiseführer nachschauen, eine Minute später wusste ich nicht mehr, wohin oder wieweit. Es gab aber nur eine Richtung und die war mit gelben Pfeilen markiert. Und irgendwann musste auch eine Herberge kommen.
Ich ging einfach, soweit mich die Beine trugen. Zu Mittag begann ich nach einer Herberge Ausschau zu halten. Meine Konzentration lässt am Nachmittag stark nach, da wollte ich bereits ein Quartier haben.
Außerdem wurde es am Nachmittag recht heiß. Dem wollte ich mich nicht aussetzen. Während andere noch gingen, legte ich bereits die Beine hoch, obwohl ich die Hitze gut vertrug. Aber ich war meist schon seit frühen Morgen unterwegs, da konnte ich gerne stoppen. Mir lief ja nichts davon und ich hatte ja nicht das Ziel, nach Santiago zu gelangen. Zumindest zunächst nicht.
Erst gegen Ende zeichnete sich ab, dass ich den Camino France doch in Santiago beenden könnte. Allerdings durften keine Zwischenfälle vorkommen, was ja bekanntlich anders endete.
So reduzierte ich das Denken auf ein Minimum. Ich verfiel oft in ein meditatives Gehen. Keine Gedanken, kein durchspielen von Möglichkeiten, nichts. Denken und Gedanken, ein Mysterium. Mit Gedanken habe ich sowieso noch meine Probleme. Es sind mir noch keine weiterführenden Gedanken möglich.
Eine gewisse Konzentration war notwendig. Für das Gehen, das Bewegen und für die Orientierung habe ich sie gebraucht. Alles andere versuchte ich zu vermeiden.
Angestrengte Gespräche und Diskussionen am Abend unter den Pilgern führte ich keine. Das kostete mir zu viel Energie. Außerdem wurden meist zwei, drei Sprachen am Tisch gesprochen. Das war mir zu anstrengend und ich verzog mich in mein Bett. Ich ordnete alles dem Gehen unter.
Spanisch überforderte mich von Anfang an. Es war so anstrengend, dass ich mein Spanisch Wörterbuch bei nächster Gelegenheit nach Hause schickte. Wenn, dann musste Mr.Google herhalten. Einzig Englisch zu sprechen ging, war aber trotzdem schwer für mich. Ich konnte vielen Gesprächen nicht folgen, selbst Sprechen stellte oft ein Handicap dar.
Ein paar Pilger wussten über meine Probleme Bescheid. Sie gingen auf meine Problematik ein und halfen mir immer wieder. Mit ihnen ging ich auch ein Stück des Weges oder traf sie alle paar Tage wieder.
Es tat mir oft leid, dass ich vielem nicht folgen konnte und mich oft zurückzog. Aber es ging nicht anders, mein Hauptaugenmerk lag beim Gehen. Etwas anderes war mir nicht möglich.
Ich musste Energie einsparen, wo ich konnte. Mir war klar, dass ich vieles nicht erleben konnte, was den Camino ausmacht. Aber ich war ja wegen etwas anderem hier und dieses Erleben war genauso wertvoll. Wie man den Camino auch angeht, man wird so akzeptiert, wie man es möchte. Jeder kommt mit einer eigenen Motivation her.
Besonders die Städte mit ihren alten Bauten und Kirchen sind sehr schön und sehenswert. Ich möchte unbedingt wiederkommen, um auch dieses "andere" am Camino zu erleben. Gerade die Städte und Dörfer haben einen eigenen Flair, den ich nur am Rande wahrnekmen konnte.
Nun, in diesen Bereichen lagen meine Defizite am Weg. Ich habe mit meiner Behinderung und Handicap zu leben. Das ist eben anders wie früher.
Die Kultur und die Sonnenaufgänge waren zwei sehr konträre Dinge, die mich am Weg beeindruckten.
Die Kultur ist zweifellos beeindruckend, jedoch war sie in meinem Zustand nicht aufnehmbar. Ich konnte keine Kathedrale oder Kirche besichtigen, so gerne ich das auch getan hätte. Die vielen Menschen und dem Trubel bin ich, wo es ging, ausgewichen.
So wurden die kleinen Kirchen am Land das für mich liebste. Oft waren sie allerdings geschlossen. Es tat gut, in der Hitze des Tages, für eine Viertelstunde Zuflucht in der Kühle einer Kirche zu finden. In der Ruhe konnte man entspannen, sich sammeln und wieder auf den Weg vorbereiten.
Es stehen viele Kreuze am Weg. Ich nahm sie zum Anlass, kurz zu rasten. Es gab sie in allen Variationen und Größen. Oft sah man sie schon von weitem, hatte aber noch ein gutes Stück dahin zu gehen. Meist waren sie umgeben von Bäumen, daher für die Rast gut geeignet.
Beeindrucken waren auch die Brücken, die beinahe in jedem Dorf oder Stadt das Stadtbild beherrschten. Jede einzige hervorragend gebaut und manche weithin berühmt.
Ebenso sind die vielen alten Gebäude interessant. Egal ob in der Stadt oder am Land. Historische Bauten, Klöster, aber auch alte Pilgerherbergen, die schon seit Hunderten Jahren als solche genutzt werden.
Es war schade dem ganzen nicht mehr Aufmerksamkeit widmen zu können, aber ich musste auf mich und meine Gesundheit schauen. Ich werde sicher noch einmal zurückkehren und mich dann intensiver damit Auseinandersetzen. Für mich hatte das Gehen Vorrang.
Ein ganz besonderes Thema wurden für mich die Sonnenaufgänge. Das geht damit einher, dass die Pilger schon um 5 Uhr morgens anfingen, ihre Rucksäcke zu packen. Einmal munter, hielt auch ich es nicht mehr lange im Schlafsack aus.
Allerdings hatte ich bereits am Vorabend alles gepackt und für das Weitergehen hergerichtet. Auf das Frühstück verzichtete ich und war so schon lange vor den anderen am Weg.
So konnte ich die aufgehende Sonne und das flach einfallende Licht in aller Ruhe genießen und war alleine in der Schönheit der Natur unterwegs. Es war für mich die schönste Zeit am Weg und ein Nebeneffekt war, dass ich zum Frühstück in der nächsten Ortschaft bereits eine Wegstrecke zurückgelegt hatte.
Den Weg in der Finsternis zu finden war nicht schwer. Die allgegenwärtigen gelben Pfeile waren fast überall zu finden und wenn keiner war, musste man nur kurz suchen, bis man ihn fand.
Dazu gab es auch viele Wegweiser mit der Jakobsmuschel. Meine große Sorge der Orientierung war damit gebannt. Verlaufen ist damit fast unmöglich.
Der Plan zum Jakobsweg zu fahren, ist voll aufgegangen. Es tut mir so gut, mal wieder eine andere Luft zu schnuppern und mal was anderes als Therapien zu erleben. Glück und Pech liegen allerdings nah beieinander.
Seit dem Hirnabszess bin ich nicht mehr weggekommen. Nach jetzt über 2 Jahren bin ich Kopfmäßig angestanden. Die nächste Reha steht vor der Tür, ich brauchte unbedingt einmal etwas anderes für den Kopf.
Es ist wunderschön hier, mit so vielen unterschiedlichen Landschaften. Dazu meine Lieblingsbeschäftigung das Gehen. Was will man mehr?
Wie schaut nun mein Tagesablauf aus und was habe ich in Bezug auf meine Handicaps zu beachten?
Ich stehe immer sehr früh auf. Meistens zwischen 5 und 6 Uhr morgens. Da ich schon am Abend vorher alles packe, brauche ich nur die Hose anzuziehen, die Schuhe und den Rucksack zu nehmen und kann losstiefeln.
Auf ein Frühstück verzichte ich, einen ersten Kaffee gibts im nächsten Ort und wenn es gut geht, gibt es ein Croissant dazu. Vom Anfang an nasche ich von Nüssen oder anderem nahrhaftem Kleinzeug.
Die Beine sind noch limitiert, daher brauche ich meist alle 500 Meter eine kurze Pause. Meistens setze ich mich auf einen Camino-Markierungsstein, die immer irgendwo anzufinden sind. So bringe ich Kilometer um Kilometer hinter mich. Alle paar Kilometer gibt es eine längere Pause.
Hier wird dann die Jause ausgepackt oder, wenn ich Glück habe, gibts Café leche mit einer heimischen Spezialität dazu. Ich ziehe immer die Schuhe aus und trockne die Socken und die Einlagen. So bekommen die Zehen auch mal die Sonne zu sehen.
Oft war es nötig, früh zu starten. Denn die Hitze kann recht stark werden. Ab Mittag kann es dann recht ungemütlich heiß werden. Da war es gut, schon eine Herberge in Aussicht zu haben.
Ich schaue sowieso, schon ab Mittag eine Herberge zu suchen, weil meine Konzentration am Nachmittag stark nachlässt. Da ich hier Denkleistung in Geh Leistung umtausche, habe ich kaum mehr Energie für ein Weitergehen. Da heißt es aufpassen, denn die Energie kann recht schnell zu Ende sein. Dann in der Pampa zu stehen wäre blöd.
In der Herberge ist zuerst einmal Duschen angesagt. Danach geht es gleich weiter zum Wäsche waschen. Da ich ja nur mehr zwei T-Shirts habe, muss das getragene gleich gewaschen werden. Meistens ist noch Sonne, so kann es schnell trocknen.
Auch die Socken bekommen ihre Aufmerksamkeit. Ich habe mir ein drittes Paar gekauft, um leichter wechseln zu können. Auch sie werde jeden Tag gewaschen. Socken bekommen hier eine enorme Bedeutung, denn sie können uns den Tag angenehm bereiten oder zur Hölle machen.
Von Blasen wurde ich bisher fast zur Gänze verschont. Blasenpflaster nehme ich trotzdem zur Vorbeugung, nämlich an der rechten Ferse, dort wo die Maus meinen Schuh angeknabbert hat. (Siehe Instagramfeed)
Im Moment bin ich leider auf Zwangspause gestellt. Die Durchquerung von Leon habe ich nicht gut vertragen. Ungewöhnlich viele schräge Gehsteige haben meinen Füssen Muskelkater und eine Entzündung beschert.
Die Folgen des Hirnabszesses waren ja Gefühlsstörungen in Fingern und eben auch in den Füßen. Die vielen Kilometer über Stock und Stein haben mir bisher nichts ausgemacht, daher bin ich unvorsichtig geworden.
Ein paar Meter schräger Gehsteig ist kein Problem, aber die vielen Gehsteige in Leon wurden zu einem großem. Ich war unvorsichtig und dachte mir erst nichts dabei. In der Schräge zu gehen, bedeutet auch den Fuß schräg zu halten.
Ich stapfe aber wie in Skischuhen dahin. Selbst zu Hause sind kurze schräge Gehsteige eine Herausforderung. Versucht mal, ein paar Meter auf einem schräg abfallenden Gehsteig, in Skischuhen, dahin zu stapfen.
Ich überlastete dabei meine Schienbeine enorm. Nur leider merkte ich es nicht gleich. Besonders rechts, wo ich die Lähmungen hatte, war besonders betroffen. Es bildete sich eine Entzündung und die muss jetzt eben abklingen. Daher sind ein, zwei Tage Pause angesagt.
Ich wurde mir zu sicher und erlebe jetzt meine Selbstüberschätzung. Pausen und Ruhetage gehören eben dazu, genauso wie Achtsamkeit dem Weg gegenüber. Das habe ich versäumt.
Wenn es nicht in ein paar Tagen besser wird, werde ich abbrechen und nach Hause fahren. Die Reha in Judendorf steht bevor und wird mir sicher viel bringen.
Meine Erfahrungen vom Camino kann ich dabei gut einbringen. Auf viele Dinge bin ich draufgekommen, die zu Hause, in der geschützten Umgebung, ich so nicht erkennen konnte.
Glück und Pech liegen eben nahe zusammen, aber das Glück und glücklich sein überwiegt.
Es bleibt spannend in meiner Rehabilitation und sie ist noch lange nicht aus.