Meine Durchquerung von Großbritannien ist Wirklichkeit geworden. Mit dem Erreichen von Lands End und mit dem südlichsten Punkt, Point Lizard, habe ich den JOGLE und die Nord/Süd Durchquerung von Großbritannien abgeschlossen.
Warum es diesen geografischen Unterschied überhaupt gibt, hat sich mir bis heute nicht erschlossen und ich habe auch bis heute vergessen, danach zu fragen. Liegen die beiden jeweiligen Punkte, im Norden, wie im Süden, doch nicht so weit auseinander.
Mit dem Erreichen von Lands End durfte ich wieder eine tolle Erfahrung hinter mich bringen, die mir viele neue Erkenntnisse in Bezug auf mein Funktionieren nach dem Hirnabszess brachte und das mir zeigte, dass das Lernen immer weiter geht.
Den Weg mochte ich zuerst mehr unter Rehabilitation einordnen, als unter "wieder Leben lernen". Wobei im Nachhinein gesehen, auch das nicht zu kurz gekommen ist und ich wesentliche Dinge auch geistiger Natur lernen durfte. Solche Weitwanderwege sind ganzheitlich zu verstehen.
Das Schlechtwetter verlässt mich auch diese letzten Tagen nicht. Stürmisch und regnerisch bleibt es, aber es kommt an manchen Tagen doch immer wieder kurz die Sonne heraus. Meine Fotos zeigen deswegen fast immer Sonnenschein, weil ich im Regen nicht immer das Handy zücke, um zu fotografieren.
Das Kaputt werden meines alten Handys, mit der guten Kamera, macht mich vorsichtig. Noch einmal ein neues zu kaufen, kann ich mir finanziell nicht leisten, aber gerade im Regen wird es nass und gleitet mir somit noch leichter aus den Händen. Daher heißt es, aufpassen. Ich habe überhaupt ein sehr geringes Budget, das macht diese Reise für mich sowieso schon besonders.
Wildnis und Wildheit wird mir auf diesen letzten 400 km am SWCP besonders gut vermittelt, aber auch, wie ich sie in meiner Rehabilitation einsetzen kann. Denn Wildnis erdet, etwas, was ich seit dem Hirnabszess brauche. Wildnis möchte auch keine Begrenzungen und sie zeigt mir immer wieder, mit meinen eigenen Begrenzungen umgehen zu lernen. Denn Begrenzungen erlebe ich oft genug aufgrund meiner Handicaps. Damit umzugehen, ist oft nicht so leicht. Sie sind von Außen nicht für jeden ersichtlich und das macht es für mich noch schwieriger.
Die Wildnis zeigt mir auch, wie ich authentisch leben und mit meinen Ängsten umgehen kann, welche Risiken ich eingehen möchte und welchen Selbstschutz ich brauche. Somit ist die Wildnis meine Therapeutin, die mir das Leben lehrt, wie kaum etwas zuvor. Genau das brauche ich jetzt, genauso, wie die Wildheit. Sie erinnert uns daran, wie wir instinktiver und im Einklang mit der Natur lebten.
...um überhaupt leben zu können. Es brachte mich die letzten Jahre immer mehr ins Leben hinein und war eine Voraussetzung, um das alles hier überhaupt erleben zu können. Meine Selbstwahrnehmung steigerte sich, ebenso wie die Wahrnehmung im Außen.
Jede einzelne absolvierte Stunde der letzten Jahre war ein Baustein und so immens wichtig, ich kann es gar nicht oft genug betonen. Das Bewegen im Tanz brachte mir so viele Erfahrungen und Erkenntnisse und ich bin meiner Therapeutin Hanna Treu so sehr dankbar für alles, was sie in den letzten Jahren für mich getan hat.
Genauso dankbar bin ich auch für die Tatsache, meine Rehabilitation in die eigenen Hände genommen zu haben und meinem Instinkt zu folgen, was mir guttut. Der Kontakt mit den Kräften und Energien der wilden Natur hilft mir, besser zentriert zu sein und wieder ins Gleichgewicht zu kommen, meiner Intuition zu vertrauen und diese auch zulassen.
Wildnis und Wildheit spürte ich schon früher, aber der Verstand ließ vieles nicht zu. Ich gehe heute einen Weg, der sich für mich richtig und stimmig anfühlt. Das bekomme ich immer wieder bestätigt, allerdings habe ich die letzten Jahre diese Wildheit in mir wieder zulassen lernen müssen. Sie ist meine Freundin, die mich wieder ins Leben bringt, denn am meisten spüre ich mich selbst, wenn ich mich der Wildnis aussetze.
Auf diesem Weg langen Weg durch England stellte ich mich vielen Mustern und Ängsten, konnte vieles bearbeiten und manches lösen. Es hat mich wieder einen Schritt nach vorne gebracht. Diese Wildheit durch Großbritannien und besonders entlang des Ozean am SWCP, spürte ich besonders gut, wobei es wichtig ist, Wildnis für sich zu definieren.
Wildnis hat für mich mit Freiheit zu tun. Wobei es mir wichtig ist, die innerer Freiheit zu leben. Nämlich dann, wenn ich Begrenzungen erfahre, im Innern wie im Außen, die ich mir ja oft selbst unbewusst auferlege.
Diese letzten Tage dieser Reise sind immer wieder ein Versuch, Resümee über diese zwei Monate am JOGLE zu ziehen. "Du bekommst, was du brauchst, nicht was du möchtest!", dieser Spruch vom Jakobsweg hat auch hier Gültigkeit. Meine Frage ist manchmal, WARUM brauche ich über vierzig Regentage und all die anderen Herausforderungen?
Darüber denke ich in diesen letzten Tagen nach und kann es gar nicht glauben, dass es bald vorbei ist. Allerdings nicht ganz vorbei, denn ich möchte ja noch nach Poole gehen, dem Ende des South West Coast Path. Davor heißt es aber die letzten Kilometer überstehen, die Konzentration aufrecht zu halten. Die haben es nämlich noch einmal in sich.
Mein vorletzter Tag beginnt in Portreath. Regen und Sturm Peitschen vom Meer kommend ans Land und machen es mir nicht leicht. Es geht Ausgesetzt am Meer entlang, mit so einem starken Gegenwind, dass ich kaum vorwärtskomme. Es gibt kaum Hecken, hinter denen ich vom Wind geschützt gehen kann und immer wieder Regen, der mir waagrecht entgegen kommt, mit starkem Sturm.
Eine Weile gehe ich zwischen Dünen entlang und dann wieder direkt am Strand. Ich kann zwischen steilen Hügeln im tiefen Sand oder am flachen Strand, mit stürmischem Gegenwind entscheiden. Beides ist gleich schwierig und nach Stunden diesen Elementen ausgesetzt, wechsle ich auf die im Land gelegene Straße, denn neben dem Meer wird es mir zu gefährlich.
Die Windböen kommen zum Glück vom Meer, so werde ich immer nach links, gegen die steile Böschung gedrückt. Rechts geht es genauso steil nach unten, wo das Meer wartet. Es wird mir zu gefährlich auf den schmalen Steigen weiterzugehen und ich schlage mich irgendwie in die Richtung zur Straße durch. Wobei auch diese nicht ungefährlich ist.
Schmal, rechts und links, mit hohen Hecken, kein Seitenstreifen für Fußgänger, viele Kurven und Verkehr. Immer wieder wechsle ich die Straßenseite, da ich den Gegenverkehr nicht einsehen kann. Nach vier Kilometer erreiche ich den Stadtrand von Hayle und beim ersten Gehsteig kann ich Durch- und Aufatmen.
Das erste Pub am Weg nutze ich zum Frühstücken. Obwohl ich damit mein Budget überschreite, bestelle ich mir ein ordentliches, bestehend aus Omelett, Speck, Würstchen und Bohnen. Dieses Unwetter zehrt an meinen Kräften und ich muss aufpassen, nicht in ein kalorisches Defizit zu laufen. Besonders auf genug Eiweiß muss ich achten und genug zu mir zu nehmen. Wegen der Muskelschwäche dürfen Defizite erst gar nicht aufkommen.
Nach Hayle beginnt wieder einmal die Sonne zu scheinen und ich genieße die warmen Strahlen. Unterwegs trockne ich mein Zelt und alles andere, was feucht ist, lege es in die Wiese, in die für ein paar Minuten heiße Sonne. Ein Kaffee ist schnell zubereitet und in der Sonne liegend raste ich.
Nach einer halben Stunde ist die Sonne wieder weg und bei den ersten Regentropfen packe ich schnell alles ein. Bei Bewölkung nähere ich mich auf schönen Pfaden St. Ives. Die Zeichen des Camino Ingles erlebe ich bei Sonne, um St. Ives wieder im Regen zu erleben. Es ist eine der teuersten Gegenden von Cornwall. Schon seit Wochen sind alle Quartiere hier ausgebucht, so auch das einzige Hostel in der Gegend. Mir ist daher klar, dass ich hier nur durchgehe und mich nur versorge.
In der Stadt beschränke ich mich auf eine Dose Baked Beans. Diese esse ich, vom Regen geschützt, unter einer Markise vor einem Geschäft, in der belebten Fußgängerzone. Am Boden sitzend, schaue ich aus wie ein Obdachloser, denn der viele Regen und das Zelten der letzten Tage hat Spuren hinterlassen. Es ist aber egal ist, denn Essen, Einkaufen und danach möglichst schnell wieder auf den Trail, was anderes zählt für mich nicht. Mein Ziel ist es, noch möglichst weit in Richtung Lands End zu kommen, denn nur dann dann kann ich es morgen erreichen.
In einem Outdoorladen ergänze ich meine Vorräte mit Flipjacks, von denen jeder fast 400 Kalorien hat und mit speziellen Mint Riegeln, die schon Edmund Hillary auf seinem Gipfelgang zum Everest dabeihatte. Die Firma hat ihren Sitz in Kendal, nicht weit vom Weg, wo ich vor ein paar Wochen vorbeigekommen bin.
Es ist schon später Nachmittag und ich möchte noch einige Kilometer in Richtung Lands End zurücklegen. Allerdings sind diese Kilometer nach St.Ives bei diesem Wetter besonders schwierig. Als wollte mich dieses Land vor dem Ende nochmals prüfen, führt ein schmaler Steig entlang des Meeres, gespickt mit großen Steinblöcken, durch die ich durch und drüber klettern muss. Dazu gibt es immer wieder Regenschauer. Die Wildheit nimmt wieder zu.
Ich brauche oft die Hände, um mich hochzuziehen oder abzustützen. Mit dem Rucksack ist es ein immenser Aufwand, die Balance zu halten. Nur langsam komme ich weiter, denn ständig muss jeder Schritt hochkonzentriert gesetzt werden. Ein Fehltritt hätte fatale Folgen, inmitten dieses Steinfeldes. Gegen sechs Uhr Abend überhole ich zwei junge Wanderinnen, mit riesigen Rucksäcken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, so etwas auf meinen Rücken zu schnallen, geschweige denn, über diesen Trail zu tragen.
Da ich nicht vom Trail weg ins Hinterland gehen möchte, um einen Zeltplatz zu finden, bleibt Wildcampen die einzige Möglichkeit. Allerdings findet sich kein einziges, halbwegs ebenes Stück Wiese und ich sehe mich schon irgendwo zwischen Steinen sitzend, biwakieren. Seit dem Start am Nachmittag in diesen Abschnitt sind schon Stunden vergangen und die Sonne geht bald unter.
Da führt der Trail für kurze Zeit an einer Steinmauer entlang, bis an ein Gatter, mit einem schmalen Wiesenstück davor. Unbequem, aber zur rechten Zeit, denn bis zur Dunkelheit ist es nicht mehr weit. Der Blick hinter das Gatter verheißt ein mehr ebene Fläche, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es nicht irgendwo Kühe gibt.
Es ist alles ruhig und so baue ich schnell das Zelt dahinter auf, richte mich und alles andere her. Es ist viel ebener. Meine Füße sind vom vielen Regen verschrumpelt und alles ist nass und schmutzig. Diese letzte Nacht vor Lands End hält mich noch auf Trab. Kein Gedanke daran, dass morgen mein großer Tag ist, keine Gedanken an die vergangenen zwei Monate, kein Resümee ziehen oder nachdenken an das, was bisher war. Ich bin so fest in der Gegenwart verankert und darf nicht nachlässig werden oder die Konzentration beenden. Meine über die letzten zwei Monate erlangten Routinen und das Jetzt sind wichtiger, als über Vergangenes zu sinnieren.
Diese zwei Monate waren so lebensbejahend, wie auch das Gefühl, mit der Natur zu verschmelzen, wenn ich der Kraft der Naturelemente begegne und das Gefühl habe, genau hierher zu gehören. In solchen Momenten wird mir bewusst, was Heilung ist. Es ist nicht das völlige Verschwinden von Krankheit, es hat mehr mit einem Inneren Heil werden zu tun. Werde ich Innen Heil, kann auch das Außen folgen.
Mit einem satten, vollen und Erdverbundenen Gefühl, blicke ich weit übers Meer, vor mir die steil abfallenden Klippen, an die das Wasser tief unter mir an die Felsen schlägt. Ich bin einfach nur glücklich, hier zu stehen.
Nach einer Regenreichen Nacht wache ich im Morgengrauen auf, zum Glück ohne Regen. Als erstes wische ich die Zeltinnenseite mit meinem kleinen Wetex-Tuch ab. Die Kondensation war stark diese Nacht, wie so oft. Um beim Herrichten im Zelt nicht nass zu werden, wische ich es vor dem Aufstehen immer ab. Ich packe alles im Zelt fertig, erst dann stehe ich auf, denn das Zelt kommt als letzer dran.
Wie ich die Plane öffne, schaue ich in die mich fixierenden Augen einer stehenden Kuh, etwa 100 Meter entfernt. Weiter dahinter kommen andere, mit ihren Kälber, alle auf mich zutrottend. Schnell werfe ich den Rucksack über den Zaun, ziehe die Heringe aus dem Boden, werfe das Zelt über das Gatter und springe hinterher. Auf eine Konfrontation mit Ihnen möchte ich mich nicht einlassen, der letzte Schreck liegt mir noch in den Knochen und liegt noch nicht so lange zurück und diesmal sind auch Kälber dabei.
Es regnet zwar nicht, aber die Gräser sind voll mit nassen Tropfen der Nacht und der Trail ist glitschig. Auf meiner Wander-App ist nicht erkennbar, wo das einfachere Gelände vor Lands End beginnt. Nach zwei Stunden Kraxelei durch dieses nasse Wirrwarr komme ich zu ersten Ruinen, wo ein idealer Zeltplatz gelegen wäre. Leider bin ich gestern nicht mehr so weit gekommen.
Ab jetzt ist Bergbaugebiet, in dem früher Zinn und Kupfer abgebaut wurde, teilweise schon im 18. Jahrhundert. Eindrucksvolle Zeugnisse vergangener Epochen. Es tauchen vereinzelt Spaziergänger auf, also kann es nicht mehr weit bis in die "Zvilisation" sein. Es ist immer wieder ein eigenartiges Gefühl, dort aufzutauchen, diesmal sogar mit dem Gefühl, England durchquert zu haben.
Noch ein bißchen Auf und Ab, dann bin ich da. Allerdings stellt sich kein Gefühl der Freude oder das Glücklichsein über die Durchquerung bei mir ein. Im Gegenteil, ich bin überfordert mit Lands End und eigentlich enttäuscht. Es erwartet mich ein kleines Disneyland, viele Menschen und eine endlos lange Schlange, vor dem Schild von Lands End. Das ist zuviel für mich, da macht mein Gehirn nicht mehr mit. Mickey Mouse und Konsorten laden ein und alles geht zu, wie am Rummelplatz.
Ich bin so von der Rolle, dass mir fast keine Bilder gelingen. Diesen Trubel habe ich nicht erwartet und schneller als gedacht, gehe ich weg von dort. Mein Ankommen ist zugleich ein Weitergehen. In einem nahen Campingplatz entschließe ich mich dazu, am nächsten Tag, noch ganz in der Früh, noch einmal das Schild zu besuchen. Damit habe ich also den JOGLE beendet.
Jetzt fehlt nur noch der südlichste Punkt, in Point Lizard gelegen, den ich nach einigen weiteren Tagen erreiche. Es ist ein nebeliger Tag, mit kaum Aussicht. Ich gehe bis ans Meer, wo ich die durch ganz Grobritannien gesammelte Federn und einen Stein ins Meer werfe. Die Federn Symbolisieren Leichtigkeit, eine Leichtigkeit im Leben, aber auch eine Leichtigkeit des Körpers, an der ich seit 2016, wie ich aus dem Krankenhaus gekommen bin, arbeite.
Damals war alles schwer, besonders die Bewegung. Das Heben eines Armes war schwer, die Beine beim Gehen und erst mit dem Beginn des therapeutischen Tanzen im Jahr 2019, brachte von Jahr zu Jahr mehr Leichtigkeit in mein Leben.
Mit dem JOGLE habe ich mein bisheriges Meisterstück vollbracht, was allerdings nicht heißt, dass ich die vollendete Leichtigkeit erreicht habe. Da sind wir wieder beim Heil werden, noch fehlt trotzdem viel.
Die Heilwerdung schreitet voran, ungeachtet der noch vorhandenen Defizite. Die 2.000 km durch England habe mich wieder weitergebracht. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass ich nicht damit aufhören darf, mich zu bewegen. Ein einmal erreichtes Plateau bleibt mir nicht erhalten, zu schnell geht es wieder in die andere Richtung, wenn ich mich weniger bewege. Deshalb ist Dranbleiben so wichtig.
Solange ich durch Gehen mein körperliches Befinden besser erhalten kann, werde ich gehen. Das werde ich machen, solange ich kann oder motiviert dazu bin. Das ist die wohl wichtigste Erkenntnis von diesem Weg.
Zum Abschluss möchte ich mich bei allen bedanken, die mich auf dem Weg unterstützt haben. Ohne Euch wäre es anders abgelaufen. 😉 DANKE
Mein letzter großer Teilabschnitt des JOGLE steht bevor. Ich entscheide mich für den Weg an der Küste, mit dem South West Coast Path am Ende. So lerne ich auf meiner Mission JOGLE beinahe alle großen Weitwanderwege Englands kennen.
Zum South West Coast Path habe ich eine besondere Beziehung aufgebaut, da er schon seit Jahren in meinem Geiste herumschwebt, mir aber immer zu schwer war. Nicht umsonst gilt er als einer der schwersten Weitwanderwege in Europa. Eigentlich hatte ich ihn zuerst alleine ins Auge gefasst und erst danach die England-Durchquerung für mich entdeckt.
Die letzten zwei Wochen habe ich mich gut erholt, allerdings nicht meine Geldtasche. Ich merke, dass die Ferienzeit in England beginnt, denn alle Quartiere sind preislich merklich gestiegen. Hostels, die noch im Mai 15 - 20 Pfund verlangten, wollen plötzlich das doppelte und mehr, nur für ein Bett im Schlafraum, wohlgemerkt.
Ein Hotel oder eine Pension unter 100 Euro zu finden, wird fast unmöglich. Wenn ich etwas finde, ist es zu Fuß meist zu weit abseits vom Trail oder ausgebucht, so bleibt mir meist nur das Zelt.
Frühmorgens gehe ich los und finde natürlich kein offenes Café. Ich habe schon damit gerechnet, denn so früh hat hier kaum was offen. Die meisten sperren erst ab 10 Uhr auf. Ich möchte aber am liebsten in zwei Tagen in Minehead sein, wo sich der offizielle Start des South West Coast Path befindet, daher mein früher Aufbruch.
Um Strom für das Handy zu sparen, möchte ich den Samarither Weg gehen, der an für sich gekennzeichnet ist und ich daher nicht so oft das Handy zum Navigieren brauche. Allerdings wird der Weg anscheinend wenig begangen, denn die Wege sind schlecht, führen durch hohe Wiesen mit Brennesseln und sind nicht gepflegt.
Es sind oft öffentliche "Footpath Wege", die meist über privates Land führen. Schon auf den ersten Kilometern vergehe ich mich einige Male, weil die Wegweiser zugewachsen oder gar nicht vorhanden sind. Dann stehe ich mitten im Nirgendwo und muss mich in die richtige Richtung selbst durchkämpfen. Also wieder nichts mit Dahinspazieren, ohne nachdenken zu müssen.
An einem Gatter gehe ich durch, um nach einem Hügel eine Rinderherde zu bemerken. Ich habe noch etwa hundert Meter bis zum nächsten Gatter, da bemerkt mich die erste Kuh. Aufschauen und losrennen passiert in einem Augenblick, aber nicht nur sie, auch die anderen dreißig Kühe laufen augenblicklich los. Es wird einem zwar geraten stehenzubleiben, aber wenn dreißig Kühe hinter dir losstürmen, dass der Boden wackelt, habe selbst ich kein Vertrauen mehr darauf, dass sie ebenfalls stehenbleiben, wenn ich es tue.
Es wird mein längster Sprint seit sieben Jahren. Wenige Meter vor dem für mich "lebensrettenden" Gatter, ist die erste Kuh noch etwa zwanzig Meter hinter mir. Da sehe ich, dass der Riegel für mich, mit meiner schlechten Feinmotorik, zu langsam zu öffnen ist. Also entscheide ich mich fürs raufklettern und auf der anderen Seite hinunterspringen. Das Gatter ist allerdings höher als normal, nämlich rund 2 Meter und damit noch mehr ein Hindernis.
Ich springe gleich auf eine obere Sprosse, klettere höher und werfe mich auf die andere Seite hinunter. Nach unten sind es rund eineinhalb Meter, zu viel für mich, um eine Landung auf zwei Beinen zu überstehen. Irgendwie schaffe ich es, mich mit Rucksack in der Wiese abzurollen und liege dann wie erschlagen da, hinter mir das Gatter mit schnaubenden, mit den Hufen am Boden scharrenden Kühen. Wäre es mit Vertrauen leichter abgegangen? Ich weiß es nicht und muss mich erst einmal erholen.
Ab diesem Erlebnis gehe ich erst einmal auf der Straße weiter, verzichte auf "Footpath" Wege, bis ich bei Bridgwater an den Meeresarm gelange. Zum Übernachten klettere ich am Abend über ein Gatter, auf eine Weide neben der Straße. Dort finde ich eine ebene Flächen für das Zelt, nicht ohne mich vorher zu vergewissern, dass ich alleine bin und die Weide nicht von Kühen besetzt ist. Von den Farmern wird das allgemein toleriert, wenn man nichts zurück lässt und sich entsprechend verhaltet.
Starker Wind erschwert mir das Vorwärtskommen. Dazu regnet es immer wieder und die schmalen Pfade kommen mir nicht entgegen. Wegen dem Gleichgewicht gehe ich eher breitbeinig und so wanke ich oft von links nach rechts, als wäre ich betrunken. Seit Beginn in Schottland, erarbeite ich mir jeden Meter, ein einfaches Dahingehen ist einfach nicht möglich.
In der Ferne tauchen riesige, alleinstehende Gebäude neben dem Meer auf, die sich als Atomkraftwerk entpuppen. Es steht direkt am Meer und muss von uns Wanderern umgangen werden. Dabei merkt man erst die eigentliche Größe, denn für den Umweg brauche ich fünf Kilometer, immer entlang eines stark gesicherten Zaunes. Das sind immerhin etwa eine Stunde Gehzeit, immer das Kernkraftwerk neben sich.
Irgendwie habe ich ein mulmiges Gefühl, wie ich daran vorbeigehe und bin froh, als ich vorüber bin. Von weitem sehe ich es noch lange, wenn ich zurückblicke. Bilder von Demonstranten vor einem Atomkraftwerk kommen mir in Gedanken. So allein und abseits stehend, inmitten von grasenden Kühen, hat es etwas befremdliches, verstörendes an sich.
Kurz vor Minehead übernachte ich und am nächsten Vormittag gehe ich in die Stadt. Die vielen Menschen erschlagen mich. Es wimmelt nur so an jeder Ecke von Touristen und mehrere Vergnügungsparks machen Lärm. Überall befinden sich Spielsaloons für Kinder und Geschäfte für Souveniers. Es ist so ein Trubel, der mich nach so langer Zeit in der Natur verstört und ich bin ein wenig enttäuscht, dass an einem solch geschäftigen Ort der "berühmte" South West Coast Path beginnt.
Noch schnell in einem Laden einkaufen, denn die nächsten Tage weiß ich nicht, was mich erwartet. Für zwei Tage möchte ich immer mit Essen grundversorgt sein. Das heißt, genug Energieriegel, Brot und Fertignudeln.
Nach diesem letzten Einkauf gehe ich weiter ans Ortsende. Plötzlich treffe ich auf die Jakobsmuschel und Hinweise auf den Jakobsweg. Sie werde ich immer wieder treffen und mir kommt die Idee, danach mit der Fähre nach Spanien zu fahren und den Camino Ingles nach Santiago zu gehen. Mit dem Blick auf den Preis für die Fähre, verwerfe ich aber diesen Plan.
Dann das Schild, wo der South West Coast Path beginnt. Während dem Fotografieren sehe ich in der Nähe eine alte Dame am Gehsteig stürzen. Sie fällt so unglücklich auf das Gesicht, dass ihre Lippe aufplatzt und sie Schürfwunden im Gesicht und an den Händen erleidet. Sie ist geschockt und kommt kaum hoch. Ich setze mich zu ihr und wir reden beruhigend, so kann sie sich ein wenig erfangen. Bekannte warten 15 Gehminuten entfernt, so helfe ich ihr auf, bis sie kommen und sie setzt sich in ihr Auto, welches nicht weit entfernt parkt.
Ich mache meine Fotos fertig, immer mit einem Blick auf die Dame, bis ihre Bekannten kommen. Für mich beginnt nach dieser Aufregung der letzte große Abschnitt, der berühmte South West Coast Path.
Rund 1400 km liegen hinter mir und etwa 500 km bis Lands End und Point Lizzard, vor mir. Da ich niemals die Kilometer zähle, weiß ich es gar nicht genau. Gleich der erste Anstieg zeigt mir, was mich hier erwartet. Steil geht es lange durch einen Wald bergauf und ich spüre den überladenen Rucksack. Immer wieder einsetzender Regen erschwert alles. Das kann ja heiter werden.
Seit dem West Highländer Way in Schottland habe ich täglich Regenwetter und wie es ausschaut, wird sich das in nächster Zeit nicht ändern. Kurze Regenpausen, manchmal auch mit ein wenig Sonne, erleichtern alles, bevor es gleich wieder zu schütten beginnt.
Im Gehen dem Augenblick begegnen
Seit dem Start des JOGLE ist jeder Meter eine Übung in Konzentration. Und auch auf diesem Abschnitt bleibt es dabei: Regen, steile An- und Abstiege, kein einziges Stück zur Erholung – alles fordert mich heraus, zwingt mich, ganz da zu sein. Eine Konzentration, wie ich sie auf keinem anderen Weg in dieser Intensität erlebt habe.
Oft muss ich innehalten, durchatmen – nicht, weil der Körper nicht mehr will, sondern weil das Gehirn eine Pause braucht. Mehr noch als die Muskeln verlangt es nach Momenten der Ruhe. Dieser Weg zwingt mich seit Wochen dazu, im Hier und Jetzt zu leben. Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Und je länger ich gehe, desto näher komme ich mir selbst.
Denn sich selbst findet man nur in der Gegenwart. Und davon gibt es hier reichlich – in jeder Sekunde, in jedem Tritt, in jedem Windstoß. Schön langsam fügt sich eines zum anderen. Die tausenden Kilometer der letzten Jahre waren nicht umsonst. Ich werde weitergehen, so lange, bis ich wieder ganz bei mir bin.
Der Gegenwind bläst mir hart ins Gesicht, manchmal wird er zum Sturm. Da gibt es kein „Fuß anheben und er fällt schon von allein nach vorn“. Nein – jeder Schritt will bewusst gesetzt werden. Und wenn ich nicht aufpasse, drückt der Wind meinen Fuß zurück, bevor er den Boden berührt. Dann lande ich nicht dort, wo ich hinwollte – das Stolpern ist vorprogrammiert. Aber genau dadurch wächst meine Achtsamkeit.
Dazu kommen schmale Steige, auf die sich das Gras von beiden Seiten legt. Ich sehe meine Füße oft nicht, gehe tastend voran – Schritt für Schritt, dem Unsichtbaren entgegen. Das Wasser sammelt sich an den Halmen, ich streife es bei jedem Tritt ab. Die Folge: durchweichte Schuhe, nasse Socken, klamme Zehen – seit Stunden.
Und dann sind da noch die Höhenmeter. Es geht ständig auf und ab, ohne Pause. Manche Steige sind so steil, dass sie mit Brettern abgestützt wurden – doch diese Stufen reichen mir oft bis zum Knie. Kein einfacher Gang. Kleine Menschen werden es hier schwer haben. Und wenn selbst ich mich schwertue, sagt das einiges.
So viele Stufen wie auf diesem Abschnitt bin ich seit dem Hirnabszess nicht mehr gestiegen. Bilder steigen in mir auf – vom Schlossberg in Graz, meinem alten Übungsplatz. Dort lernte ich einst das Stufensteigen, Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. Am Anfang der Rehabilitation dachte ich nur an eines: Ich muss wieder Kraft aufbauen. Ich hoffte auf Fortschritt, auf Muskelwachstum – doch was ich für Kraftlosigkeit hielt, entpuppte sich als etwas anderes. Eine bleibende Muskelschwäche. Und dazu die gestörte Propriozeption, die nichts mit der Muskelkraft zu tun hat – sondern mit der tiefen Wahrnehmung des Körpers im Raum.
Ich musste erst verstehen, was da mit mir passiert war. Die Nervenverbindungen sind nachhaltig geschädigt. Und doch habe ich mich weiterentwickelt – weit mehr, als ich es anfangs für möglich hielt. Immer im Rahmen dessen, was mit der Muskelschwäche und der fehlenden Propriozeption möglich ist.
Am Anfang war schon das Aufstehen aus dem Bett eine Höchstleistung. Heute ist es noch immer nicht leicht – aber es fühlt sich nicht mehr unmöglich an. Und so ist es mit vielem.
Dass ich heute 50 Kilometer gehen kann, bedeutet mehr als eine Zahl. Es ist die Grundlage, um im Alltag durchzuhalten. Zuhause. Im Leben. Denn jedes Gehen schenkt mir Kraft – nicht nur für die Beine, sondern für alles, was durchzuhalten ist.
Das viele Gehen ist – in einem weiteren Sinn – auch eine Form der Flucht. Ich fliehe vor der Starre. Vor der Angst, mich nicht mehr bewegen zu können. Diese Angst sitzt tief. Und deshalb meide ich alles, was mich in diese lähmende Situation zurückführen könnte. Ich spüre es sofort, wenn etwas in mir zu erstarren droht. Dann wird jeder Schritt doppelt wichtig.
Lasse ich das Gehen für ein paar Tage aus, spüre ich, wie ich zurückfalle. Schnell, unerbittlich. Es ist, als würde der Körper vergessen, was er gelernt hat – und mit ihm auch der Geist. Genau das möchte ich vermeiden. Denn was es damals brauchte, um wieder in Bewegung zu kommen, war eine Kraftanstrengung, die ich nicht noch einmal durchleben möchte.
Das Gehen ist mein Weg geblieben. Mein Schutz, mein Weiterkommen – Schritt für Schritt aus der Angst heraus.
Für mich ist es wichtig, ohne Ziele genauso glücklich zu sein. Klar habe ich den JOGLE als Ziel, jedoch mache ich mein Glück nicht davon abhängig, ob ich es erreiche oder nicht. Nur wenige Tage vor dem Beginn des SWCP, fühlte ich mich so glücklich und gut drauf, dass ich nach Hause fahren hätte können. Mein Glück hing nicht davon ab, ihn zu beenden oder nicht, so wie alle Wege die ich bisher bestritt.
Mein Weg darf niemals ein Kampf sein oder mich in ein Ziel gar zu verbeißen. Natürlich ist der JOGLE das bisher schwierigste Unternehmen, welches ich seit dem Hirnabszess mache, aber ich denke in anderen Dimensionen. Es geht mir nicht um das Prestige oder damit ich sagen kann, ich habe England durchquert. Jeden Schritt mache ich für mich und mein Leben, welchem ich damit einen Sinn gebe.
In den letzten Jahren hat sich immer mehr gezeigt, wie sehr mir der Aufenthalt in der Natur guttut. Die ersten Jahre war ich noch bemüht, mich auch wieder in der Stadt zurechtzufinden. Das ging nur schleppend und langsam dahin und in der Pandemie verschlechterte es sich sogar. Bis ich mich entschied, vorrangig in der Natur zu bleiben und mithilfe der Natur Verbesserung zu erwirken.
Deshalb tut es so gut, England, praktisch bis auf wenige Ausnahmen, in der Natur zu durchqueren. An größeren Städten besuchte ich nur Inverness, Glasgow, Bristol, Penzance und Exiter, wo ich Ruhepausen einlegte
Meine Highlights entlang des Weges sind die kleinen Fischerdörfer. Sie liegen wie Ruhepunkte im Sturm – eingebettet zwischen Felsen, Meer und Wind. Oft – aber nicht immer – finde ich hier meinen Kaffee. Und wenn ich Glück habe, eine Steckdose für mein Telefon und die Powerbank. Dann bleibe ich sitzen, mit der Tasse in der Hand. Manchmal eineinhalb Stunden. Oder so lange, bis genug Strom da ist, um bis zum nächsten Tag durchzukommen.
Es ist meist meine einzige Pause am Tag. Denn draußen verhindern Sturm und Regen jedes Innehalten. Es gibt keine Unterstände, keine trockenen Plätze – alles ist klatschnass. Die wenigen kurzen Sonnenfenster nutze ich, um das Zelt zu trocknen. Ein tägliches Ritual zwischen Weitergehen und Warten.
Die Dörfer selbst bestehen aus alten Steinhäusern. Davor kleine, liebevoll gepflegte Gärten – manchmal wild, manchmal akkurat. Am Anfang stellte ich mir genau so die Küstendörfer vor: ruhig, schlicht, ehrlich. Doch je näher ich nach Land’s End komme, desto mehr verändert sich das Bild. Die Orte werden touristischer, voller, auf Hochglanz gebracht. Menschenmengen ziehen durch enge Gassen. St. Ives gehört zu den teuersten Gegenden hier – alles ausgebucht, alles belegt.
Ein völliger Kontrast zu den einfachen Fischerdörfern auf der Westseite. Und doch blitzt für einen Moment die Sonne durch – als würde sie mir diesen Übergang zeigen wollen. Genau in diesem Licht entdecke ich das Jakobswegzeichen, die vertraute Muschel. Ein stiller Moment, mitten im Trubel.
Jeder Tag beginnt mit der Suche nach einem Schlafplatz. Das ist es, was mich beschäftigt. Nicht der Wind, nicht der Regen, sondern: Wo kann ich heute Nacht liegen? Hinter einer Hecke, geschützt vom Wind – dort geht es einigermaßen. Aber diesen Platz muss ich erst einmal finden.
Über steile Stufen geht es Klippe um Klippe rauf und wieder runter. Stundenlang. Und oft dauert es bis in den späten Nachmittag, ehe ich einen Platz finde, an dem ich mein Zelt aufstellen kann. Wenn es am Morgen regnet, ist der Start besonders unangenehm. Das nasse Zelt abbauen, alles zusammenpacken, im Wind verstauen – es kostet Kraft. Dann hoffe ich auf eine Regenpause, am besten mit ein wenig Sonne, um das Zelt unterwegs trocknen zu können. Denn eines ist sicher: Es gibt kaum etwas Unangenehmeres, als am Abend in ein klammes Zelt zu kriechen.
Oft bleibt mir nichts anderes übrig. Dann passe ich auf, dass der Schlafsack nicht den Boden berührt – alles, damit er trocken bleibt. Ich esse noch etwas, meist im Sitzen, in mich gekehrt, und versuche dann zu schlafen.
An Abenden mit Regen lasse ich das Kochen meist sein. Dann gibt es, was da ist: ein Stück Brot, Käse, manchmal ein wenig Salami. Wenn ich Glück hatte und am Nachmittag noch ein Kaufhaus kam – und ich die Kraft fand, mehr zu tragen – dann vielleicht auch eine Avocado. Man wird genügsam. In drei Monaten habe ich vielleicht fünfmal Butter gegessen. Jedes Mal ein kleines Highlight.
Mit der Dauer der Tour verändern sich die Bedürfnisse. Fett und Zucker bekommen plötzlich ihren Platz. Sie geben Energie, schnell und verlässlich. Für Eiweiß habe ich Kapseln dabei. Wenn ich Mozzarella finde, kaufe ich ihn – schwer ist er, deshalb wird er meist gleich unterwegs gegessen.
Manchmal nutze ich eine Regenpause am Nachmittag zum Kochen. Dann fällt das Abendessen aus – und das ist gut so. Denn wenn die Sonne untergeht, wird es rasch kalt. Dann bin ich froh, wenn ich einfach nur noch in meinen Schlafsack kriechen und zur Ruhe kommen kann. Nichts mehr tun. Nur liegen. Nur sein.
Eigentlich hatte ich gehofft, am South West Coast Path mehr Menschen zu treffen. Ich wollte an meiner Kommunikation arbeiten, Gespräche führen, mich austauschen. Doch das Wetter macht vieles zunichte – ich bin oft allein unterwegs. Regen, Sturm und kalte Tage lassen kaum jemand draußen verweilen. Seit dem Start in Schottland habe ich vielleicht mit zwanzig Menschen wirklich gesprochen. Die kurzen Sätze mit der Bedienung im Pub oder an der Supermarktkasse zähle ich nicht dazu.
Und doch bekommt das Alleinsein auf dieser JOGLE-Reise eine ganz neue Bedeutung. Ich entscheide mich, es anzunehmen – nicht als Mangel, sondern als Möglichkeit. Ich habe mich nie einsam gefühlt. Im Gegenteil: Diese Stille, diese Abgeschiedenheit geben mir Raum. Raum, um Vertrauen zu entwickeln – in mich selbst. Denn nur, wenn ich mir selbst vertraue, können andere eine Quelle der Freude sein. Keine Bedrohung, keine Sorge. Diese Tage sind lehrreich. Und sie bringen mich weiter – Schritt für Schritt, ganz leise.
Zum ersten Mal beginne ich zu verstehen, was Alleinsein wirklich bedeutet. Es ist nicht das Fehlen von anderen, sondern das Wahrnehmen von sich selbst. Ich sehe mich – und ich kann mich selbst einschätzen, ohne das Echo der Außenwelt zu brauchen. Innere Konflikte zeigen sich mir in einem größeren Zusammenhang. Und ich beginne zu erkennen, wo sie ihren Ursprung haben. Das ist für mich der Beginn von Heilung.
Hier, an der rauen Küste, neben dem Ozean, den Elementen ausgesetzt, führe ich ein Leben, das ganz bei mir ist. Ein Leben ohne Umwege, ohne Ablenkung. Es geht ums Wesentliche: um das Leben selbst. Um das Vertrauen in meine Intuition – besonders auf den wilden, einsamen Wegen, oben über den Klippen. Dort spüre ich sie am deutlichsten: die leise Gewissheit, dass dieser Weg der richtige ist.
Oft vergehen Stunden, bis ich wieder auf ein Dorf treffe. In unserer Zeit ist das ein Luxus, den viele gar nicht mehr kennen. Tagelang bin ich unterwegs – gehe einkaufen, versorge mich – und verschwinde dann wieder in die Natur. Dass ich dabei so viel lernen würde, hätte ich nicht erwartet.
Aber das funktioniert nur, wenn man bereit ist, mit sich allein zu sein. Ich beginne, meine eigenen Grenzen zu erkennen, meine Bedürfnisse, meine Sehnsüchte. Gedanken, die ich seit dem Hirnabszess kaum mehr in dieser Tiefe hatte. Doch langsam, ganz langsam, macht auch mein Gehirn Fortschritte. Und dafür bin ich dankbar.
Was mir die Natur bisher gegeben hat, lässt sich kaum in Worte fassen. Je mehr ich mich auf sie einlasse, desto mehr zeigt sie mir – ihre Ruhe, ihre Kraft, ihre Weisheit. Ich sehe sie klarer, verstehe sie besser. Und spüre, was sie mit mir macht. Ohne den Aufbruch auf den Jakobsweg vor fünf Jahren hätte ich diese Form der Heilung nie erfahren.
Manchmal denke ich daran, wie viele Menschen in Einrichtungen verharren, ohne die Chance, sich noch einmal ganz neu kennenzulernen. Ohne Wind im Gesicht, ohne Erde unter den Füßen, ohne Weite vor den Augen. Ich hatte das Glück, aufzubrechen. Und was ich dabei finde, bin ich selbst.
In Portreath übernachte ich in einem der wenigen Hostels entlang des Weges. Die Besitzerin wird mit Jahresende schließen – sie geht in Pension. Es ist eines dieser Häuser, in denen man sofort merkt: Hier ist jemand mit Herz bei der Sache gewesen. Ich bin mit einer Familie die einzigen Gäste, obwohl das Haus eigentlich ausgebucht war. Doch viele haben wegen des schlechten Wetters abgesagt – und so wurde für mich ein Platz frei.
Viele Hostels liegen zu weit abseits vom Weg, um sie zu erreichen. Und da ich nie genau weiß, wie weit ich an einem Tag komme, kommt Vorreservieren für mich nicht infrage. Das Zelt ist flexibler. Und es erdet mich. Es bringt mich näher zur Natur, zu mir selbst.
Mit der Wirtin spreche ich lange. Über Gott und die Welt. Über das Leben. Es sind diese Gespräche, die in Erinnerung bleiben – unerwartet, ehrlich, offen. Zum Abschied gibt sie mir noch einen Tipp: Ein Stück weiter, gut versteckt zwischen Felsen, kann man Seehunde beobachten. Ich wäre daran vorbeigegangen, hätte sie für Steine am Strand gehalten.
Die Möwen, die Meisen – sie begleiten mich auch an diesem Tag. Trotz des Windes, trotz des Regens. Manche von ihnen tauchen wie kleine Zeichen auf, Krafttiere vielleicht, die mich ein Stück weit begleiten. Und mir zeigen: Ich bin auf dem richtigen Weg.
Unter all dem ist es mein eigentliches Abenteuer, das Einfache wiederzufinden – und neu zu entdecken. Meine Gedanken kreisen nicht um das, was ich erreicht habe, sondern um das, was wieder möglich wird. Ich beginne zu erkennen: Es wird möglich, was ich möglich mache.
Ein kleines Beispiel: Trotz der täglichen Anstrengung verspüre ich beim Niederbücken immer seltener Schwindel. Ein Fortschritt, der nicht nur körperlich ist. Ich spüre, dass es auch damit zu tun hat, dass ich zu mir stehe – dass ich endlich das tue, was ich wirklich möchte.Jetzt, zu Hause, wo ich diese Zeilen schreibe, muss ich wieder mehr aufpassen. Beim Aufstehen ist der Schwindel wieder spürbarer. Es ist ein Zeichen. Vor dem Hirnabszess habe ich vieles getan, das mir nicht guttut – und es trotzdem weitergemacht. Viel zu lange.
In Städten wird mir heute schneller schwindlig. Es ist, als würde mein Körper dort noch stärker zeigen, was ihm nicht bekommt. Hier draußen, fast ausschließlich in der Natur, geht es mir besser. Die Natur gibt mir Raum. Und Schwindel – so habe ich für mich erkannt – hat oft mit Dingen zu tun, die man verdrängt, zur Seite schiebt, nicht anschauen will.So arbeite ich mich voran – Schritt für Schritt, auf dem Weg wie in mir. Manchmal mühsam, aber immer weiter.
Am schönsten ist es, in der Gegenwart zu leben. Hier draußen ist das möglich. Tag für Tag, Tritt für Tritt. Und anders wäre es für mich gar nicht möglich, überhaupt weiterzukommen.
Den Abschluss bis zum Ende in Lands End und Point Lizzard, beschreibe ich dann das nächste Mal, mit einem Resümee, was mich der Weg durch England lehrte.
Zwischen meinem letzten Blog und heute liegen 800 Kilometer, randvoll mit Erlebnissen und Ereignissen. Meine Mission JOGLE wurde dem Namen gerecht, es wurde eine Mission. Mittlerweile liegen1.350 Kilometer hinter mir.
Ich habe Bristol erreicht, nach Wochen voller Regen und etwas Sonnenschein dazwischen. Es waren Hindernisse wie der knappe Strom und tagelang im Zelt unterwegs, weshalb ich lange keine Möglichkeit zum Schreiben fand. Darum erst jetzt eine Zusammenfassung der letzten Wochen.
Der mich schon am West Highländer Weg ereilende Regen sollte mich weiterhin begleiten. Bei Sonnenschein gehe ich aus Glasgow hinaus. Dabei fällt mir ein Logo am Boden auf, dass auf die kommende Rad WM hier hinweist.
Diese Tage sind wie eine Überstellungsetappe, bevor es wieder mit gekennzeichneten Wegen weitergeht. Unterwegs treffe ich auf Simon aus England, der wie ich, den Nord-Süd Weg geht. Er ist einen Tag vor mir gestartet, allerdings auf oft anderer Strecke, deswegen haben wir uns noch nie getroffen. Während er diesmal das Hotel vorzieht, gehe ich noch weiter.
Ich schaue nicht auf Kilometer und schlage mein Lager auf, wenn mir danach ist. Diesmal wird es immer weiter, weil ich keinen geeigneten Lagerplatz finde. Spät erst entdecke ich im Wald einen ebenen Platz.
Am nächsten Morgen wache ich früh auf und gehe los. Es wird ein Weg angezeigt, wo keiner ist. Ich brauche lange, um mich zurechtfinden. Das Ergebnis sind eine Kuhherde, die mir ein mulmiges Gefühl verursacht, hohes Gras, drei Zäune zum Überspringen und durchnässte Füße. Das Abenteuer hat mich viel Zeit und Kraft gekostet.
Im nächsten Dorf frühstücke ich ausgiebig an einem Take Away Imbissladen, die einzige Möglichkeit im Umkreis vieler Kilometer. Aufgrund des regnerischen Wetters entschließe ich mich, den restlichen Tag einem Radweg zu folgen. Über einen Berg komme ich in ein Paralelltal nach Moffart, wo ich ein Bett in einem Hostel bekomme. Trotz Problemen mit meiner Bankomatkarte nimmt mich der Inhaber auf, im Vertrauen, dass ich irgenwie bezahlen werde.
Es wird mein mit Abstand bestes Hostel am Weg, von der Sauberkeit, bis zur Ausstattung und auch der Freundlichkeit des Besitzers. Da auch der darauffolgende Tag regnerisch bleibt, bleibe ich der Straße treu und verzichte auf abseits gelegene Wege, um mich keiner weiteren Expedition mehr auszusetzen.
Ans Zelten habe ich mich eigentlich gewöhnt, aber noch nicht ans Zelten im Regen. Meine gestörte Propriozeption macht es ungemütlich, weil ich mich kaum bewegen kann, ohne nass zu werden. Bei einem einwandigen Zelt darf ich nicht an die Zeltwand stoßen, da sonst das Kondenswasser herunter perlt.
Es ist mir aber nicht möglich, alles unter Kontrolle zu halten. Ich habe damit zu tun, in den Schlafsack zu kommen. Dabei darauf zu achten, nirgends anzustoßen, ist mir unmöglich und so geht es mir mit vielem.
Alles ist dann feucht und nass, meist aufgrund meiner Ungeschicklichkeit. Gerade in Sachen Feinmotorik und Multi-Tasking habe ich noch eine Menge zu lernen. Dieser Weg fordert mich täglich, es gibt kaum eine Verschnaufpause.
In Caleile plane ich meine weitere Route. Ich möchte gerne die Hadriens Wall sehen und das geht einher mit dem Pennine Way, dem ich nachher folgen kann. Dafür verzichte ich auf den Lake District.
Zunächst geht es 35 Kilometer entlang der Hadrians Wall. Auf einer mehrtägigen Wanderung führt dieser Weg von der Westküste an die Ostküste der Insel (oder umgekehrt), immer entlang der Reste dieser alten Steinmauer. Die Mauer diente als Schutz gegen das Eindringen der Schotten nach England, das die Römer damals besetzten. Bestimmt auch eine tolle Wanderung, mit viel Kultur.
Auf diesen ersten Kilometern bekomme ich einen guten Eindruck über die Mauer und biege dann rechts ab, auf den Pennine Way. Diesen Weg in kurzen Worten beschrieben:
Wild, enorme weiten, Hochmoore, Regen, Einsamkeit.
Über mehrere Tage geht es auf schmalen Pfaden, nur unterbrochen von ausgelegten Steinen, über die Hochmoore, Gipfel und lange, gerade Pfade. Extremer Gegenwind erschwert das Vorwärtskommen, oft muss ich mich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen. Zum ersten Mal durfte ich erfahren, warum die meisten die Süd-Nord Variante für die England Durchquerung wählten, den LEJOG, denn dabei hat man in der Regel Rückenwind, im Gegensatz zum JOGLE.
Schön langsam zeigen meine Schuhe Auflösungserscheinungen und ein junger Engländer gibt mir den Tipp, online neue zu bestellen und mir die Schuhe in ein Hostel schicken zu lassen. Wenn ich heute noch bestelle, sind sie in vier Tagen im nächsten Hostel am Weg. Zum Glück habe ich das dann nicht gemacht, denn am nächsten Tag am Abend war ich bereits in diesem Hostel.
Für diesen Weg hatte er vier Tage eingeplant. Kein Wunder bei dem Gewicht was die meisten und so auch er, hier tragen. Obwohl er auf einige Leichtsachen umgestiegen ist, hat er noch immer viel zu viel mit. Einen neuen leichten Rucksack hat er sich in dieses Hostel schicken lassen, aber selbst dieser Rest war noch viel zu schwer. Alleine sein Zelt würde die Hälfte des Platzes in meinem Rucksack benötigen. Als er mein Zelt sieht, möchte er es gar nicht glauben, dass es ein Zelt ist.
Mit seinen bisher bis zu 17 kg am Rücken, ist das Gehen in diesem Gelände eben sehr schwierig. Dabei fühlt sich mein Rucksack schon schwer an, der Basis 5 kg und vollbeladen etwa 8 - 9 Kilogramm schwer ist. Im Nachhinein gesagt hatte ich oft zu viel Wasser und Lebensmittel mit, welches natürlich viel vom Gewicht ausmacht.
Die Hochmoore sind interessant, trotzdem reicht es mir nach einigen Tagen, vor allem der Regen macht es nicht gerade leicht. Mein Pennine Way dauert normal um die 18 Tage, ich bin ihn in 8 Tagen gegangen. Einerseits, weil es dauernd regnete und man sich nirgends hinsetzen konnte, andererseits, weil ich von 6 Uhr morgens, bis 20 Uhr abends Zeit hatte zum Gehen.
Und ehrlich gesagt, länger wollte ich auch bei diesem Regen hier nicht unterwegs sein, denn die Bedingungen waren mehr als widrig.
Mit einer kurzen Unterbrechung, wo ich den Weg selber finden musste, kam ich zum Gritstone Way, eine Möglichkeit nach Westen zu gelangen, um zum Offas Dyke Way zu queren. Aufgrund des Regens entschied ich mich allerdings kurzfristig, nach dem Gritstone den direkten Weg nach Süden zu nehmen.
Der Gritstone Way war von Schafen, aber auch immer öfter von Kühen bevölkert. Seit einem Erlebnis in der Jugend, bin ich bei Kühen vorsichtig, ensprechend achtsam ging ich an ihnen vorbei. Der Weg ist wenig begangen und der Pfad oft schwer erkennbar, obwohl er eigentlich gut markiert ist. Den 56 km langen Weg ging ich an einem Tag. Im Internet ist er auf drei Tage ausgelegt.
Eine der wesentlichen Punke meiner Wanderung ist es, dass ich keinen Reiseführer vorher gelesen habe oder mich vorweg über die Gegend wo ich durchkomme, informiert habe. Ich hätte es aufgrund des fehlenden Kurzzeitgedächnisses mir sowieso nicht gemerkt und außerdem wollte ich alles so erleben, wie ich es vorfinde und sehe, ohne Vorbehalte oder Erwartungen.
Ich möchte alles so erleben, Menschen wie Gegend, ohne zu wissen, was auf mich zukommt. So habe ich keine Erwartungen darauf, wie es sein soll und ich kann mich jederzeit auf die Situation leichter einstellen. So schwer es oft für mich war, das fehlende Kurzzeitgedächtnis lässt mich jeden Tag neu beginnen und alles Schwere vom Vortag ist vergessen.
Mein Weg habe ich zwar grob geplant, aber nur um zu sehen, wieviele Kilometer es ungefähr sind. Den genauen Weg entscheide ich immer erst beim Losgehen in der Früh oder ich bin auf einem Fernwanderweg unterwegs, der gut markiert ist. Planen tu ich nur von Tag zu Tag, oder nehme mir die nächste große Stadt als Ziel, ohne zu wissen, was für Wege, Menschen und Landschaft mich unterwegs erwartet.
Auf diese Art bin ich bis jetzt bis Bristol gekommen, nur mehr wenige Tage vor dem Beginn des South West Costal Path in Minehead. Damit sind es noch ca. 500 Kilometer bis nach Lands End. Wobei das nicht mein oberstes Ziel ist, denn das liegt am südlichsten Zipfel, am Weg des SWCP, in Lizard Point. Erst damit habe ich England durchquert.
Nach dem Gritstone Way gehe ich direkt nach Süden. Ohne es vorher gewusst zu haben, gehe ich entlang eines Kanals, der mittels Schleusen die Schiffe über einen Berg führt. Zunächst war ich noch sauer darüber, denn ich erwartete mir, flach entlang am Fluss zu wandern. Dass der Kanal über einen Berg führt, verwirrt mich.
Unterwegs treffe ich den 74-jährigen Pensionisten Philipp, der auf einem der zahlreichen Boote wohnt. Er erzählt mir viel über die Geschichte dieses Kanals und dass England mit über 3.000 Meilen (ca. 5.000 km) dieser Kanäle durchzogen ist. So schippert er seit Jahren durchs Land, mal hierhin, mal dorthin. Er lebt von seiner nicht gerade üppigen Pension, lebt aber als freier Mensch und möchte nicht in einem Altersheim eingesperrt sein, wie er mir erzählt.
Diese Kanäle wurden von Hand gegraben, vor etwa 200 bis 250 Jahren. Waren aller Art konnte so schonend ins Land gebracht werden, ohne zu verschleißen oder zu zerbrechen. Der Transport war am Wasser ruhiger, als auf den damaligen holprigen Strassen. Heute wird er von Hausbooten bevölkert.
An einer Schleuse übernachte ich und kann beobachten, wie die Schiffer sie bedienen, um weiterzukommen. Insgesamt strahlen diese Menschen auf ihren Booten eine Ruhe aus, die auch mich erfasst. Stress gibt es für sie nie und die Bewegungen sind ohne Hektik und Schnelligkeit.
Leider ist dieser Weg nach einigen Tagen zu Ende. Aus dem Kanal wird ein Fluss und die Schiffe darauf größer. Der Weg wird kleiner und ist seltener begangen. Nach 10 Kilometern über Viehweiden, ist plötzlich Ende. Die Markierung führt ins Gestrüpp, umgehen ist nicht möglich, also kämpfe ich mich hindurch.
Für etwa 300 Meter muss ich mir einen Weg suchen, mit den Stöcken schlagend und kriechend, durch hohe Brennessel und dichtes Gestrüpp, bis ich wieder auf eine offene Viehweide komme. Die App zeigte mir einen Weg an. Es ist mir unverständlich, wieso auf diesen paar Metern der offizielle Weg nicht erhalten wird.
Zwei Tage später, meldet der hinter mir gehender Engländer Simon die gleichen Probleme zu haben und versteht nun, was ich meinte.
Dazu verlässt mich unterwegs meine Powerbank, deshalb gerate ich in Stromprobleme beim Handy, dass ich trotz der Markierungen zum Navigieren brauche. So klein und leicht die Powerbank von Nitecore auch ist, es ist nach meinem Walkabout durfte Österreich bereits zweite, die mir unterwegs kaputt wird.
In Takesbury kaufe ich mir eine neue, allerdings nur mit 5000 mA, denn Größe und Gewicht sind entscheidend.
Dem Gewicht ordne ich praktisch alles unter und verzichte dabei sogar auf etwas Komfort beim Schlafen. Aus diesem Grund wählte ich die Thermarest Uberlight, allerdings die kurze Version, mit 119 cm Länge und gerade mal 170 Gramm schwer. Ein absolutes Federgewicht. Gewicht zählt alles, auf meiner Mission JOGLE.
Allerdings sind bereits drei Tage nach meinem Aufbruch in John o'Groats die ersten Zwischenkammern im Innenbereich gebrochen, die mein Kopfkissen überflüssig machten, weil sie so aufgequollen sind. Nach einer weiteren Woche musste ich einmal in der Nacht Luft nach pusten, da sie begann, Luft zu verlieren. Ich habe einen Reparatur-Kit mit, aber es war kein Loch, sondern sie verlor die Luft über das Ventil.
Mit jeder weiteren Woche kam ein zusätzliches Aufpumpen in der Nacht dazu, bis sie praktisch die Luft gar nicht mehr hielt. Der Versuch, ein Ersatzventil zu bekommen, geht schief, denn kein Outdoorgeschäft, wo ich in den nächsten Tagen vorbeikomme, hat eines lagernd. Es bei Thermarest direkt zu bekommen geht auch nicht, denn sie empfehlen nur Geschäfte. Die Lieferzeit ist aber sehr vage angegeben, mit bis zu 10 Tagen, daher fälltl auch das aus, denn wohin sollte ich es denn schicken lassen.
Tagelang quäle ich mich damit ab, in der Nacht bis zu 10 x nachzupumpen, was natürlich auf Kosten des Schlafes geht. Erst in Bristol finde ich einen billigen Matratzen-Ersatz, denn die Uberlight kostet hier in England 220,- Pfund, was bei meinem Budget nicht drinnen ist.
Ich finde eine 350 Gramm schwere, mit einem nicht so guten R-Wert von 1,7. Damit muss ich mich zufriedengeben, zumindest ist sie recht kompakt zu verpacken, was bei meinem kleinen Rucksack eine große Rolle spielt.
Nach vielen Tagen im Inneren des Landes, komme ich wieder ans Meer, bzw. an einen, weit ins Land hineinreichenden Meeresarm. Grüne Wiesen und flaches Gelände erwarten mich. Trotzdem ist jeder Meter weiterhin nicht leicht, denn die letzten Tage machten mich müde und damit funktioniert meine Propriozeption nicht mehr so gut.
Besonders die schmalen Wege sind eine Herausforderung und machen das Gehen schwer. 90% meiner Mission JOGLE sind auf solchen Wegen bisher.
Das Gehen wird immer schwieriger, aber mein Zwischenziel Bristol ist nicht mehr weit. Dort möchte ich gerne einen, wenn nicht zwei Ruhetage einlegen.
Zur Abwechslung gibt es immer mehr Rinder auf den Weiden, an denen ich mit Vorsicht vorbeigehe. Einmal steht eine ganze Herde direkt vor dem Gatter, wo ich durch muss. Es sind Jung-Rinder und ich weiß nicht, wer mehr Angst voreinander hat, ich oder sie.
Zuerst warte ich noch in gebührlicher Entfernung, aber irgendwann gehe ich los, mit sicherem Schritt, dem Gatter entgegen und mitten durch die Herde durch. Sie sind unruhig, aber ich komme ohne Probleme durch. Ein andermal schreckt die ganze Herde auf und läuft mir entgegen. Ich gehe nicht weiter, sondern drehe um und gehe schnell zurück, zu aufgedreht scheint mir die Herde zu sein. Ich habe nicht weit zurück zur Straße und umgehe diesen Abschnitt auf einem Umweg.
Zwei tolle Schlafplätze lasse ich links liegen und spaziere noch weiter in Richtung Bristol, dass ich aber an diesem Tag nicht mehr erreichen werde. Vom Meeresarm weg, gibt es praktisch nur mehr eingezäunte Felder und Weiden, was das Finden eines Schlafplatzes erschwert.
Ich gehe, gehe und gehe, aber es findet sich nichts. Es ist schon neun Uhr Abends, da springe ich über einen Zaun und hinter einer nicht einsehbaren Hecke schlage ich mein Lager auf. Da meine Luftmatratze kaum mehr Luft hält, wird es sowieso nur eine kurze Nacht werden, da ich fast nichts mehr zwischen mir und dem kühlen Boden habe.
Es ist noch früh, als ich in Bristol eintreffe. Langsam schlendere ich Richtung Innenstadt. Auf dem Weg dorthin komme ich bei einem Outdoorladen vorbei, wo ich wegen des Ventil angefragt hatte. Ich sichte die Matten, aber es gibt keine unter hundert Pfund. Das liegt weit über meinem Budget.
Nur hundert Meter weiter ist ein anderes Geschäft und die haben eine Eigenmarke, mit gerade einmal 350 Gramm, allerdings schlechtem R-Wert. Die bisher beste Möglichkeit, aber schlechter als meine Uberlight, mit 170 Gramm und 2,3 R-Wert. Ob sie sich bewährt, werden die nächsten Tage zeigen.
Bristol ist eine coole Stadt, toll angelegt und mit zahlreichen Cafes und Restaurants. Dazu existiert eine tolle Kunstszene und ich fühle mich gleich wohl hier. Bei einem Punk-Friseur lasse ich mir die Haare schneiden und den Bart rasieren. In einem tollen Gespräch erzähle ich ihm über meinen Weg und die Krankheit und er gibt mir wertvolle Tipps für Bristol. Dazu motiviert er mich meine Vespa-Doku fertigzumachen, denn viele seiner Punk-Freunde sind in der Vespa-Szene und er meint, es wäre ein toller Schritt für mich, mich darüberzutrauen.
So erlebe ich Bristol von seiner schönen Seite und genieße zwei Tage Auszeit vom Gehen. Danach wartet der South West Costal Path (SWCP) auf mich, der mich nach Lands End und dem südlichsten Punkt Englands bringen wird.
Die Mission JOGLE bringt mir "Never give up!" nochmals näher.
Wichtig ist es mir, die Sache dahinter zu sehen. Manchmal möchte ich mehr, als ich kann oder draufhabe und dann wird es schwierig. Wie im Moment mit einer schlimmen Blase am Fuß, nach 6 Tagen bei "Across Britain". Daher höre ich darauf, was mir die Blase zu sagen hat.
Ich lege einen weiteren Ruhetag ein, um das Erlebte besser verarbeiten zu können und meine schmerzende Blase am linken Fuß ausheilen zu können. Darauf sollte ich hören, denn eine entzündete Blase kann schnell das endgültige Aus bedeuten.
Kilian Jornet, Trailrunner und Alpinist, hat recht damit, wenn er sagt, man solle nicht an Rennen und Ergebnisse denken, sondern an den Prozess und die Suche nach Fortschritten.
Der Focus soll darauf gerichtet sein, Fortschritte zu erzielen. Übersetzt auf mich heißt das, nicht die Fernwanderung ist das Ziel, sondern vielmehr, welche Fortschritte ich mit meinen Handicaps insgesamt erzielen kann. Ein Camino Frances oder Across Britain kann ein gutes (Zwischen-)Ziel sein, um konzentriert zu bleiben. Allerdings mein wahres Ziel bleibt, Fortschritte in körperlicher, wie geistiger Weise nach dem Hirnabszess zu erzielen.
Wäre die erfolgreiche Durchquerung von England mein Ziel, könnte ich mich danach hinsetzen und damit aufhören, weiter zu suchen. Suchen nach meinem persönlichen Fortschritt, wo es allerdings kein Ende gibt. Kein Gipfel, kein Jakobsweg, keine Fernwanderung, kann diesen persönlichen Fortschritt ersetzen, denn der liegt in mir selbst.
Allein, daß ich mich dem Ausgesetzt habe, nach Schottland zu reisen, ist für mich als Erfolg zu verbuchen, alles weitere ist eine Draufgabe. Möchte ich Abbrechen, ist es auch gut, denn dahinter steht ein Ziel, welches viel größer ist, als "nur" durch England zu gehen.
Letztens habe ich auf Facebook gepostet:
"Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe"
Seneca
Across Britain ist nur das Erreichen eines Zwischenzieles, also einer Stufe, denn das wahre Ziel liegt wie immer, weit dahinter.
Ich möchte als Mensch reifen und dazulernen, dass Maximum, was für mich möglich ist. Jedes Jahr wende ich diverse Zeit für (Fern-)Wanderungen und Jakobswege auf, im Gegensatz dazu trainiere und übe ich aber jeden einzelnen Tag auch zuhause.
Mein Focus liegt auf jeden dieser einzelnen Tage und letztendlich vertraue ich darauf, dass alles am Schluss zu guten Ergebnissen führt, ob auf Fernwanderung oder zu Hause. Früher waren es bei mir, Erfolge und Siege bei Radrennen zu haben. Das sollte aber nebenbei passieren. Heute sind Fernwanderungen und Jakobswege um konzentriert zu bleiben, mein Hauptziel ist es, wieder rein ins Leben zu kommen.
Meinen größten Sieg aber durfte ich bereits erleben, der mehr als jeder Sieg bei Radrennen zählt, nämlich den Hirnabszess zu überleben. Dieses neu gewonnene Leben (er-)leben zu dürfen und mit besonderen Inhalten füllen zu dürfen, ist so schön und damit bekommt auch Behinderung eine neue Bedeutung.
Manchmal vergesse ich allerdings darauf, werde aber schnell eines besseren belehrt. Meist mit Dingen, die nicht so lustig sind. Demut ist dann gefragt und nicht, mit dem Kopf durch die Wand, denn das erzeugt Schmerz!
Das Abenteuer "Across Britain" oder der in Großbritannien benannte JOGLE, hat begonnen. Zwei bis dreitausend Kilometer warten auf mich, je nachdem wie ich gehe. Im Hinterkopf geistert in mir herum, dass ich wieder alle vier Kardinalpunkte erreichen möchte, also die vier entferntesten Punkte aller Himmelsrichtungen.
Dazu müsste ich nach der Durchquerung noch weiter nach Brighton und hoch nach Lowestoft, dem östlichsten Punkt. Die reine Nord-Süd-Durchquerung wären etwa 2.000 km oder bis zum Ende des SWCP 2.500 km.
Für mich beginnt der Trip "Across Britain" in Thurso, der nördlichsten Stadt von England/Schottland. Von hier gehe ich zu Fuß zum nördlichsten Punkt nach Dunnet Head und weitere 30 km nach John o'Groats, dem offiziellem Startpunkt für die Durchquerung Großbritanniens.
Wetterglück empfängt mich, das heißt, blauer Himmel und Temperaturen tagsüber von 25 Grad. Die Nächte sind manchmal trotzdem kalt und vor allem sehr feucht. Ein guter Zeltplatz ist wichtig, sonst verliert man viel Zeit am nächsten Tag, mit Zelt trocknen.
Die Einheimischen leiden unter dieser "Hitzewelle", normalerweise hat es hier 17 Grad und viel Regen. Schon den ersten Tag verbringe ich praktisch nur in der Natur und im Grünen, gehe allerdings viel auf der Straße. Deshalb wird wahrscheinlich John o'Groats als Startpunkt angegeben.
Die Farben hier tun meiner Seele gut und ich kann nicht genug vom Grün bekommen. Ich entschließe mich dem John o'Groats Coast Trail zu folgen und nicht durch die Highlands zu gehen. Dort sind oft mehrere Tage zwischen den Ortschaften und für das Tragen von soviel Essen und Wasser ist mein Körper noch nicht so weit, dass musste ich erkennen. Diese zwei bis drei Kilo mehr machen bei meiner Muskelschwäche viel aus. Obwohl ich seit Jahren daran trainiere und übe, meine Muskelkraft und mein Bindegewebe hat sich nur minimal verbessert.
Tiefes Gras lässt mich meine Füße nicht sehen und so stolpere ich auf den engen Pfaden dahin. Hätte ich nicht so viele Kilometer in den letzten Jahren zurückgelegt, wäre es hier bereits aus gewesen. Jeden Tag ist eine Konzentration aufzubringen, die mich an die geistige Grenze bringt.
Ich brauche für jeden Schritt das Gehirn und dazu kommt, dass der Weg oft sehr schmal ist und immer außerhalb von Mauern entlang der Grundstücke führt, wo aber gleich die Abgründe ans Meer beginnen.
Oft geht es steil hoch oder runter zum Meer, dass ich manchmal sogar die Hände benötige. Bis Inverness bin ich acht Tage unterwegs und schlafe immer im Zelt. Hotels sind zu teuer und billige Herbergen kommen erst später. Bei Regen zu Zelten wird sicher eine Herausforderung, besonders wenn es einige Tage durch regnet.
In Inverness bin ich jetzt am achten Tag angelangt und mache eine Zwangspause, denn nach sechs Tagen bildete sich eine große Blase. Die letzten Kilometer humpele ich in den Ort, denn diese Blase hat mein System derart gestört, dass das Gehen zur Herausforderung geworden ist. Meine Propriozeption ist überlagert vom Schmerz und funktioniert gar nicht.
Dabei bin ich über vorsichtig mit den Füßen, aber diesmal hat keine Vorsichtsmaßnahme geholfen. Ein Fehler war sicher die Verwendung neuer Schuhe. Meine Hoka habe ich diesmal gegen Altra getauscht, was ich bitter bereue. Das Eingehen zu Hause hat nichts geholfen, aber auf die Schnelle habe ich keinen neuen Hoka daheim bekommen. Vielleicht bekomme ich in Inverness einen neuen, denn so kann ich nicht weitermachen.
Der Kocher, den ich mithabe, tut mir zwar gut, bringt mich aber über mein Gewichtslimit. Besser wäre es gewesen, ich hätte mich von Anfang an auf kalte Küche einstellen sollen und warmes nur gegessen, wenn ich unterwegs etwas finde. Bisher war es mir immer zu schade den Kocher und Titantopf wegzugeben, also nutze ich ihn eben doch. Der Geldbeutel freut sich dafür, der Körper und Krafthaushalt weniger.
Leider konnte ich mich noch immer nicht an die fummelig Arbeit mit dem Kochen gewöhnen. Einmal war das Wasser heiß und ich stieß den Topf um, dass sich das Wasser auf mir und dem daneben liegenden Rucksack ergoss. Wäre weiter nicht tragisch gewesen, wenn ich nicht mit dem Wasserhaushalt aufpassen müsste und am nächsten Tag nicht noch über drei Stunden ins nächste Dorf gehabt hätte.
Es blieben mir am nächsten Tag nur 500 mml zum Trinken, bei Hitze und Schwerstarbeit die steilen Hügel hoch und runter. Trotzdem werde ich den Kocher behalten, denn ihn wegzugeben ist zu schade und es kommen noch einsame Gegenden, wo ich ihn brauchen werde.
Bisher hatte ich nur wenige Begegnungen. An einem einsam gelegenen Haus am Weg sprach mich der Besitzer an und es entwickelte sich ein tolles Gespräch.
In Berriedale traf ich den jungen Einheimischen James, der seit einem Jahr im Haus seiner Großeltern lebt, der Programmierer ist und deswegen ortsunabhängig arbeiten kann. Auch hier entwickelte sich ein interessantes Gespräch, welches mir mehr über Land und Leute erklärt. Es ist sicher nicht einfach für junge Leute, hierher zurückzukommen. Danke nochmals für das Gespräch James, solltest es du lesen. 🙏
Weiters möchte ich noch David mit seiner Frau Julie erwähnen, die auch schon lange unterwegs sind und mir unterwegs entgegengenommen sind. Sie machen diesen Weg gemeinsam. Leider habe ich vergessen ein Foto zu machen, deshalb verlinke ich auf Ihren Facebook Kanal, wo sie über Ihren Weg berichten. 👍
Überhaupt fühle ich mich sehr wohl in Schottland und fühle mich fast heimisch. Die Menschen sind sehr freundlich und jederzeit hilfsbereit.
Dass es schwer werden würde, wusste ich. Allerdings, so schwer habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich komme öfter ans Limit, körperlich wie geistig. Den ersten Abschnitt habe ich jetzt hinter mir, mit den bereits angesprochenen Wehwehchen.
Aber es ist auch gut, herausgefordert zu werden, denn nur so komme ich weiter. Es ist jedenfalls eine neue Art des Gehens, als wie am Jakobsweg. Das Gehirn ist mehr angestrengt und ich lerne, mit den verschiedensten Verhältnissen klarzukommen und auch Lösungen zu finden.
Und wie sagt man auch:
"Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker!“
Soweit möchte ich aber nicht gehen, ständig meine Grenze auszuloten, denn eines ist mir klar, dieser Weg "Across Britain" kann sehr schnell zu Ende sein und ich möchte mich ja verbessern!