Drei Monate sind seit meiner Einlieferung vergangen. Die Tendenz ist zwar aufwärts, aber sehr langsam und mit einigen Auf und Ab. Trotz Schwindel und kaum Kraft wird an meiner Mobilität gearbeitet. Ich muss mich bewegen, wenn es täglich auch nur eine kurze Zeitspanne ist. Gehen lernen steht an.
Es heißt aufpassen. Der Grad zwischen „es geht“ und „es geht nicht mehr“, ist sehr klein. Ihn heißt es nicht zu übersehen.
Zweimal habe ich ihn bereits überschritten. Innerhalb weniger Augenblicke ist mir schwindlig und ich breche zusammen. Deshalb darf ich nicht ohne Begleitperson aus dem Bett. Im Normalfall eine Krankenschwester, im speziellen die Physio- oder Ergotherapeutin. Ein Rollstuhl ist Pflicht, ohne ihn geht nichts.
Meist passiert es nach Therapien, die mich immer besonders fordern. Im Normalfall fahre ich nach Therapien mit dem Rollstuhl zurück. Manchmal glaube ich, ich kann noch gehen, werde aber schnell eines besseren belehrt. Auf dem Weg zurück ins Zimmer habe ich dann meistens ein kurzes Blackout. Es geht so schnell, dass ich nicht mal mehr Zeit habe, mich hinzusetzen. Dabei ist es wichtig, dass mich die Begleitperson auffängt und kontrolliert zu Boden lässt.
Die Bewusstlosigkeit ist meist nicht von langer Dauer. Wenn ich wieder zu mir komme, liege ich seitlich und frage mich, was los ist. Mehrere Personen sind um mich herum, um zu helfen. Ich werde in einen Rollstuhl verfrachtet und zurück ins Bett gelegt. Die Beine hoch und nur mehr liegen. Das Bett verlassen darf ich an solchen Tagen nicht mehr und unter verstärkter Aufsicht bin auch die folgenden Tage. Meiner Ergotherapeutin Kerstin danke ich besonders für Ihre Hilfe und das Vertrauen.
Ich bekomme mehrere Arten von Therapien.
Alle Therapien helfen auf ihre Art, meine Defizite zu beheben oder besser damit umzugehen. Besonders wichtig ist mir die Physiotherapie, denn Gehen zu können ist mir essentiell wichtig. Noch glaube ich, dass es nur eine Frage der Kraft ist. Aber ich muss erkennen, dass die Technik genauso wichtig ist.
Noch weiß ich nicht, das es nicht nur von der fehlenden Kraft abhängt, dass ich gehen kann. Auch das neurologische spielt eine Rolle. Jedenfalls muss ich von Grund auf neu Gehen lernen.
Auch wenn ich früher Gehen konnte, ich muss es jetzt neu lernen. Besonders wie ich die einzelnen Körperteile und Muskeln zueinander bewege. Wie Training funktioniert, habe ich in vielen Jahren Leistungssport gelernt. Ich weiß, was ich für die letzten Prozent trainieren muss. Das alles hilft mir jetzt aber nicht. Ich weiß nicht, was es bedeutet, von NULL weg anzufangen.
Es ist so viel zu beachten, dass ich fast überfordert damit bin. Haltung, Technik, entspannt gehen, die Finger nicht verkrampfen – es ist zu viel auf einmal. Mein Gehirn kann sich derzeit nur auf eine Sache konzentrieren. Schaue ich zu stark auf die Technik, verkrampfe ich mit den Fingern und der Hand. Achte ich darauf das die Finger locker sind und damit die Handgelenke, neige ich dazu, zu aufrecht zu gehen. Ich bringe es kaum auf einen gemeinsamen Nenner.
Nach dem Geh-Training bin ich immer körperlich fertig. Das Ziel ist es, wieder automatisch zu funktionieren. Ein langer Weg steht mir bevor. Man bringt mir den Vergleich mit einem Kleinkind. Wie lange braucht ein Kleinkind zum Gehen lernen?
Am Anfang halte ich mich immer am Handlauf fest. Ich würde sonst umfallen. Die Gleichgewichtsstörungen sind zu stark. Nach und nach dehne ich das Gehen immer weiter aus. Erst 10, dann 20, dann 30 Meter. Im Wochentakt.
Bei Türen ist die Stange unterbrochen. Eine besondere Herausforderung, diese zu überqueren. Am Anfang stütze ich mich am Rand ab, oder lasse die Finger, leicht an der Wand oder Türe tippend, mitlaufen. An der anderen Hand berührt mich ganz leicht die Therapeutin. Verkrampfe ich, tippt sie mich leicht an der Handfläche an. Sofort lasse ich locker. So mache ich Meter um Meter. Immer wieder muss ich dazwischen sitzen und mich erholen.
Ich freue mich irrsinnig, als ich soweit bin, den Gang frei gehend entlang zu marschieren. Die Grenzen verschieben sich langsam, aber sie verschieben sich. Früher waren es 200 km mit dem Rad zu fahren, 100 km zu Laufen, auf einen 6000er zu steigen – das ist im Moment vorbei, für mich heißt es umdenken. Die Wichtigkeiten haben sich verschoben. Beim Gehen lernen relativiert sich viel.
Trotzdem sind die früheren Bilder wichtige Antreiber. Das Gehen strengt mich so an, dass sofort Bilder von Gipfelgängen auf hohe Berge hochkommen. Dort war Höchstleistung im Schneckentempo gefordert. Ähnlich wie jetzt.
Beim Gehen habe ich sofort einen hohen Puls. Der Denali in Alaska ist mein Favoriten bild. Schritt für Schritt dem Gipfel entgegen. Mit dem Unterschied, dass ich jetzt noch langsamer als damals unterwegs bin. Bei der geringsten Belastung schnellt mein Puls nach oben.
In etwa so stelle ich mir die Besteigung des Everest vor.Kurz vor meiner Krankheit sprach ich noch mit Clemens, meinem Rechtsanwalt. Er versuchte sich bereits zweimal am Everest. Er führt übrigens einen lesenswerten Blog über seine Bergbesteigungen unter www.dattinger.at. Mehr im Spaß, insgeheim aber wahrscheinlich doch im Ernst, sagte ich einmal, „Das nächste mal fahre ich mit!“. Aber wie das Leben so spielt, kurz darauf finde ich mich in meinem persönlichen Everest wieder. Zumindest brauche ich nicht so weit zu fahren.
Noch habe ich aber meine Hausaufgaben zu machen. Stiegen steigen ist als nächstes dran. Einige Tage nach der OP lerne ich zum ersten Mal die Stiegen auf der Neurochirurgie kennen. Mit bekanntem Ergebnis, wie im Blog 5 erzählt.
Zurück auf der Neurologie muss ich noch die Umstellung auf die neuen Antibiotika vertragen, ehe ich Stiegen steigen kann. Erbrechen und schlecht sein wechseln sich die folgenden Tage ab. Die Umstellungen sind notwendig, um das Abszess und Ödem einzudämmen. Solange es noch im MR zu sehen ist, habe ich diese Therapie fortzuführen. Außerdem bekomme ich ein Mittel zur Kreislaufstabilisierung, es hilft aber wenig.
Am 7.Juni geht es mir Vormittags nicht gut. Gegen ein Uhr kommt Lydia, meine Physiotherapeutin. Nach einer Massage macht sie mir einen Vorschlag. Ob ich nicht den Ergometer ausprobieren möchte. Und ob ich wollte. Mit dem Rollstuhl fahre ich in den Turnsaal und voller Freude setze ich mich auf den Ergometer. Zuerst noch mit Stufe 1, fahre ich bald auf Stufe 3. Es tut sooo gut.
Mein Kreislaufproblem ist wie verflogen und ich fühle mich gut, wie seit langem nicht. Es heißt aber aufpassen, dass ich nicht in der Euphorie übertreibe. Nach einer Viertelstunde ist Schluss. Ich kann fast nicht absteigen, meine Beine zittern. Ich bin aber zufrieden wie lange nicht, dabei steht mir das nächste Highlight noch bevor.
Um halb drei kommt Silvia. Sie nimmt den Rollstuhl und führt mich damit vors Haus ins Freie. Es ist für mich seit zweieinhalb Monaten das erste Mal im Freien. Ich sehe den Himmel, ich berühre das Gras, ich kann nicht beschreiben was ich empfinde. In meinem Tagebuch ist es erst der zweite Eintrag, seit ich es habe. In fast unleserlicher Schrift steht da: „Ich war wie im siebten Himmel!“.
Fünfzehn Minuten halte ich aus, dann geht´s wieder rein. Für mich waren diese fünfzehn Minuten einfach traumhaft. Gehen im Freien ist mir allerdings noch nicht möglich.
Auf die guten Tage folgen schlechtere. Am 13.Juni wieder einmal Umstellung der Antibiotika. Wieder muss ich erbrechen. Bis 17. geht es mir schlecht. Die Therapien sind verkürzt oder werden ausgelassen. Erst danach ist Gehen wieder möglich. An manchen Tagen werde ich für Dreißig Minuten mit dem Rollstuhl in den Tagesraum geführt. Körperlich bin ich am Boden. Solche Rückschläge sind nicht zu vermeiden. Aber ich weiß, es geht danach wieder aufwärts.
Gute Tage folgen. Und ich nütze sie, wo ich kann. Ich steigere die Meter beim Geh-Training. Einmal jogge ich sogar für zwei Minuten auf dem Laufband. Danach bin ich aber groggy. Es soll das einzige mal in fünf Monaten Krankenhaus sein, dass ich gelaufen bin. Es war einerseits frustrierend, andererseits war ich froh es tun zu können. Allerdings sehe ich gleich ein, dass es noch nichts bringt.
Wenn der Tag einen Meter dauert, sind es auf Zeit umgerechnet, nur zwei bis drei Zentimeter, die ich körperlich nutzen kann. Körperlich oder geistig besser gesagt. Es ist egal was ich tue. Gehen oder Denken, es ist beides gleich anstrengend und nimmt beider maßen von der mir zur Verfügung stehenden Zeit. Es ist also egal, ob ich in der Logopädie denke, in der Ergo greife oder in der Physio gehe. Ich habe ca. dreißig Minuten am Tag, die ich gezielt mit Therapien verbringen kann. Dauert es länger, schleppe ich mich halt dahin. Viel Ruhe ist daher wichtig. Mein Ziel ist es, diese Zeit immer mehr auszudehnen. Eben Step by Step Gehen lernen.
Mein größtes Handicap ist der Schwindel, das Gleichgewichtsgefühl und die Koordination. Nach vier Monaten im Krankenhaus schaffe ich es endlich, über fünfzig Meter zu gehen. Verunsichert bin ich darüber, wie langsam es voran geht. Ich glaube noch immer daran, dass ich nach dem Krankenhaus ein Monat in der Reha-Klinik verbringen werde und dann wieder fit bin.
Das Gehen lernen wird mir noch lange erhalten bleiben.
Die OP habe ich überstanden. Was kann jetzt noch kommen?
Zunächst einmal von den Strapazen der Operation erholen. Ich checke mich Körperlich wie geistig ab. Alles was mir bisher selbstverständlich schien -gehen, denken, essen - ist nicht mehr möglich!
Überhaupt gehören die Krankenschwestern, Pfleger, Therapeuten und Personal einmal besonders erwähnt. Sie leisten unglaubliche Arbeit, sind stets freundlich, auch wenn die Arbeit oft stressig ist. Darum kann ich nicht nachvollziehen, dass man als Patient unfreundlich ist. Man ist ja angewiesen auf sie.
Für mich ist es nicht selbstverständlich, dass mir so viele Handgriffe abgenommen werden. Auf jeden Fall bin ich jedem einzelnen unendlich dankbar für ihre/seine Arbeit. Ein großes Lob den Krankenschwestern, Pflegern, Therapeuten und Putzfrauen. Ich habe ein neues Bild von ihrer Arbeit und ihrem Tun bekommen. Es begleiteten mich in dieser Zeit viele. Ich habe mir kaum einen Namen gemerkt, aber die Gesichter vergesse ich nicht.
Es geht aber auch anders. Einige Tage nach meiner OP, kurz vorm Wochenende, kommt ein mir bis dahin unbekannter Arzt zur Visite. Wir sind alleine im Zimmer. Er sieht sich die Befunde an und meint, alles gut gelaufen, ich könne am Wochenende nach Hause gehen.
Ungläubiges staunen bei mir. Ich und nach Hause? Ich äußere Bedenken, aber er meint nur, "Was wollen sie noch hier? Erholen können sie sich auch zu Hause, dafür brauchen sie kein Spital!". Ich kann noch nicht so weit denken und bin total verwirrt. Auf jeden Fall weiß ich, in meinem Zustand nach Hause, dass geht auf keinen Fall.
Ich kann nicht einmal aufstehen, geschweige denn, komme ich alleine aufs Klo. Wer soll mir helfen? Die Situation wirkt so komisch und unreal, dass ich lachen muss. Der Arzt geht wieder und ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Ich möchte zwar heim, aber gleichzeitig weiß ich, dass geht noch nicht. Wie soll ich mit den Defiziten zu Hause klar kommen. Das kann er nicht ernst gemeint haben. Was soll das?
Am Nachmittag schaut meine Tante vorbei. Sie war vor ihrer Pensionierung im Medizinischen Bereich tätig und klärt vieles für mich ab und behaltet die Übersicht. Ich schildere ihr den Vorfall und trotz der Tragik, müssen wir lachen, das die Tränen fließen. Ich kann nicht alleine aufstehen und soll nach Hause gehen. Es ist zu komisch. Sie wird versuchen alles abzuklären.
Der Vorfall oben war nicht typisch. Es sind einige Ärzte mit meinem Fall betraut, ein Hirnabszess ist ja doch recht ungewöhnlich. Besonders erwähnen möchte ich den Chef der Universitätsklinik für Neurologie, Univ.Prof.Dr. Franz Fazekas. Immer wieder schaut er vorbei und seine Worte beruhigen mich.
Besonders in Erinnerung bleibt mir Dr.med.univ. Mohamed Dergham. Seine ruhige und bedächtige Art tut mir gut. Er war immer für mich und meine Angehörigen da und hat großen Anteil daran, dass ich soweit alles gut überstand. Ich bedanke mich hier bei allen beteiligten Ärzten für Ihre Arbeit, Unterstützung und Hilfe in allen Bereichen.
In den folgenden Tagen erhole mich langsam. Am dritten Tag nach der OP wird mir eine Physiotherapeutin zugewiesen. Sie hat eine etwas ruppige Art, aber ich komme ganz gut klar damit. Unter ihrem Training steige ich zum ersten Mal Stufen hinauf. Allerdings, ich muss sie auch wieder hinunter. Und das hat Folgen für mich. Ich habe derart verkürzte Muskeln und außerdem keine Kraft, das Bergab gehen fast unmöglich ist. Ich muss aber wieder hinunter.
Erst, wenn ich auf der unteren Stufe den Fuß ganz aufsetze, kann ich auch den oberen entlasten und nachziehen. Ich würde sonst umfallen. Eine riesige Belastung für die Bänder und Muskeln. Der Schwindel ist sowieso immer gegenwärtig. Ich habe mir dabei nicht nur einen Muskelkater geholt, sondern auch die linke Wade gezerrt. Stufen steigen ist in den nächsten Tagen somit gestrichen und auch im Flachen gehen wird schwierig.
Die Unwissenheit belastet mich. Niemand weiß genau was los ist, immer wieder höre ich anderes. Muss ich nach Hause, komme ich zurück auf die Neurologie, komme ich auf Reha nach Judendorf. Keiner weiß etwas, will oder kann es mir sagen. Ich bin so verwirrt und kann nicht denken. Wieder einmal.
Ich bin abhängig davon, dass für mich gedacht und entschieden wird. So sehr ich mich auch mit dem Denken anstrenge, ich komme zu keinem Schluss. Ich weiß nicht, wie ich weiter denken kann. Ich habe auch nicht die Kraft dazu, besonders jetzt nach der OP.
Wer so etwas nicht selbst erlebt hat, kann es nur schwer nachfühlen. Mein Umfeld versteht es kaum, dass es mir nicht möglich ist, einen Gedanken zu Ende zu bringen, dass er plötzlich weg ist.
Am Montag, den 2.Juni, dann die Erlösung. Ich darf zurück auf die Neurologie in mein altes Bett. Endlich ist alles geklärt. Meine Tante konnte alles regeln. Es war ein Missverständnis zwischen Neurochirurgie und der Neurologie.
Über Mittag werde ich in mein altes Zimmer überstellt. Meine Zimmerkollegen haben inzwischen gewechselt. Alle Betten haben neue Besitzer. Ich bin körperlich so schwach, dass ich kaum jemand wahrnehme, geschweige denn mit jemand reden kann. Wieder einmal möchte ich nur schlafen. Die OP kostete mir viel Kraft.
Auch die folgenden Tage unterhalte ich mich kaum mit jemanden. Therapien sind nur kurz zwischen den vielen Antibiotika möglich. Ich bekomme ungefähr 15 Infusionen täglich. Verschiedene Antibiotika und das fünf mal am Tag. Deswegen auch die große Müdigkeit. Ich fühle mich wie von einem anderen Stern. Die OP war anstrengender als gedacht.
Es ist noch ein Rest des Abszesses im Gehirn. Es war bei der OP bereits Gel artig und sie haben nicht alles herausbekommen. Die Ärzte möchten noch eine Bebrütung der Flüssigkeit abwarten und dann eine Umstellung wagen.
Am 7. Juni 2016 gehe ich zum ersten Mal eine längere Strecke. Unter den Augen der Physiotherapeutin schlage ich mich wacker. Es sind an die vierzig Meter, die ich in einem Stück schaffe. Zurück brauche ich allerdings mehrere Sitz pausen.
Ich trainiere hart in den nächsten Tagen. Aber was ist hart? Mehr als eine halbe Stunde bin ich nicht belastbar. Trotzdem ist es hart. Ich möchte es fast mit Intervall Training im Sport früher vergleichen. Mein Puls ist sofort oben, bei der geringsten Bewegung. Die vielen Infusionen tragen ihr übriges dazu bei. Die Logopädie kann ich auch während der Infusionen machen.
Beim Ergo Training ist nach 15 Minuten Schluss. Selbst der Weg zum Ergo Raum zählt zum Training. Obwohl es nur Zwanzig Meter sind. Nach einer halben Stunde bin ich erledigt. Zurück werde ich meist im Rollstuhl geschoben.
Nach einer weiteren Woche entscheiden die Ärzte, dass ich auf die Zahnklinik soll. Mein Abszess ist von Bakterien aus dem Mundraum entstanden. Die Zähne gehören dringend saniert. Wie ich jetzt erfahre, wurde mir bereits im März ein Zahn gezogen. Ich kann mich daran nicht erinnern. Das einer fehlt, habe ich bis jetzt nicht wahrgenommen.
Mit dem Rollstuhl geht es zur Zahnklinik. Zum ersten Mal so weit im Freien im Rollstuhl fahren, es ist eine Wohltat. Ich atme die frische Luft ein und genieße den Weitblick.
In der Zahnklinik dann etwas Bangen. Zwei Zähne sollen gezogen werden. Ich sitze am Stuhl und lasse wieder einmal alles über mich ergehen. Allerdings, wie der zweite Zahn gezogen wird, überkommt mich eine Art Befreiung. Ich fühle mich plötzlich leicht und frei. Ich bekomme noch auf einem Zahn eine Wurzelbehandlung und werde dann mit dem Rollstuhl zurück gefahren.
Trotz der Behandlung, ich habe noch immer ein eingespritztes Gesicht, geht es mir großartig. Mit dem Ziehen der Zähne habe ich im selben Augenblick eine neue Lebensqualität bekommen. Nach langer Zeit bekomme ich das Gefühl, das es Aufwärts geht.
Die Moral von dieser Geschichte, wie schon im vorigen Beitrag erwähnt:
"Pass auf was du denkst!"
und
"Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare!"
Christian Morgenstern, 1871 - 1914
Unser denken wird im Körper sichtbar! Wir könnten vieles schon früher ändern. Spätestens wenn es am Körper sichtbar wird, ändern die meisten. Mancher geht aber auch da noch drüber.
Überstellung von der Neurologie auf die Neurochirurgie des LKH Graz.
Am 13. Mai 2016 gibt es eine Verschlechterung meiner Werte. Ich darf wieder einmal in die Röhre, d.h. zur Magnetresonanz Untersuchung. Dieses Prozedere ist für mich mittlerweile schon zur Routine geworden. Danach wird mir eröffnet, dass doch am Gehirn operiert wird. Eine, angeblich, nicht zu gefährliche OP.
Am 23.Mai werde ich auf die Neurochirurgie verlegt. Da mir beim Gehen noch immer schwindlig wird, bekomme ich einen Rollstuhl. Das Einsteigen in den Rettungswagen ist nicht ohne Mühe. Meine Beine sind zu schwach für die Stufen. Dazu leicht gebückt durch die Tür in den VW-Transporter.
Mit Hilfe der Sanitäter schaffe ich es. Von der Neurologie bis zur Chirurgie ist es nicht weit, aber so lange aufrecht im Wagen zu sitzen, ist für mich anstrengend. Der Schwindel lässt auch nicht lange auf sich warten. Der Transport ist für mich am Limit. Ich bin froh, dort in der Chirurgie anzukommen.
Schon nach wenigen Tagen im Liegen baut der Körper Muskeln ab. Bei mir dauert es nun schon fast zwei Monate, dass ich nicht wirklich aufstehen kann. Dementsprechend mein Zustand. Zweimal am Tag soll ich auf die Beine, was aber nicht immer gelingt. In der Waagrechten liegen ist auszuhalten. Aufzustehen ist anstrengend und wegen des Schwindels fast nicht möglich. Dazu soll ich mich einmal am Tag in den Besuchsraum setzen, was mir aber oft zu lang ist. Länger als fünfzehn bis zwanzig Minuten sind nicht drinnen.
Am Anfang, schon auf der Intensivstation, bekam ich Mullbinden für die Beine. Auf der Normalstation dann später Thrombose-Strümpfe, auch Kompressionsstrümpfe genannt. Sie setzt man vorbeugend ein. Sie unterstützen die Venen durch erhöhten Gewebedruck von außen, wodurch der Blutrückfluss erleichtert wird. Am Anfang hilft mir täglich jemand, sie anzulegen.
Meine Motivation oder besser gesagt, mein Ehrgeiz etwas selbständig zu machen, ist so groß, dass ich schon nach kurzer Zeit versuche, die Binden selbst an- und abzulegen. Das Aufrollen der sechs Binden ist dazu ein täglicher Teil meiner Therapie geworden. Ich verwende dafür nur die rechte, gelähmte Hand. Am Anfang noch "potschert", wie man bei uns sagt, rolle ich sie nach zwei Monaten, schon mit Übung, recht schön ein. Ich brauche dafür zwischen einer halben und einer ganzen Stunde. Oft schlafe ich dazwischen ein.
Meine Beine sind seit der Einlieferung, um die Hälfte dünner geworden als vorher. Mein Oberkörper und mein Gesicht sind durch die vielen Medikamente aufgeschwemmt. Ich wirke dick, habe aber trotzdem sechs Kilogramm verloren. Nach zwei Monaten sehe ich mich zum Ersten mal im Spiegel. Ich erkenne mich fast nicht wieder. Erschreckt über mein Aussehen, motiviert es mich aber doch, wieder dorthin zu kommen, wo ich früher einmal war. Mein Lebenswille war von Anfang an stark und ich habe mich so gut wie nie fallen gelassen.
In den schweren Stunden, die es freilich auch gab, hatte ich immer ein Ziel vor Augen. Mein Sportlerleben als Radrennfahrer hat mir da sehr geholfen, ebenso das Trailrunning.
Mein klares Ziel ist es, wieder am Hochschwab unterwegs zu sein. Ich bin in Gedanken gelaufen, habe die Aussicht genossen und im Freien übernachtet. Diese Bilder waren enorm wichtig für mich. Sie waren die Motivation, den Alltag im Spital zu überstehen.
Diese und andere Bilder sind es auch heute noch. Die Klarheit, mit denen ich sie sehe und in Gedanken erlebe, sind für die Zukunft wichtig. Ich denke zwar nicht an die Zukunft, trotzdem sind diese Bilder zum Visualisieren ein Grundbaustein dafür.
Dazu eine kurze Geschichte, die die Wichtigkeit unserer Gedanken unterstreicht. Ein Freund - (Ein Danke dem Guido fürs Zusenden) - schickte mir einen Film über Gehirnforschung. Darin erzählt ein Arzt über seine Studie:
Die eine Gruppe Testpersonen saßen an einem Klavier. Mit fünf Fingern sollten sie täglich, am Klavier, eine bestimmte Zeit lang, eine Tonleiter rauf und runter spielen, jeweils ein Finger ein Ton. Im Laufe der Studie wurde immer wieder mittels MR die Gehirnregion überprüft. Nach einiger Zeit des Üben wurde ein Teil des Gehirns, der für die Motorik bestimmt ist, immer größer.
Deshalb ist üben, üben und nochmal üben für eingeschränkte Teile so wichtig, um die Motorik wieder zu erlangen. Das interessante aber kommt noch.
Gleichzeitig war auch eine Parallelgruppe tätig. Die gleiche Zeitdauer, das gleiche Klavier, dieselbe Übung. Nur ein Unterschied. Sie saßen nur vor dem Klavier, die Hände ruhig gestellt. Sie mussten sich vorstellen, sie spielen auf dem Klavier. Das Ergebnis war verblüffend. Auch bei dieser Testgruppe wuchs das Gehirn, im selben Areal, gleich groß wie das der anderen Gruppe.
DIE ERKENNTNIS DARAUS FÜR UNS: Pass auf was du denkst!
Man kann auch destruktiv denken! Warum ist mir das passiert, ist dann meist die Frage? Viele verzweifeln daran. Auch ich habe mir diese Frage gestellt. Ich erkannte sehr schnell, das Hirnabszess war ein Ergebnis meiner Gedanken. Leider erkennen wir das oft nur im Nachhinein.
Besser wäre es, seinen Gefühlsregungen zu vertrauen und danach zu Handeln. Nicht leicht, zugegeben. Man wird leicht auf die falsche Fährte geschickt. Mir war es jedenfalls auch nicht möglich. Aber nicht jeder muss es auf eine Krankheit ankommen lassen, wie ich. Beim nächsten Unfall, sei es nur, man hat sich in den Finger geschnitten oder einer einfachen Krankheit. Man kann hinterfragen, was davor nicht so rund gelaufen ist.
Bei mir war da einiges unrund. Und ich war nicht in der Lage, es zu lösen. Mehr zu den Gedanken werde ich in den kommenden Blogs schreiben.
In der neurologischen Chirurgie werde ich sehr freundlich empfangen. Ich hatte sofort das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. Zu meiner Überraschung bekomme ich ein Einzelzimmer. Es tut gut allein und abgeschottet zu sein. Die Operation ist für den nächsten Tag angesetzt, wird aber um einen weiteren Tag verschoben, da eine Notfall-OP dazwischen kommt. Bei meiner langen Aufenthaltsdauer bisher aber kein Problem.
Ich lerne am Abend meinen Operateur kennen, der den Eingriff vornimmt. Wir besprechen kurz was geschieht und wie der Ablauf ist. Ich höre es zwar, kann aber nur wenig davon aufnehmen. Wichtiger ist mein Vertrauen. Es ist groß. Ich habe mein Leben in etwas übergeordnetes gelegt. Es wird das Beste für mich geschehen. Was das Beste ist? Ich weiß es nicht. Dazu fällt mir mein Leitspruch ein:
"Es ist gut so wie es ist, weil es ist und nicht, weil es gut ist!"
Am dritten Tag dann, nach Ankunft auf der Chirurgischen Neurologie, der Tag der OP. Ein Pfleger holt mich vom Zimmer ab und bringt mich per Rollstuhl auf die OP-Station.
Bei der Vorbereitung lasse ich alles über mich ergehen, noch nicht wissend, was mir bevor steht. Die linke Seite der Haare wird mir weg rasiert. Der mir schon bekannte Arzt, der mich operieren wird, betritt das Zimmer. Noch denke ich mir nichts dabei. Aber als er ein Metallgestell hervorzieht, ahne ich schlimmes. Ich beruhige mich, denn damit wird mein Kopf befestigt, nicht weiter schlimm. Allerdings, über das Wie habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Ich erfahre es aber gleich.
Wie im Mittelalter wird mir das Gestell mit vier Schrauben einfach am Kopf festgeschraubt. Durch die Haut bis auf den Knochen, wird es fest fixiert. Die Narben auf der Stirn werden mich noch längere Zeit begleiten. Schmerz verspüre ich nicht.
Im OP Saal dann eine locker gelöste Stimmung. Ich kann den Kopf nicht bewegen, trotzdem bekomme ich mit, dass sich eine Menge Leute um mich kümmern. In leicht sitzender Stellung werde ich fixiert. Wäre ich nicht selbst der Patient, es wäre sicher spannend, hatte ich doch schon mehrere Operationen für eine Ärzte-Serie im Fernsehen gefilmt.
Diesmal bin ich aber selbst der Protagonist und ich werde die Operation ebenfalls live, bei vollem Bewusstsein mitbekommen. Noch eine Betäubung an der Schädelhaut und los gehts. Einzig das Öffnen des Schädels höre ich am Geräusch. Es ist wie das Knacken einer Nuss. Dann spüre ich nichts mehr, höre nur ab und zu ein Schaben.
Man hält mit mir immer wieder über small Talk Rücksprache. Jemand fragt mich über die Kinder, Arbeit und ähnliches. Dabei wird überprüft, ob ich noch normal antworte und keine anderen Teile des Gehirns verletzt werden. Außerdem lenkt mich das Gespräch von der Operation ab, die rund eine Stunde dauert.
Danach komme ich auf die Aufwach-Station. Leicht benommen von der OP, überkommt mich dort eine Müdigkeit. Schmerzmittel lehne ich ab, ich brauche keine. Nach einer weiteren Stunde bringt man mich zurück auf das Zimmer. Die OP ist soweit zufriedenstellend verlaufen. Nur wegen dem Zusammennähen der Kopfhaut spüre ich ein eigenartiges Ziehen, welches bis heute anhält.
Wegen meinem mit Antibiotika zugedröhnten Körper und einer dadurch verminderten Wahrnehmung, habe ich die Operation soweit gut überstanden. Für mein Umfeld war es allerdings nicht so locker. Sie hatten andere Informationen, von denen ich allerdings nichts wusste. Nichts von der Gefährlichkeit, der Unsicherheit oder wie es sich weiter entwickeln konnte. Es war ein Bangen und Hoffen für alle zu Hause.
Große Erleichterung, als die Meldung kam - "Alles gut gegangen!".
Zu oft war bei Gehirnoperationen schon etwas schief gelaufen. Wie bei Monica Lierhaus, der ARD Sportmoderatorin. Bei ihr platzte ein Gefäß während der OP. Sie hat ein berührendes Buch über ihr Schicksal darüber geschrieben. Dieses und das Buch von Gela Allmann, haben mir sehr geholfen, die Krankheit aufzuarbeiten und besser zu verstehen. Wobei, aufgearbeitet ist es noch immer nicht.
Mein Denkvermögen ist zwar schon besser, aber noch immer stark beeinträchtigt. So wird es noch Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis ich wieder hergestellt bin. Es sind eben viele Baustellen. Mein Denkvermögen ist nur eine davon. Gehen und Bewegung sind die anderen. Alle sind wieder in viele einzelne zu unterteilen, wo mir wegen der vielen Therapiemöglichkeiten nicht langweilig wird.
Mit der OP auf der Neurochirurgie war es aber noch nicht vorbei. Mir sollten noch weitere drei Monate im Krankenhaus bevorstehen.
Bevor es mit meinen Erlebnissen auf der Normalstation der Neurologie weiter geht, zu etwas Aktuellen.
Letztes Wochenende fuhr ich das erste Mal von zu Hause weg. Ich nahm am Karma Yoga des Buddhistischen Zentrum in der Südwest Steiermark teil. Dabei ging es um Achtsames arbeiten. Meine Leistungsfähig war zwar noch beeinträchtigt, aber zumindest Gras zupfen ging schon. Es war ein gutes Ergo Training, mit meinen gefühlsarmen Fingern das Gras zu greifen.
Auf dem Weg dort hin, durfte ich wieder die Vergänglichkeit des Lebens mitbekommen. Ich erhielt die Nachricht das Ueli Steck, ein begnadeter Bergsteiger, im Everest Gebiet tödlich abgestürzt war.
Ich hatte Ueli beim Eiger Ultra Trail 2013 kennengelernt, wo ich für ein Filmprojekt einen Film-Dreh hatte. Unter anderem führte ich ein Interview mit ihm und hatte Gelegenheit, mich privat mit ihm zu unterhalten.
Seine Art zu sprechen, seine Bilder, aber noch mehr sein Tun, war sehr inspirierend für mich. Die Jahre darauf verfolgte ich sein Tun mit großem Interesse.
Es macht mich traurig und betroffen das Ueli gestorben ist und das mit nur vierzig Jahren.
Sein Tod hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben und das zu machen, was man wirklich möchte, da man nie weiß, wann das Leben zu Ende ist.
Auch für mich war nach der Krankheit Zeit, Résumé über mein bisheriges Leben zu ziehen.
Habe ich wirklich gelebt oder wurde ich gelebt. Wie viel Zeit habe ich genutzt oder vergeudet? Was machte in meinem Leben Sinn, was machte keinen Sinn?
Ich konnte es mir nur schrittweise erarbeiten, denn weiterführendes Denken war lange nicht möglich. Auch heute ist es noch schwer, an Vergangenheit oder die Zukunft zu denken. Wenigstens kann ich mich schon ein wenig mit weiterführende Denken beschäftigen. Nur als Beispiel, für einen Artikel wie diesen, brauche ich mehrere Tage. Und das Niederschreiben hilft mir es weiter zu verfolgen.
Aber weiter mit dem Résumé meinen Leben. Vor der Krankheit war es auch schon Thema, aber mit dem Stress, dem heute fast jeder ausgesetzt ist, hatte ich keine Zeit, mich damit auseinander zu setzen.
Mein Schluss war - Ja, ich habe mein erstes Leben bisher gelebt. Ich habe so viel erlebt, gesehen und gemacht. Ich kann zufrieden sein. Allerdings - mein Freund Harry würde jetzt sagen: „Friede und zu (den Sarg)!“. Und da hat er in gewissem Sinn recht. Es wäre auf diese Art nicht mehr weiter gegangen. Ich war sprichwörtlich tot.
Aber ich habe die Chance auf ein zweites Leben bekommen. Mein Freund Alexander hat einen Link auf Facebook geteilt, wo eine 101-Jährige an der 100 m Staatsmeisterschaft teilnahm. Nach ihr hätte ich jetzt Halbzeit, habe also die nächsten 50 Jahre Zeit, ein neues Leben zu gestalten.
Ich sehe jetzt viele Dinge anders als früher und reagiere auch anders. Und, um wieder auf Ueli Steck zurückzukommen, ich möchte jeden Abend das Gefühl haben, etwas Sinnvolles getan zu haben. Ueli hat es mit Sicherheit für sich getan.
Ein Kaufmann wurde einmal gefragt: “Wie alt sind Sie?”
Er antwortete: “Dreihundertsechzig Jahre.”
Der andere konnte es nicht glauben. Er sagte: “Wie bitte? Können Sie das wiederholen? Vielleicht habe ich mich verhört.”
Der Kaufmann rief laut: “Dreihundertsechzig Jahre?” Der andere sagte: “Verzeihung, aber das kann ich nicht glauben. Sie sehen nicht älter als sechzig aus.”
Der Kaufmann antwortete: “Sie haben auch recht. Was den Kalender angeht, bin ich sechzig. Aber was mein Leben angeht, habe ich sechsmal so viel gelebt wie alle anderen. In sechzig Jahren habe ich es geschafft, Dreihundertundsechzig Jahre zu leben.”
Ich habe damals auch einen Film über den Eiger Ultra Trail gemacht. Wer Lust und Laune hat, kann ihn sich hier anschauen.
Endlich! Nach vier Wochen durfte ich die Intensivstation verlassen. Ich konnte es gar nicht glauben. Zuerst war ich noch vier Tage auf der Überwachungsstation und wurde dann in ein normales 4-Bettzimmer der Neurologie verlegt. Hier herrschte ein anderer Ton. Wecken war um 6h30, zwischen 7 und 8 Frühstück, dann haben die Therapien begonnen. Alles war viel lauter als in der Intensivstation.
Mein Zustand war noch immer sehr gebremst. Aufmerksamkeit, Konzentration, Gehen, Sprechen - es war alles mühsam. Ich war zwar draußen aus der Intensivstation, aber kräftemäßig am Boden. Besuch vertrug ich noch immer nicht. Eine sinnvolle Verständigung war mir nicht möglich.
Einzig auf Silvia und meine Tante freute ich mich. Abwechselnd kamen sie einmal wöchentlich. Silvia brachte mir emotionale Kraft. War ich zu müde zum Reden, reichte es mir, wenn Silvia meine Hand hielt. Mehr Verständigung brauchte ich nicht. Meine Tante brachte die andere Seite ein. Frische Wäsche und Unterhaltung, soweit dies ging. Zu mehr war ich noch nicht fähig.
Der Tagesablauf war immer derselbe. Um 6h30 kam der Morgendienst. Fieber, Blutdruck und Puls messen, Austeilen der Medikamente, beginn der Morgenwäsche. Ich wurde im Bett gewaschen oder konnte mich teilweise selbst waschen. Zwischen 7 und 1/2 8 Uhr wurde das Frühstück gebracht.
Mein Tagesplan im Einzelnen:
So sah mein Tagesablauf über Wochen aus. Seit Beginn auf der Intensivstation bekam ich Antibiotika. Ich weiß nicht mehr wie oft am Tag genau, aber es war jedes Mal eine Antibiotika-Bombe. Und das sicher fünf bis sechs Mal am Tag, über Infusionen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich vorher Antibiotika zu mir genommen. Dementsprechend war die Wirkung. Nach Umstellungen ging es mir immer besonders schlecht. Ich erbrach und hatte ein flaues Gefühl. Es dauerte immer drei bis vier Tage, bis ich mich einigermaßen daran gewöhnt hatte.
Nebenbei musste ich wieder gehen lernen. Die Basis dazu hatte ich noch in der Intensivstation gelegt. Der Anfang war nur aufstehen und stehen. Später auf der Reha Station der Neurologie begann ich mich am Bett entlang hanteln. Erst nach zwei, drei Wochen erreichte ich meinen Kasten. Der Schwindel behinderte mich lange. Deswegen durfte ich nur mit Begleitung gehen. Selbst die kleinsten Erledigungen innerhalb des Zimmers, geschahen unter Aufsicht.
Nach Wochen konnte ich zum ersten mal aus dem Zimmer gehen. Fünfzehn Meter auf den Gang und zurück. Bis dahin hat sich mein Leben im Zimmers abgespielt. Einzig aufs Bad/WC konnte ich im Rollstuhl gefahren werden. Erst nach viereinhalb Monaten durfte ich ohne Begleitung gehen.
Die Neurologie hat ihre eigenen Gesetze. Das musste ich schmerzlich anerkennen.
In den ersten Tagen bekam ich von meiner Logopädin einen Zettel zum Ausfüllen. Da erfuhr ich, dass ich unter Wortfindungsstörungen litt. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich funktionierte meines Erachtens doch normal.
Und was sollte dieser Fragebogen, das konnte ja jeder leicht ausfüllen. Na ja, schreiben ging schwer bis gar nicht. Aber ich probierte es doch. Und dann kam die Überraschung. Nur nach langem Überlegen fand ich die gesuchten Wörter und konnte sie mit noch größerer Mühe schreiben.
Eine andere Aufgabe war das Finden von Wörtern, zum Beispiel das Aufzählen von verschiedenen Gemüsesorten in einer Minute. Ich startete schnell mit Paprika und dann..... nichts!
Ich überlegte und überlegte. Mir fiel nichts ein. Absolut nichts. Ich war schockiert. Wortfindungsstörungen, ich kannte das gar nicht. Mir ist beim ersten Mal tatsächlich nur ein Stück Gemüse eingefallen. Später steigerte ich auf drei, noch später auf fünf und mehr.
Das Gehen steigerte ich in den folgenden Wochen auf vierzig bis fünfzig Meter. Der Rollstuhl war trotzdem mein ständiger Begleiter. Die Gefahr des Schwindels, bis hin zum Ohnmächtig werden, war immer gegenwärtig.
Und das ging recht schnell. Deswegen brauchte ich auch Begleitung an meiner Seite. Innerhalb weniger Sekunden wurde ich ohnmächtig. Trat der Fall ein, wurde ich aufgefangen, am Boden hingelegt und mit dem Rollstuhl zurück ins Zimmer gefahren. Das war dann jedes Mal ein Trara. Deshalb schaute ich darauf, mich früh genug hinzusetzen und Schwindel gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die erste Zeit war ein Kampf um Millimeter. Beim Greifen, beim Gehen und Stück weises erinnern und merken. Die Neurologie war eine neue Erfahrung.
„Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist aufzuwachen – diese Zeit ist jetzt!“
(Buddha)
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als ich auf die Intensivstation kam, an einzelne Abläufe nicht mehr. Sie sind weg, wie so vieles andere auch.
Es ist Ostersonntag, der 27. März 2016, was mir aber egal ist. Ebenso die Kinder, die eigentlich Ostereier suchen möchten. Ich möchte nur liegen und schlafen und nehme nichts um mich wahr.
Ich fühlte mich gar nicht so schlecht. Mein Denken war zwar auf ein Minimum reduziert, aber ich konnte nicht anders. Nichts hatte eine Bedeutung, eine Wichtigkeit. Ich war da, aber zugleich weggetreten.
Ich weiß nur noch, dass es mir furchtbar schwindlig wurde, wenn ich aufstand. Liegen war das Beste. Ich glaubte noch immer an eine Grippe.
Antworten auf Fragen, von Silvia oder den Kindern an mich, müssen auf jeden Fall verwirrend gewesen sein, denn am Ostersonntag ließ mich Silvia vom Roten Kreuz ins LKH-Graz einliefern.
Das folgende Prozedere ließ ich über mich ergehen, heute ist es wie eine verwaschene Erinnerung. Ich wurde untersucht, hatte eine CT, daraufhin ein MR und verschiedene Stationen zu durchlaufen.
Am Ende des Tages war ich froh, endlich in einem ruhigen Bett angekommen zu sein. Alles war mir egal, egal wo ich war, egal was man mit mir machte. Ich wollte nur mehr schlafen, ich konnte nicht mehr „denken“, ich war wie ausgeschaltet.
Die Zeit in der Intensivstation nahm ich gar nicht als bedrohlich wahr. In den kurzen Gedanken, die ich hatte, fragte ich mich, was ich hier überhaupt tat. Ich konnte nicht nachempfinden, was mit mir los war.
Mit jedem Tag wurde das Sprechen schlechter. Ich konnte das gar nicht richtig wahrnehmen, weil ich es nicht so empfunden habe. Besuch wollte, oder besser gesagt, konnte ich gar nicht empfangen. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn nach 10 Minuten war ich so erschöpft, dass ich nur noch die Augen schließen wollte.
Bald bemerkte ich, dass meine rechte Hand immer schlechter greifen konnte. Anfangs wollte ich es nicht beachten, doch immer öfter kam ich in Schwierigkeiten. Schneiden, oder das Messer zu halten, war bald nicht mehr möglich. Ich machte mir zwar darüber Gedanken, aber meine Denkdauer war sehr kurz, ich musste von Mal zu Mal neu beginnen und konnte nichts zu Ende denken. Ein ewiger Kreislauf.
Für unnötige Gedanken war keine Energie da. Als ich schlussendlich nur mehr einen Löffel mit der linken Hand halten konnte, wusste ich, jetzt sitze ich ziemlich tief in der Sch…..!
Zugleich kam etwas anderes auf. Ich saß nämlich wirklich in der Sch....! Ich musste nämlich aufs Klo. Der Urin wurde im Harnbeutel gesammelt, aber was war mit dem Stuhl? Denn ich merkte nicht, wann er kam. Er war einfach da. Für mich, dem Einzelkämpfer, ein schwieriges Unterfangen. Wenigstens konnte ich nicht viel darüber nachdenken. Das war wohl die erste Lektion für mich - DELEGIEREN und VERTRAUEN.„
Das war unglaublich für mich. Für ihn war es selbstverständlich – es gehörte zu seiner Arbeit. Es so vermittelt zu bekommen, machte mir die Sache leichter.
Denn es sind die vielen Kleinigkeiten, die sich summieren und die einem Gesunden nicht einmal auffallen. Ich musste mich nämlich auf die Seite legen beim Putzvorgang. Ich war aber so kraftlos, dass es Schwerstarbeit wurde, mich auf die Seite zu drehen. Jetzt war ich langsam wirklich bei null angelangt.
Zum Hirnabszess kam auch noch ein Ödem. Das drückte auf meinen Thalamus. Der Thalamus vorverarbeitet alle Informationen im Gehirn, die der Großhirnrinde zugeführt werden. Er entscheidet darüber, welche Informationen im Augenblick so wichtig für den Organismus sind, dass sie ins Bewusstsein gelangen sollen.
Er wird auch das „Tor zum Bewusstsein“ genannt. Je nachdem, welche Gehirnhälfte betroffen ist, sind die Störungen auf der entgegengesetzten Körperseite. In meinen Fall die rechte Seite, mit Sensibilitätsverlust, Ataxien (Störungen der Bewegungskoordination), und Hemiparese (unvollständige Lähmung einer Körperseite).
Na Bumm, zum Glück wusste ich nicht viel davon. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Silvia hielt alle negativen Dinge, Gedanken und Emotionen fern von mir. Es sollte mich nichts belasten. Ich war total abgeschirmt von draußen. Besuch erhielt ich nur von Silvia und meiner Tante. Ich freute mich jedes Mal, wenn Silvia kam.
Aber mehr wie eine Viertelstunde war nicht drin. Zu mehr Aufmerksamkeit reichte es nicht. Daliegen und nichts denken, das war mein tägliches Programm. Mit schlafen und in die Luft schauen verbrachte ich die meiste Zeit.
Zum Glück wusste ich nicht um die Gefährlichkeit meiner Lage. Es wurde nur deswegen nicht operiert, weil der Abszess so tief lag. Die Ärzte haben es mit hoch dosierten Antibiotika Gaben behandelt, weil eine Operation in ihren Augen zu gefährlich war. Das alles wusste ich zum damaligen Zeitpunkt nicht.
Es kam später auch eine Ergo-Therapeutin hinzu. Bereits in diesem Stadium begann die Mobilisierung. Auch wenn es nur oft 10 Minuten am Tag waren, hilft es sehr für später. Ich versuchte, das Beste aus mir heraus zu holen. Mein Aufenthalt sollte so kurz wie möglich sein. Dachte ich mir zumindest – soweit ich denken konnte. Das Sprechen wurde immer anstrengender und kraftraubender.
Mittlerweile hatte die Lähmung auch Teile meines Gesichts ergriffen. Der rechte Mundwinkel war schwer zu bewegen. Nicht besonders lustig beim Essen. Schön langsam hatte ich alle möglichen Defizite ausgereizt und eine Halbseitenlähmung hatte von mir Besitz ergriffen.
Nach zwei, drei Wochen sollte ich mich einmal am Tag außerhalb des Bettes auf den Sessel setzen. Es schauderte mich davor. Ich war an unzähligen Schläuchen und Drähten angehängt und es war umständlich mich davon loszumachen. Unzählige Handgriffe waren notwendig, um mich aus dem Bett zu bekommen.
Wenn möglich, beließ ich es dabei, am Bettrand zu sitzen. In den Rücken und auf die Seiten bekam ich große Polster, um nicht umzufallen. So versuchte ich, es auszuhalten. 15 Minuten waren am Anfang gerade noch drinnen. Dann plagte mich der Schwindel und zwang mich in die Waagrechte.
Einmal waren die Pflegekräfte dabei, andere wichtige Dinge zu erledigen und vergaßen mich. So harrte ich aus. Mit jeder Minute sackte ich immer mehr zusammen. Am Schluss hing ich nur mehr im Sessel, vor mir der festgestellte Tisch, auf den ich niedergesunken war. Über eine halbe Stunde verbrachte ich in sitzender Position. Endlich konnte ich auf mich aufmerksam machen und die Krankenschwester befreite mich schleunigst. Für den Rest des Tages lag ich ermattet im Bett. Mein Tagespensum an Kraft war aufgebraucht.
Zu alldem kam, dass ich normalerweise Kontaktlinsen trage, aber mit der Lähmung nicht in der Lage war, sie in die Augen zu geben. Meine Brille hatte ich kurz davor kaputt gemacht und war nicht zum Augenarzt gekommen. So kam es, dass ich die ersten Wochen ohne Sehhilfe auskommen musste. Ich war faktisch blind.
Ohne Brille oder Kontaktlinsen konnte ich kaum jemanden erkennen. Ein befreundeter Optiker machte mir dann, auf gut Glück, eine Brille. Zum ersten Mal konnte ich die blühenden Bäume vor dem Fenster sehen.
So verbrachte ich die Zeit auf der Intensivstation für mich doch recht ruhig. Von den Schwierigkeiten draußen bekam ich nichts mit. Alles war so fern. Das meine Gewerbescheine in der Zwischenzeit stillgelegt worden und eine Erwerbsunfähigkeitspension für mich angesucht. All das hätte ich nicht verstanden.
Ich lebte in meinem eigenen Universum, das nicht über mein Krankenbett hinausging.
Ein komisches Gefühl, bisher war mir Bloggen immer ein bisschen suspekt. Eigentlich habe ich mich nicht dafür interessiert, was ein Blog ist. Erst im letzten halben Jahr habe ich mich dafür zu interessieren begonnen. Davor war es mir nicht möglich, weil ich nichts aufnehmen konnte.
Zuerst wollte ich Tagebuch schreiben, was mir aufgrund der Krankheit lange nicht möglich war. Die Wortfindungsstörungen und Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis waren zu stark. Dazu kam die Lähmung der rechten Körperseite, die mir Schreiben unmöglich machte. Nach etwa vier Monaten begann ich zu lesen. Zuerst Bücher und dann zu Hause Blogs im Internet. Von Lifestyle, Fitness hin zu Reise- und Laufblogs. Dabei kam ich auf die Idee, selber einen Blog zu schreiben.
Einerseits hilft mir das Schreiben die Krankheit zu verarbeiten, andererseits macht es auch Spaß. Da ich viele Jahre als Videojournalist gearbeitet habe, finde ich es toll meine Rehabilitation mit einem ähnlichen Werkzeug zu unterstützen. Schreiben war zwar nicht meine Stärke, aber bis zu einem gewissen Grad lässt es sich ja lernen. Und der Blog ist ein Teil meiner täglichen Therapie geworden.
Meine Therapeuten haben mir auch empfohlen, die Videokamera zur Hand zu nehmen. Ich versuchte es, aber es waren zu viele Eindrücke. Ich tue mir schwer, mehr als zwei Sachen gleichzeitig zu denken, geschweige denn auszuführen. Drei Dinge sind fast unmöglich.
Mit dem Schreiben komme ich besser klar. Es wird zwar keine journalistische Meisterleistung werden, dazu fehlen mir noch zu viele Wörter, wichtig aber ist es, daran Spaß zu haben. Der Blog dient als therapeutisches Schreiben.
Oft passiert es, dass ich, während ich einen Satz schreibe, vergesse wie ich weiter schreiben will. Denn das Schreiben ist das EINE, das andere ist die Tastatur tippen. Beides zu koordinieren, ist nicht leicht. Daher muss ich aufpassen, keine zu langen Sätze zu formulieren.
Wenn ich an einem komplizierten Wort zu lange auf der Tastatur brauche, ist die Chance groß, den Faden im Satz zu verlieren. Auch darf ich mich nicht überfordern. Doppelbilder und Schwäche sind die Folge.
Der Titel "von 0 auf 101" war ursprünglich für ein Laufprojekt für 2014 gedacht. Innerhalb eines Jahres vom Nicht-Läufer zum 101 km langen Eiger Ultra Trail in der Schweiz. Damals, 2013, filmte ich für eine Werbeagentur, wo der Chef selber bei diesem Rennen an den Start ging.
Ich war zum ersten Mal bei so einem Event dabei und war so fasziniert davon, dass ich mich entschloss, in einem Jahr selber daran teilzunehmen. Gesagt, getan. Es war zwar ein Mammut-Programm, aber ich stand genau ein Jahr später, im Juli 2014, am Start.
In den Monaten danach hatte ich aber so viel zu tun, dass ich die Fertigstellung des Projekts immer wieder verschieben musste.
Das "von 0 auf 101" bekam für mich dann im Frühjahr 2016 eine dramatisch andere Bedeutung, als ursprünglich gedacht.
Ich war damals, im März 2016, wirklich bei NULL angelangt.
Dass es dann so lange dauern würde, hätte ich nicht gedacht. Viel später verstand ich erst, wie schlimm es wirklich war und dass ich froh sein konnte, so davon gekommen zu sein. Die oftmalige Aussage meiner Ärzte, "Lassen Sie sich Zeit, das wird noch dauern!", ging mir nicht in den Kopf. Ich dachte nur: "Jetzt bin ich schon vier, fünf Monate im Krankenhaus, was meint er mit Zeit lassen, wie lange denn noch?".
Im Nachhinein gesehen hatten die Ärzte recht. Fünf Monate ist im Verhältnis zur Schwere der Krankheit gar nichts. Ich wollte schon im Jänner mit dem Blog beginnen. Jetzt ist es April. Ich musste immer wieder erfahren, man kann nichts erzwingen. Geduld zu lernen war in diesem Fall eine Prüfung für mich. Sich Zeit lassen. Wie so viele andere Dinge auch, die ich noch oder wieder zu lernen habe.
Dafür lebe ich jetzt zu hundert Prozent im HIER und JETZT! Schon der nächste Tag ist so weit weg. Ich kann nicht "denken", was in der Zukunft ist oder sein wird. Es passiert mir immer wieder, dass ich etwas erledigen will und gleich darauf vergessen habe, was ich eigentlich wollte.
Im März 2016 trat ein Hirnabszess auf, welches schon sicher länger bestand. Die körperlichen Auswirkungen spürte ich dann von einem Tag auf den anderen. Es wurde mir schwindlig und ich konnte nur mehr liegen. Zuerst glaubte ich noch an eine Grippe. Zwei Tage später, ich antwortete bereits verwirrt, wurde ich per Rettungswagen ins LKH Graz eingeliefert.
Eine Ärztin fragte mich Monate später, "Was sollte denn anders sein, dass sie sich fühlen wie früher?". Ich antwortete "ALLES!".
Auf der einen Seite sollte sich ALLES ändern, auf der anderen Seite bin ich dankbar dafür, diese Erfahrungen der geistigen und körperlichen Defizite machen zu dürfen. In meinem "ersten" Leben war ich Extremradsportler, Bergsteiger und Trailrunner und konnte auch bei der Videoproduktion schwere Aufträge stemmen. Ich war es gewohnt, jahrelang an meinem körperlichen Limit zu arbeiten. Für einen Prozent mehr Leistungsfähigkeit trainierte ich früher ein ganzes Jahr.
Plötzlich war alles anders. Ich, der Bewegungsmensch, war zum Stillstand gezwungen. Mein Abenteuer war es nicht mehr zu Reisen, tolle Filmaufträge oder sportliche Leistungen zu vollbringen. Nein, mein Abenteuer wurden es, Gehen zu lernen, Essen zu lernen, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
War in meinem alten Leben vieles zu schnell geworden, hat im neuen Leben die Langsamkeit Einzug gehalten. Ich durfte alles NEU FINDEN. Ich musste MICH neu erfinden. Wie schon Monica Lierhaus, die ehemalige ARD Sportmoderatorin, die eine Gehirnblutung erlitt, sagte: "Ich bin keine Andere, nur eine Veränderte!"
Auch ich hatte mich verändert. Nach einem Monat Intensivstation und insgesamt fünf Monaten Krankenhaus kein Wunder. Trotzdem bin ich der Gleiche geblieben. Und obwohl "der Gleiche", sehe ich viele Dinge anders wie früher. Ich bekam Zeit geschenkt, nicht gestohlen.
Durch meine geminderte Konzentrationsfähigkeit beschränke ich mich auf wesentliche Dinge. Alles, was ich für unwesentlich halte, geht an mir vorüber. Es kann natürlich wichtig sein, doch im Moment hat es für mich keine Wichtigkeit. Ist es wichtig genug, kommt es so lange wieder, bis es mir wichtig wird oder ist. Ich belaste mich nicht mit Unnötigem, kann es gar nicht.
Zum Glück habe ich Menschen um mich, an die ich Sachen delegieren kann oder die manches erst gar nicht an mich heran lassen.
Der Sport ist ein wichtiger Antrieb für mich. Auch wenn ich noch nicht Laufen oder Radfahren kann, gedanklich bin ich jeden Tag dabei. Ich stelle mir vor, eine mir bekannte Strecke durch den Wald zu laufen. Ich gehe voll und ganz in die Emotion hinein. Spüre die Belastung, spüre wie ich die Bodenunebenheiten ausgleiche. Das mache ich täglich.
Ich stelle mir die Bewegungsabläufe vor. Ich trainiere im Kopf. Das kann ich überall. Wenn ich wo warten muss, zum Beispiel. Auch so bekommen meine Muskeln Informationen, wie sie funktionieren sollen.
Ich denke oft an die Kenia Sport Safari zurück. Mein Freund Harry sagte damals: "Mal schauen, wie man eine Rundfahrt ohne Training gewinnt. Das wird interessant?". Die Rundfahrt war im November. Auch er hatte eine längere Pause hinter sich. Im Vorfeld trainierte er fast nur mit seiner Vorstellungskraft. Er hat diese Rundfahrt dann doch gewonnen. Zwar auf den letzten Drücker, aber gewonnen. Das hilft auch mir jetzt sehr.
Ich weiß, der Körper folgt dem Geist. Der Körper folgte auch nur meinem geistig erschaffenen Hirnabszess. Natürlich funktioniert das auch umgekehrt. Der Spruch, "Dir geschehe nach deinem Glauben!" , hat noch immer Gültigkeit. In beide Richtungen. Wie wahr.
Im Moment habe ich nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne über den Tag, in der ich mental und körperlich voll da bin. Die restliche Zeit ruhe ich aus, genieße den Moment und lasse das Leben auf mich einfließen. Manchmal muss ich allerdings drüber gehen, Kinder können einen fordern!
Meine Lebensgefährtin hat mir in einer Zeit im Krankenhaus, wo es mir nicht gut ging, folgendes gesagt: "Schau, andere Leute geben viel Geld für Seminare aus, machen Persönlichkeitsentwicklung, lesen zahlreiche Bücher und sind oft nach Jahren nicht dort angelangt, wo du jetzt bist - nämlich im HIER und JETZT!".
Da hat sie recht. Dieser Satz begleitet mich, wenn ich wieder einmal zu ungeduldig mit mir bin.
Dieses im HIER und JETZT leben beschäftigte mich schon lange vor meiner Krankheit. Durch die Krankheit wurde ich gezwungen im HIER und JETZT zu leben. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr. Nur den Moment. Jetzt, ein Jahr später, kommt langsam das Gefühl wieder, an die Zukunft denken zu können. Aber es ist anders. Es hat keine so große Wichtigkeit mehr.
Auch meine Einstellung zum Tod hat sich geändert. Er schreckt mich nicht mehr. Ich habe keine Angst mehr davor, was danach sein wird, oder etwas versäumt zu haben. Nein, er ist freundlicher geworden.
So hat alles (s)einen Sinn für mich bekommen.
Das LEBEN geht weiter und der Blog hilft mir dabei!