Schnee am Camino France, im April!

4. April 2022
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5 Minuten Lesezeit

Schnee am Camino France

Anfangs noch angenehm, schlug das Wetter bald um. Die Temperaturen fielen, der Wind wurde eisig, und schließlich setzte Schnee ein. Ein Anblick, den ich selbst auf meinem Winter-Camino so noch nie erlebt hatte.

Am 1. April, als der erste Pilger in der Herberge aus dem Fenster schaute und verkündete, dass draußen Schnee liege, hielten es alle für einen Aprilscherz. Doch es war keiner – es war Realität.

Schnee am Camino Frances, in Granon
Granon

Die ersten Tage noch Schönwette

Von Logroño nach Burgos – Fokus auf jeden Schritt

Kaum hatte ich die Stadt hinter mir gelassen, richtete ich meine ganze Konzentration auf meinen rechten Beinabdruck. Seit den Nierenkoliken ist meine Halbseitenlähmung wieder stärker spürbar, und ich muss gezielt daran arbeiten, mein rechtes Bein zu kräftigen. Konnte ich mich bislang in nicht allzu schwierigem Gelände schon recht gut bewegen, so erforderte nun selbst das Gehen auf Asphalt höchste Aufmerksamkeit.

Schon seit den Pyrenäen habe ich mich daher kaum mit anderen Pilgern unterhalten. Das gleichzeitige Gehen und Sprechen war eine Herausforderung, die mich zu sehr beanspruchte. So legte ich viele Kilometer allein und in Stille zurück – eine Reduktion auf das Wesentliche, begünstigt durch die Tatsache, dass nur wenige Pilger unterwegs waren. Meine Kommunikation beschränkte sich auf das Nötigste.

Der Weg führte durch zahlreiche Dörfer, die mir längst vertraut sind. Steile Anstiege wechselten mit Abstiegen, und trotz aller Anstrengung war es einfach wunderschön, in dieser Landschaft zu sein, an meinen Defiziten zu arbeiten und das Leben in seiner schlichten Intensität zu genießen.

Der März gehört noch zum Winter, und so hatten nur vereinzelt Bars, Cafés oder Herbergen geöffnet – doch es waren immerhin mehr als auf meinem Winter-Camino im Januar und Februar 2020. Ich zog von Dorf zu Dorf, selten mehr als 20 bis 25 Kilometer am Tag. Eigentlich wollte ich unterwegs schreiben und malen, doch dafür war es schlicht zu kalt. Auch die Pausen in den Bars boten keine rechte Inspiration.

So lag mein Fokus auf meiner Propriozeption, auf meiner Bewegung im Allgemeinen – und auf den kleinen Dingen am Wegesrand.

Grañón, eine Herberge die mir bisher viel gegeben hat.

In Grañón fand ich wieder einmal Quartier – in einer Herberge, die in einer alten Kirche untergebracht ist. Kaum ein anderer Ort spiegelt das frühere Herbergsleben so authentisch wider. Hier schläft man auf Turnmatten am Boden, und am Abend wird gemeinsam mit den anderen Pilgern gekocht und gegessen.

Nach dem Mahl versammelt man sich im Kreis. Jeder teilt etwas von sich, erzählt aus seinem Leben oder von Erlebnissen auf dem Weg. Das Licht bleibt gedimmt, nur der Sprechende hält eine Kerze in der Hand. Eine einfache, aber kraftvolle Geste.

Da ich der einzige Deutschsprachige war, verstand ich nur wenig von dem, was gesagt wurde. Doch das brauchte es auch nicht. In den Gesichtern konnte man es sehen – wie sehr der Weg manche schon verändert hat.

In diesem Moment wurde mir klar: Mein Ziel, „zurück ins Leben“ zu finden, habe ich längst erreicht. Mit meinen Defiziten bewege ich mich – mal besser, mal schlechter – durch den Alltag. Doch das darf mich nicht davon abhalten, wirklich zu leben.

"Es ist, wie es ist, weil es ist – nicht, weil es gut ist."

Wenn ich weiterhin „dranbleiben“ will, um mein Erreichtes zu halten oder zu verbessern, dann kann ich ewig auf dieses „zurück ins Leben“ warten – oder ich entscheide mich, einfach jetzt zu leben. Dazu gehört Therapie, dazu gehört Arbeit an mir selbst. Aber letztlich ist es nur der mentale Zustand, der bestimmt, ob ich wieder lebe.

Also Schluss mit dem Warten. Glücklich sein – nicht trotz, sondern mit allem, was dazu gehört. Die Therapie, die Herausforderungen, die Rückschläge – sie sind Teil von mir, genauso wie alles andere. Bisher habe ich mich davon zurückhalten lassen.

In Grañón wurde mir das nicht nur bewusst – ich konnte es diesmal wirklich verinnerlichen. Ich wusste es längst, doch zwischen Erkenntnis und echter Umsetzung liegt ein weiter Weg.

Morgen in Schnee und Erinnerungen

Als wir aufwachen, liegt Schnee. Die Temperaturen sind unter null, die Wege und Felder von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der eisige Wind schneidet ins Gesicht. Mein Anorak wird zur ständigen Begleitung, auch tagsüber.

Und doch pfeife ich fröhlich vor mich hin. Das Wetter kann mir nichts anhaben – egal, wie es ist.

Dennoch kommen immer wieder Erinnerungen aus dem Krankenhaus hoch. Damals konnte ich nicht einmal aufstehen, geschweige denn gehen oder auch nur hoffen, es jemals wieder zu können. Ich war ans Bett gefesselt, ein Pflegefall – und das für lange Zeit. Doch all das nahm ich kaum wahr, konnte es nicht einmal denken.

Mein Blick aus dem Fenster fiel damals immer wieder auf einen entfernten Hang, auf Wiese und Obstbäume. Ich sog das Grün auf, als könnte ich es in mich aufnehmen. Alles um mich war trist, doch in mir wuchs der Wunsch: Ich wollte wieder auf eigenen Füßen spazieren können. Fürs Erste blieb mir nur der Blick hinaus.

Niemand konnte oder wollte mir sagen, wie es um mich stand. In Wahrheit war es ein Kampf um Leben und Tod – doch ich wusste es nicht. Ich akzeptierte mein Befinden und tat, was ich konnte, um es zu verbessern. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Schnee, Erinnerungen und Tränen

Der Schneefall hier in Spanien erinnerte mich an jenen im Krankenhaus. Eines Tages war der grüne Hang gegenüber plötzlich weiß – genau wie jetzt die Landschaft rund um Grañón, überzuckert und still.

Während des Gehens steigen die Erinnerungen auf, drücken mir die Tränen in die Augen. Die Gefühle von damals sind noch immer tief in mir – und auch jetzt, beim Schreiben, laufen mir die Tränen übers Gesicht. Viel konnte ich auf meinem Walkabout bereits verarbeiten, doch die Zeit im Krankenhaus war intensiv, und professionelle Hilfe hatte ich nie.

Es ist mein vierter großer Camino, und noch immer bin ich nah am Wasser gebaut. Aber das ist in Ordnung. Ich lasse den Tränen freien Lauf. Zu lange waren meine Emotionen erstarrt oder nicht zugänglich – da gibt es noch einiges nachzuholen.

Über die Sierra Atapuerca nach Burgos

Frühmorgens begann ich den Aufstieg zum Kreuz. Der Schnee bedeckte den Weg, machte ihn überraschenderweise sogar leichter als in den trockenen Jahren zuvor. Während ich losging, fiel noch Schnee, doch oben am Kreuz stand ich schließlich eingehüllt in Wolken.

Irgendwo in diesem Steinhaufen unter dem Kreuz liegt auch ein Stein von mir – abgelegt im Jahr 2018. Wieder kamen die Erinnerungen hoch: Damals schleppte ich mich mühsam hier hinauf, kämpfte um jeden Schritt, hielt mich gerade so auf den Beinen.

Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Es überraschte mich, wie stark mich diese alten Geschichten noch immer berührten.

Das Plateau lag tief verschneit, und nach einer kurzen Fotopause machte ich mich an den Abstieg. Ich spürte mein rechtes Bein deutlich – schwächer als das linke, gezeichnet von der Halbseitenlähmung. Die Anstrengung des Aufstiegs und die Kälte machten sich bemerkbar.

Vorsichtig und langsam stieg ich bergab. Nun warteten noch die zehn Kilometer bis Burgos. Ich mied die Hauptstraße und nahm die alternative Route entlang des Flughafens, später folgte ich dem Fluss. Die Sonne kam hervor, und so spazierte ich gemächlich dahin, bis ich schließlich vor der Kathedrale von Burgos stand. Noch schnell einen Stempel geholt – dann ab ins Quartier.

Damit lagen 285 Kilometer seit meinem Start in Frankreich hinter mir. Und rund 6.000 Höhenmeter.

Covid-19 in Spanien

Am 03.04.2022 hat Leon-Kastilien eine Inzidenz von 270. Im Vergleich dazu Österreich mit über 1800.

Es besteht Maskenpflicht in Innenräumen, wie zum Beispiel in Bars, außer am Sitzplatz. In den Herbergen ist ebenfalls Maskenpflicht, aber es es gibt kaum noch Beschränkungen bei der Belegung der Betten.

Kommt man durch größere Städte, sieht man mehr Maskenträger auf der Strasse. Es bleibt einem aber frei, ob man eine aufsetzt. Speziell ältere Menschen haben eine medizinische Maske auf, selbst im Park, bei großem Abstand. Allerdings hat es derzeit auch "Vorteile", wegen der Kälte.

Burgos

Auf in die Meseta

Jetzt freue ich mich auf die Hochebene, die meist auf 800 bis 900 Höhenmeter liegt. Rund 250, großteils flache, Kilometer warten auf mich und unter anderem die Stadt Leon.

Auf den endlosen Geraden hat man viel Zeit zum Überlegen und nachdenken oder aber auch, nicht zu denken. Bin schon neugierig, wie ich das hinbekomme.

Buen Camino, auch allen Zuhause gebliebenen!


Link zu: Über die Pyrenäen

Link zu: Das Glück des Augenblick am Camino Frances


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4 comments on “Schnee am Camino France, im April!”

  1. „Ja, wir weben unseren eigenen Lebensteppich. In jeden Faden, den wir ziehen, stecken Freud & Leid, all unsere Erfahrungen lassen dieses, mein, dein individuelles Muster entstehen. Viele Tränen bedecken den so entstehenden Teppich, so auch Freudentränen, die den Teppich auch bunt in schillernden Farben zum Erleuchten bringen. Dann ,ein langer ,oder kurzer schwarzer Faden bringen die notwendige Stille Zeit mit hinein, indem HeilWerdung entstehen darf.Jeder Teppich von jedem Menschen ist Einzigartig, denn wir Alle sind Göttliche Wesen& irgendwann wird mein letzter Faden gezogen werden& ich gehe wieder nachhause zum Ursprung zur göttlichen Quelle zurück.Ja, der Zeitpunkt wird kommen, indem mein letzter Faden reißen wird, möge ich diesen Augenblick auch gut Annehmen können.
    Darum bete & bitte ich& erfreue mich zur Zeit noch am Weben meines bunten Lebens Teppichs.“

  2. Lieber Jörg!
    Ich habe bei meinem letzten Kommentar vergessen, mich bei dir für die speziellen EindrucksVollen Aufnahmen zu bedanken und die Schilderungen „ Deines speziellen Weges!“
    Der Baum mit den vielen knorrigen Alten Ästen, auf denen sich unzählige Geist Wesen zeigen.
    Die Pilger Unterkünfte in ihrer kargen Einfachheit machen mich demütig , und lassen mich erkennen, in welchem Luxus wir leben, und trotz der Fülle, in der wir uns befinden manchmal uns bejammern wegen Kleinigkeiten ,die uns angeblich fehlen , um endlich glücklich sein zu können.
    Da wir doch Alle mittlerweile wissen sollten, dass das wahre Glück nur in uns Selbst zu finden ist. Und, dass es an der Zeit ist, endlich im Hier & Jetzt anzukommen.
    Im Augenblick, diesen besagten Augenblick schön gestalten , denn aus diesem entsteht doch ein zufriedenes Morgen.
    So einfach und doch so schwer ist diese Übung umzusetzen.

    Du erscheinst mir ein Guru zu sein. So wie du vor dem brennenden Kaminfeuer in totaler Zufriedenheit in die Kamera blickst, so ein Blick, der sagt:“ Ich komme mit meinem wahren Selbst immer mehr in Kontakt, werde Eins mit diesem und bin glücklich, so wie es Jetzt gerade ist!!“

    Du bist für mich „ Der Pilger“ ,der allen Widrigkeiten trotzt, der Kälte mit dem Schnee...der jede Wetterlage in Gelassenheit annehmen kann und sich einfach FreudVoll , nach dem Motto“ Das Ziel ist der Weg“ auf den Weg gemacht hat , einfach um des Gehen Willens unterwegs zu sein, und Eindrücke wie einen Schwamm aufzunehmen. Dankbarkeit macht sich in deinen Aufnahmen breit:“ Am Leben zu sein,“jeder Herausforderung MutVoll zu begegnen,
    Um irgendwann „ am Ziel“ anzukommen. Das Du Selbst bist in All Deiner Göttlichkeit & wahren Inneren Schönheit, die du bereits nach Außen ausstrahlst!

    Namaste‘

    „ Ich verneige mich vor dem Ort in dir, indem der Ganze Kosmos wohnt.Ich verneige mich vor dem Ort der Liebe, des Lichts und des Friedens.Ich verneige mich
    vor dem Ort wo, wenn du an dieser Stelle bist & ich an dieser Stelle bin, es nur das Eine von Uns gibt!“

    1. Ja, Dankbarkeit gegenüber dem Leben ist wohl am meisten in mir.
      Gehen ist meine Medizin und der Camino mein Therapieplatz. Er gab mir das Leben zurück.
      Mein Luxus ist es, am Leben zu sein und ich bin glücklich darüber. Ich brauche nicht viel und kann besonders hier, mit sehr wenig, viel Freude erfahren.
      LG Jörg 🙏

Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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