
Nach einem wohltuenden Ruhetag in Pamplona breche ich früh am Morgen wieder auf, der Weg führt mich weiter in Richtung Burgos. Ich verspüre keine Eile, denn die heutige Etappe ist mit ihren 25 Kilometern bis nach Puente la Reina gut überschaubar. Der Körper ist ausgeruht, der Geist klar – der Camino Baztan liegt hinter mir, und ich spüre, wie gut mir diese Tage getan haben.
Den Sonnenaufgang am Alto del Perdón verpasse ich zwar erneut, doch das Licht, das mich auf dem Weg dorthin begleitet, ist nicht weniger eindrucksvoll. Wie schon in den Jahren zuvor taucht die aufgehende Sonne die Landschaft in eine Stimmung, die kaum in Worte zu fassen ist – warm, leise und voller Versprechen.

Zum ersten Mal achte ich nicht mehr so sehr auf die Bewegung und die Behinderung. Ich lasse das Leben mehr auf mich einfließen, und das Erleben bekommt einen neuen Stellenwert. Bisher war ich so sehr mit meiner Bewegung beschäftigt, dass das Leben nebenher stattfinden musste.
Seit dem therapeutischen Tanzen im letzten Jahr konnte ich einen entscheidenden Schritt nach vorne machen. Meine Wahrnehmung hat sich spürbar verbessert – ich erlebe das, was ich sehe, auf eine intensivere Art.

Der Plaio del Alto ist immer wieder aufs Neue ein Erlebnis – die Aussicht und die Lichtstimmung sind einfach beeindruckend. Beim Aufstieg treffe ich einen Spanier, dem ich in den kommenden Tagen noch öfter begegnen werde. Wir verstehen uns gut, und es entstehen angenehme Gespräche. Solche Begegnungen sind für mich besonders wertvoll, denn sie helfen mir, den sozialen Kontakt zu pflegen.
Gleichzeitig merke ich: Mehr als drei Menschen um mich herum stressen mich. Doch gerade durch solche Situationen lerne ich – Schritt für Schritt – soziale Kompetenz. Es ist ein langsames, aber stetes Weiterkommen.
Am Übergang des Alto del Plaia öffnet sich der Blick weit ins Land – dorthin, wo mein Weg mich in den nächsten Tagen noch führen wird. Solche Fernblicke tun der Seele gut. Deshalb ist es so wichtig, hinauszugehen und ins Weite zu schauen. Nach dem Alto del Plaia folgt wieder der bekannte, berüchtigte Schotterweg hinunter. Diesmal muss ich weniger darauf achten, nicht umzuknicken – sondern eher darauf, nicht zu emotional zu werden.

2018 habe ich hier noch bei jedem Schritt vor Schmerzen geschrien – meine Knöchel waren noch so schwach, dass ich ständig umknickte. So sehr ich damals wieder leben wollte, so präsent sind auch die Erinnerungen an die Momente, in denen nichts glatt lief. Momente, die schwer und manchmal kaum auszuhalten waren.
Schritt für Schritt wurden sie erträglicher. Doch es brauchte Millionen und Abermillionen Schritte, bis es so weit war.
Zu groß waren die Eindrücke, denen ich damals ausgesetzt war. Erst heuer gelingt es mir zum ersten Mal, vieles besser zuzulassen, einzuordnen und zu verstehen.
Der Plaio del Alto war 2018 für mich ein echtes Hindernis – besonders der Abstieg hat mir damals großen Respekt eingeflößt.
Diesmal gehe ich – zumindest am Anfang – nicht so weit wie in den letzten Jahren. Ich lege keine großen Distanzen zurück. Eher langsam und verträumt bewege ich mich auf dem Weg und lasse mich ganz auf das ein, was die wunderschöne Landschaft mir bietet.
Das Weinbaugebiet Rioja, mit der Umgebung rund um Logroño, genieße ich in vollen Zügen. Immer wieder bleibe ich stehen, setze mich hin, trinke einen Kaffee – einfach so. Den Wein trinke ich nach wie vor selten, auch wenn mich die Weinhänge und der Anbau tief faszinieren.
Wenn es sich ergibt und ich ein geöffnetes Café finde, schreibe ich an meinem Buch weiter. Die Schreib-App am Handy und eine kleine faltbare Tastatur müssen genügen – mehr ist aus Gewichtsgründen nicht möglich. Bisher klappt das Schreiben erstaunlich gut, besser als erwartet.
In Logroño bleibe ich diesmal nicht, sondern durchquere die Stadt nur, um weiter nach Nájera zu gelangen. Es sind nur wenige Pilger unterwegs, und an diesem Tag begegne ich keinem einzigen auf dem Weg.
Hier wird es erst recht spät hell – viel später, als ich es von zu Hause gewohnt bin. So breche ich fast immer als einer der Ersten aus der Herberge auf, noch im Dunkeln. Während die anderen Pilger noch beim Frühstück sitzen, erlebe ich das Erwachen des Tages draußen, in der Stille der Natur.
Ein Morgen ist schöner als der andere – und keiner gleicht dem nächsten. Es ist zwar oft kalt, doch die Natur entschädigt für so vieles. Es ist meine liebste Zeit am Camino, wenn die Sonne beginnt, sich langsam über den Horizont zu schieben.
Diese Momente erinnern mich oft an meine Zeit im Krankenhaus. Monatelang konnte ich nur den Kopf zur Seite neigen, hin zum Fenster – und den Tagesbeginn beobachten, ohne hinausgehen zu können. Vielleicht erlebe ich den Morgen deshalb heute so intensiv – wie kaum etwas anderes.
Jeder Morgen ist ein neuer Anfang. Er erinnert mich daran, den Tag voll auszukosten – egal, was kommt. Selbst in dunklen Momenten versuche ich, etwas Positives zu sehen – und halte daran fest. Nicht jeder Tag beginnt mit Sonnenschein. Manchmal ist es bewölkt oder es regnet – sinnbildlich für das Leben. Doch gerade dann gehe ich oft fröhlich summend oder sogar laut singend meinen Weg weiter. Dann scheint die Sonne eben in mir – denn ich darf einen neuen Tag erleben. Unabhängig vom Wetter oder der Lage um mich herum.
Bei Sonnenaufgang unterwegs zu sein, zählt für mich zu den schönsten Erlebnissen am Camino. Manchmal staune ich, wenn mir jemand erzählt, er habe noch kaum einen gesehen – weil er einfach später aufsteht. Auch das gibt es am Camino. Jeder, wie er mag.
"Jeder erlebt das, was er braucht – nicht, was er sich wünscht."
Ein Spruch vom Camino – und einer, der für mich oft sehr wahr geworden ist.

Im Winter haben viele Bars geschlossen, und die Dörfer wirken oft wie Geisterstädte. Manchmal sind es viele Kilometer bis zur nächsten Möglichkeit, ein Frühstück zu bekommen. Dann heißt es: sich auf einer Bank niederlassen, es sich irgendwie bequem machen – und trotz der Kälte etwas zu sich nehmen.
Oft ziehe ich es jedoch vor, im Gehen zu essen. Schon am Morgen bereite ich alles so vor, dass ich unterwegs nur noch in die Taschen greifen muss – Brot, Käse, etwas Wurst. Alles griffbereit. Nur eines fehlt mir dabei jedes Mal: der Kaffee. Mein Lebenselexier am Camino.
Aber das nächste Dorf kommt bestimmt – und dann wird der Kaffee einfach nachgeholt.
Bei Belorado erwischt mich ein leichter Regenschauer. Der Poncho ist griffbereit und schnell übergezogen. Es ist oft ein ständiges Auf und Ab – je nach Wetter. Meist sind es nur kurze Schauer in unregelmäßigen Abständen, die schnell wieder vorbeiziehen.
Mein Pilgerfreund Pau aus Spanien hat das Anlegen des Ponchos einmal so herrlich komisch beschrieben, dass der ganze Pilger-Tisch in Tränen vor Lachen ausbrach. Solche Momente bleiben – gerade an grauen Tagen.
"Ich blieb unter einer neugebauten Brücke stehen, um mir den Poncho anzulegen. Aber irgendwie schaffte ich es nicht, ihn über den Rucksack zu bekommen und ihn herunterzuziehen. Schlussendlich hängte ich mir den Rucksack auf die Arme, der Poncho über mir und vorsichtig versuchte ich den Rucksack hochzuziehen, aber ich verhedderte mich nur noch mehr in Rucksack, Poncho und mir selbst. Nach zehn Minuten Kampf gab ich erschöpft von den vielen Versuchen auf und ergab mich meinem Schicksal.
Erst da bemerkte ich eine Hebebühne, die auf der Brücke über mir stand. Zwei Bauarbeiter beobachteten meinen verzweifelten Versuch, den Poncho anzulegen. In Zeitlupentempo fuhr die elektrische Hebebühne mit einem Arbeiter zu mir herunter. Keine Regung in seinem Gesicht war während der gesamten Fahrt zu sehen, die rund zwei Minuten dauerte. Bei mir angelangt, der ich noch immer erschöpft am gleichen Punkt stand, stieg er aus, zog mit einem kurzem Griff meinen Poncho über den Rucksack, sagte nur "Itś ok!", stieg wieder ein und fuhr im Zeitlupentempo nach oben. Es war eine Slapstick Nummer vom Feinsten. Ich sah im nach, bedankte mich, bis er nach oben wieder entschwand und ging baff weiter."
Pilger Pau
Ja, solche Erlebnisse hält der Camino bereit für einen und macht selbst das Anlegen eines Poncho zum Erlebnis.

Da ich am nächsten Tag in einem Rutsch bis nach Burgos gehen wollte, suchte ich eine geöffnete Herberge, ein Stück hinter Belorado. Die Handy-Apps sind zwar hilfreich, zeigen aber nicht immer verlässlich an, ob eine Unterkunft tatsächlich offen hat. Da ich mich mit dem Telefonieren noch immer etwas schwertue, gehe ich meist auf Vertrauen los – und wurde bislang nie enttäuscht. Bisher habe ich immer etwas gefunden.
Da ich in Espinosa schon im Februar 2020 genächtigt hatte, wollte ich auch diesmal mein Glück dort versuchen. Beim Herumstöbern am Handy entdecke ich eine Herberge – in Gedanken darauf vorbereitet, dass es sich um dieselbe wie damals handelt. Es gibt die Möglichkeit, per WhatsApp zu reservieren, also schicke ich auf gut Glück eine Nachricht. Und tatsächlich – kurz darauf kommt eine Antwort: Es ist ein Bett frei.
In Espinosa angekommen, stelle ich fest: Es ist nicht die mir bekannte Herberge, sondern eine neue – gleich nebenan. Sie wird von Sabine und Ulrich aus Deutschland geführt, die mich herzlich empfangen. Das Haus ist auf angenehme Weise eingerichtet, warm und offen – ich fühle mich sofort wohl. Die beiden hatten schon zuvor eine Herberge geführt und haben auch hier wieder einen Ort geschaffen, an dem man gerne bleibt.
Für mich ist es ideal zum Schreiben – ruhig, freundlich, inspirierend. Später treffen auch Pau ein und die beiden Koreanerinnen, Sunny und Maria.
Schon beim Weggehen im Finsteren liegt Schnee, dabei wartet die lange Querung eines Gebirgszuges nach Villafranka noch auf mich. Im ersten Morgenlicht erreiche ich den Fuß des Berges. Eine tolle Winterstimmung auf den ersten Metern bergauf, lässt mich den Anstieg beginnen. Die folgenden zwölf Kilometer durch den Wald, lege ich durch Schnee zurück.
Normalerweise tänzle ich hier zwischen tiefen Schlammlöchern, diesmal ist aber alles gefroren. Ich bin früh genug dran, dass die morgendliche Kälte alles gefrieren lässt. Da heute ein sonniger Tag wird, werden es die nachfolgenden mit tiefem Boden und Schneematsch zu tun bekommen.
Zu Mittag bin ich in Atapuerca, einem Fundort der Neandertaler. Am Crux de Atapuerca, einer Hügelüberquerung, verweilte ich fast eine halbe Stunde am Kreuz. Tiefe Emotionen begleiten mich, denn wieder einmal wird mir mein Weg von 2018 bewusst und damit auch die Folgen der Krankheit.
Jeder Schritt war damals wie beim Höhenbergsteigen – und erschöpft erreichte ich schließlich das Kreuz auf der Höhe. Dort legte ich meinen ersten Stein nieder. Ich kroch mehr, als ich ging. Ich wusste nicht, wohin mein Leben führen würde und ob ich jemals wieder ein "normales" Leben würde führen können. Diese wenigen Höhenmeter fühlten sich an wie der Mount Everest.
Heute gehe ich denselben Anstieg – trotz Muskelschwäche und neurologischer Einschränkungen – ohne Schmerzen. Viel sicherer als damals.
Trotz all der Schmerzen, der Gefühllosigkeit in den Füßen und den vielen Handicaps war ich damals so glücklich wie schon lange nicht mehr. Ich war überzeugt, dass ich alles schaffen konnte – auch wenn es Zeit brauchen würde. Die Folgen des Hirntumors hatten mir anfangs keine guten Aussichten gelassen. Doch mit der Fahrt zu meinem ersten Camino Francés 2018 nahm mein Leben eine unglaubliche Wendung.
Auf dem Weg nach Burgos war ich einfach nur glücklich. Das Gehen fiel mir leicht, und ich war voller Freude darüber. Ich „tanzte“ regelrecht auf dem Weg – ein Gefühl, als wäre ich in einem neuen Leben angekommen.
Natürlich weiß ich, dass solche Zustände nicht ewig andauern. Es kann schnell anders werden. Aber entscheidend ist das Jetzt – und diesen Zustand so gut wie möglich zu erleben.
Ich merkte, dass das viele Schreiben manche alten Themen an die Oberfläche brachte – besonders Erinnerungen aus der Zeit im Krankenhaus. Deshalb verlagerte ich meinen Fokus wieder mehr aufs Gehen. Und das werde ich auch in den nächsten Tagen beibehalten.
Schon im letzten Jahr hatte ich hier Erfahrungen mit dem Wiederauftauchen alter Traumata. Damals wie heute ist das Gehen meine beste Antwort darauf – es hält mich ganz im Hier und Jetzt.
Nur nicht wieder in Gedankenspiralen geraten, aus denen es kein Weiterdenken gibt – wie im Vorjahr. In der Freude zu bleiben, im Glücklichsein – das ist die beste Therapie. Und genau das schenkt mir das Gehen.
Mein Gehirn schützt mich noch davor, mich tiefer mit gewissen Themen befassen zu müssen. Es ist kein Verdrängen – sondern ein Vertrauen darauf, dass alles zu seiner Zeit kommt. Wenn es so weit ist, werde ich es aufarbeiten – und verstehen können. Bis dahin heißt es: Geduld haben. Und alles so nehmen, wie es ist.
Weiter geht es – links am Flughafen vorbei, in Richtung Burgos. Ich wähle eine Alternativroute, die viele nicht kennen. Statt entlang der verkehrsreichen Straße wandere ich an einem Fluss entlang, begleitet von einem Park und von Bäumen. Still, friedlich – genau richtig.

Der Weg führt mich bis kurz vor die Kathedrale von Burgos. Trotz der 50 Kilometer tun mir die Füße nicht weh.
Es ist kaum in Worte zu fassen, in welcher Gefühlslage ich mich befinde.
Ich bekomme ein Bett in der Herberge, gehe duschen – und fülle danach meine Vorräte auf.
Wieder zurück esse ich nur eine Tütensuppe – der große Hunger bleibt aus, dank der vielen kleinen Happen unterwegs.
In den kommenden Tagen auf der Meseta möchte ich mich wieder mehr aufs Gehen konzentrieren und weniger aufs Schreiben. Die Gefahr, dass dabei alte Traumata überhandnehmen, möchte ich nicht eingehen. Seit dem Hirnabszess folge ich konsequent meiner Intuition – und sie hat mich noch nie getäuscht. Darauf kann ich vertrauen.
Ein großer Dank gilt meiner Therapeutin Hanna Treu vom therapeutischen Tanzen. Bei ihr habe ich die meisten meiner Grundlagen fürs Leben gelernt. Am Camino habe ich nun die Möglichkeit, diese auch außerhalb des geschützten Rahmens anzuwenden – und genau so zu dosieren, wie es mir guttut.
Mein Winter-Camino 2020 war schon eine besondere Erfahrung – doch dieser hier, 2023, übertrifft ihn. Was sich seither – trotz Pandemie – in meiner Wahrnehmung verändert hat, ist unglaublich. Dieser Camino ist für mich eine Bestätigung meines Weges. Und das therapeutische Tanzen hat daran einen großen Anteil.
Wenn ich heute daran denke, wie mir eine Ärztin 2017 sagte, dass sich nicht mehr viel verbessern werde – weil die meisten Fortschritte im ersten Jahr nach der Erkrankung passieren würden. Damals schaffte ich am Tag insgesamt 300 Meter, mit vielen Pausen – ich war ein Pflegefall.
Es hat lange gedauert, viele Jahre und viel Training. Aber seit 2019 – mit dem Beginn der Tanztherapie – hat sich ein neues Kapitel aufgetan. Ein Weg in ein neues Leben.
Alles, was ich in dieser Zeit gelernt habe, werde ich nun auf der Meseta umsetzen. Ich werde meinem Gefühl folgen und tun, was mir guttut. Bis Burgos hat es schon ganz gut geklappt.
Doch davon – mehr im nächsten Bericht.

Ich wünsche dir noch viele, weitere und schöne Sonnenaufgänge auf deiner Reise zur inneren Zufriedenheit. Kämpfe weiter, es zahlt sich aus.
Liebe Grüße Wolfgang Donner
Danke😊, daß mache ich. Der innere Sonnenschein ist der wichtigste! 🙏