Camino France 2023 - die Meseta von Burgos nach Astorga, 3.Teil

28. Februar 2023
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7 Minuten Lesezeit

Camino France 2023 - Von Burgos nach Astorga, die Meseta

Als Erstes steht die Meseta an, bevor es dann über die Berge nach Santiago de Compostela geht. Die Meseta beginnt in Burgos und reicht bis nach Astorga, 226 km weit. Die endlosen Geraden bieten sich zum Gehen an.

Das Schreiben stelle ich in den Hintergrund, zu groß ist die Freude am Gehen und das (Er)leben im Hier und Jetzt. Ich habe die letzten Jahre viel dafür getan und darf nun die Früchte ernten, denn ich kann alles besser wahrnehmen und es wird dadurch leichter.

Gehen auf der Meseta
Gehen auf der Meseta

Von Burgos nach Hontanas

Ich starte im Dunkeln, lasse mir aber Zeit. Die Morgenstimmung in der Meseta ist immer etwas Besonderes. Beladen mit frischem Brot, einer Avocado und genug zum Trinken, mache ich mich auf den Weg. Die ersten Kilometer noch total flach, zieht es sich dann leicht an- und absteigend dahin.

Hontanas ist mein Ziel und der Himmel wolkenlos. Beim Weg aus der Stadt erreicht mich die Sonne. Nach zehn Kilometern gibt es den ersten Kaffee unterwegs, der an diesem Tag auch mein einziger bleiben wird.

Einen Fuß vor den anderen, so schreite ich dahin. Die ersten zwei Tage auf der Meseta sind nicht total flach, sondern ziehen sich leicht über die Hügel. Meine Bewegung spielt nur am Rande eine Rolle. Dieses Gefühl habe ich erstmals und kann daher viel mehr sehen.

Am nächsten Tag geht es im Dunkeln los, die bis Castrojertz anhält. Ich erlebe ein tolles Ende der Nacht und einen schönen Sonnenaufgang. Bei einigen der eindrucksvollsten Gegenden der Meseta komme ich bei schönstem Wetter vorbei.

Allerdings ist es noch recht kalt, wird sich aber bis Mittag auf mehrere Plus-Grade erhöhen. Die ersten schönen Meseta Bilder gelingen mir bei schönstem Wetter, es ist wieder Wolkenlos.

Carrion de la Condes, Meseta

Ein langer Tag liegt vor mir. Diesmal will ich ihn ganz bewusst gehen – Schritt für Schritt. Viele Pilger überspringen diese langen, flachen Geraden mit dem Bus. Dabei entgeht ihnen etwas Wertvolles. Für mich ist es einer der schönsten Abschnitte des Camino Francés. Gerade weil er sich scheinbar endlos zieht, schenkt er Raum – für Gedanken, für Stille, für das Jetzt. Und diesen Raum möchte ich zu Fuß durchschreiten.

Ich starte früh, gegen sieben Uhr morgens. Mein Ziel ist Carrion de los Condes – irgendwann am späten Nachmittag, vielleicht gegen 18 Uhr. Viel Zeit also, um mit mir selbst ins Gespräch zu kommen. Denn Gehen, wenn man es zulässt, klärt den Geist. Es ist wie ein inneres Ausatmen. Jeder Schritt wird zur Einladung, Altes loszulassen und das Wesentliche zu erkennen.

Fromista erreiche ich nach 34 km, entschließe mich aber zum Weitergehen, hier bleibe ich nicht. Es fühlt sich alles so leicht wie noch nie an. Der Rucksack, das Gehen, alles geht leicht von der Hand. Meine Behinderungen sind noch da, aber alles fühlt sich irgendwie unwirklich an. Seit dem therapeutischen Tanzen im September im letzten Jahr veränderte sich die Wahrnehmung in eine positive Richtung. Natürlich gibt es auch kleine Rückschläge, aber immer zeigt die Tendenz über einen längeren Zeitraum nach Richtung oben. Manchmal kommen mir die Tränen vor Freude, so viel erreicht zu haben.

Die Halbseitenlähmung begleitet mich weiterhin. Besonders den rechten Fuß muss ich im Blick behalten – ihn nicht zu schonen, ihn bewusst zu belasten, das ist entscheidend. Vermeidung schleicht sich schnell ein, wenn man nicht wachsam bleibt. Also trete ich achtsam auf, setze jeden Fuß mit Bedacht, achte auf den Abdruck, die Balance. Es ist Arbeit, aber es ist meine Arbeit – und sie trägt.

Ich bin dankbar, das Schreiben eine Weile ruhen gelassen zu haben. Der Fokus lag ganz auf dem Leben selbst. Und im Hier und Jetzt lebt es sich am klarsten.

Carrion de los Condes erreiche ich spät – gegen 19 Uhr, als die Sonne gerade hinter dem Horizont versinkt. Die Schwester im Kloster, beim Einchecken, kann es kaum glauben: 52 Kilometer an einem Tag? Vielleicht wird auch in Santiago, beim Ausstellen der Compostela, jemand nachfragen, ob ich wirklich zu Fuß gegangen bin – oder doch den Bus genommen habe. Aber ich weiß es. Jeder einzelne Schritt war meiner.

18 km durchs Nichts der Meseta

Hinter Carrión de los Condes beginnt ein Abschnitt, der unter Pilgern beinahe legendär ist – berüchtigt, um genau zu sein. 18 Kilometer lang nichts als eine schnurgerade Linie. Kein Dorf, kein Brunnen, kein Schatten. Im Sommer brennt hier die Sonne gnadenlos – 40 Grad sind keine Seltenheit, drei bis fünf Liter Wasser Pflicht. Doch im Winter verliert dieser Abschnitt etwas von seinem Schrecken. Heute früh hat es beim Aufbruch minus drei Grad. Kalt, ja – aber erträglicher als die Hitze, die einen im Sommer fast lähmt.

18 Kilometer Zeit. Zeit zum Nachdenken – oder zum Nichtdenken. Ich entscheide mich für Letzteres. Und plötzlich fliegen die Kilometer nur so dahin. Dieses Nichtdenken ist heilsam. Schon 2018, auf genau diesem Stück, bekam ich zum ersten Mal meine wirre Gedankenwelt in den Griff – einfach, indem ich aufhörte zu denken. Damals war mein Kopf voller Fragen, die sich kreisend ineinander verhakten. Antworten gab es keine, und weiterdenken – das ließ der Hirnabszess nicht zu.

Im vergangenen Jahr passierte es dann in Burgos – eine posttraumatische Belastungsstörung, aus dem Nichts. Ich war nicht vorbereitet. Aber ich ging weiter, Schritt für Schritt über die Weite der Meseta – und das half. Diesmal kam vieles durch das Schreiben an die Oberfläche. Aber ich erkannte es rechtzeitig, ließ es nicht zu groß werden. Im Moment leben, im Hier und Jetzt sein – das ist dann das Beste, was man tun kann.

Denn auch heute noch ist das „Weiterdenken“ eine Hürde. Besonders, wenn es um Vergangenes geht. Dann verfängt sich mein Geist in einer endlosen Schleife aus Fragen. Der Körper reagiert sofort: Blockade, Bewegungsstopp, als würde ein Schalter umgelegt. Nichts geht mehr. Deshalb ist die Arbeit an diesen alten Wunden so entscheidend – und ein großer Teil davon geschieht beim therapeutischen Tanzen. Dort finde ich Wege, wieder zu mir zu kommen. Wege zurück ins Gehen. Wege ins Leben.

Diesmal nutze ich die Kraft der Konzentration, die nur das Gehen schenken kann. Ich fühle mich frei – wie ein Vogel, der lautlos durch die Welt gleitet, schwerelos, losgelöst von dem, was war. Meine Defizite sind da, ja, aber sie beherrschen mich nicht. Zum ersten Mal empfinde ich dieses Gefühl – dieses unglaubliche, dieses große Gefühl von Freiheit. Und es erfüllt mich.

Nach den ersten 18 Kilometern durch die Kälte wirkt das kleine Dorf Calzadilla de la Cueza wie eine Fata Morgana – eine Oase mitten in der winterlichen Meseta. Ein heißer Kaffee, ein windgeschützter Platz zum Sitzen – das ist Luxus in dieser Jahreszeit. Denn Pausen im Freien sind kaum möglich: zu kalt, zu windig, zu rau.

Aber der Tag ist noch nicht zu Ende. Es geht weiter, immer weiter durch flaches Land. Mein eigentliches Ziel ist Sahagún. Doch wie es der Camino manchmal will – oder der Teufel – sind an diesem Wochenende sämtliche Herbergen geschlossen. Zettel an den Toren verweisen freundlich, aber bestimmt auf das nächste Dorf. Am Vortag noch hatte ich in Carrión eine Pilgerin getroffen – sie war mit dem Rad unterwegs zurück nach Burgos – und versicherte mir, in Sahagún sei alles offen. Also hatte ich mich auf ihr Wort verlassen und nicht weiter nachgeforscht.

Nun stehe ich da. Es hilft nichts – ich muss weiter. Zwar trage ich einen guten Schlafsack bei mir, eine aufblasbare Matte und den Poncho, der auch als Biwaksack taugt. Aber bei Minustemperaturen im Freien zu schlafen, das möchte ich mir doch ersparen. Also beiße ich die Zähne zusammen und hänge noch einmal zwölf Kilometer dran. Vorsichtshalber rufe ich vorher in der nächsten Herberge an – und zum Glück, sie hat offen. Um kurz nach 19 Uhr komme ich an. Wären es acht Kilometer mehr gewesen bis zur nächsten Unterkunft – ich hätte kampiert. So aber wartet ein Bett. Und ich falle hinein, dankbar bis in die letzte Faser.

Leon

Da ich schon so im Gehen drinnen bin, gehe ich am nächsten Tag die 47 km bis nach Leon. In der mir bekannten Albergue de la Benedictinas quartiere ich mich ein. Ich freue mich den mir schon bekannten Hostaliero Lukas zu sehen, der immer im Winter hier die Stellung hält. Ich übergebe ihm meine gesamte Wäsche zum Waschen und sitze in der Regenhose und im Anorak beim Essen. Nach einer Stunde bekomme ich die Wäsche gewaschen und getrocknet zurück und ich rieche wieder gut.

Danach gehe ich durch Leon, esse und trinke heiße Schokolade mit Churros und schlendere herum. Dann lege ich mich hin und raste mich aus, denn morgen möchte ich unter Umständen in einem Tag nach Astorga gehen, denn ich habe etwas vor.

Astorga, der Gaudi Palast

An Astorga habe ich viele Erinnerungen. 2018 habe ich hier meinen Weg im Juli beendet und nach dem Reha-Aufenthalt im September wieder fortgeführt. Erinnerungen an 2018 habe ich öfter, besonders viele aber in den folgenden Tagen. Eine davon betrifft den Gaudi-Palast.

Schon viermal habe ich ihn von Außen gesehen, aber noch nie war es mir möglich, ihn von Innen zu besichtigen. Meine Hochsensibilität hinderte mich daran. Bevor ich zur Reise aufgebrochen bin, habe ich mir als Ziel vorgenommen, ihn zu besuchen.

Aber hat sich meine Wahrnehmung schon so gebessert, dass ich ihn mir zutrauen kann? Gesagt, getan, nehme ich mir einen Ruhetag in Astorga und reserviere diesen Tag nur für das Museum. Meine Sinne werden so angestrengt, dass für mehr kein Platz ist. Zu meinem Glück bin ich der einzige Besucher so früh am Morgen und kann mich voll und ganz auf den Besuch einlassen.

Museen kosten noch so viel Kraft, aber diesmal gibt es kein Zurück. Die Bauweise kommt mir allerdings entgegen, mit ihren großen Sälen und geschwungenen Formen. Es ist ein Bischofssitz, der allerdings nie benutzt wurde. Zahlreiche Ausstellungsstücke kirchlicher Natur und die Bauweise des Gebäudes werden erklärt.

Ich versuche, so viel wie möglich aufzunehmen – Eindrücke, Bilder, Gefühle. Und dann lasse ich es gut sein. Stolz erfüllt mich heute, denn ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Museum besucht. Ein kleiner Schritt, der sich groß anfühlt. Den Tag lasse ich entspannt im Café ausklingen, mit Blick auf das Leben draußen und einem warmen Gefühl drinnen.

Zurück in der Herberge lege ich mich hin und versuche, zur Ruhe zu kommen. Die Meseta liegt nun hinter mir – ein weiter, offener Raum, den ich durchschritten habe. Ab morgen beginnt ein neuer Abschnitt: Es geht hinauf in die Berge.

Ja, morgen geht es in die Berge. Schon von Astorga aus sieht man den Schnee weit herabreichen. Das heißt wohl, dass oben noch mehr liegt. Und Schnee ist immer eine besondere Herausforderung für mich. Ich spüre den Boden nicht wie andere, kann nicht zuverlässig einschätzen, wie fest ich auftrete. Auf hartem Grund geht es gut – da finde ich Halt, kann Druck geben, mich abstoßen. Aber Schnee oder weicher Schlamm nehmen mir diese Rückmeldung. Dann wird jeder Schritt zur Suche. Doch ich weiß inzwischen: Auch das lässt sich gehen – Schritt für Schritt, tastend, fühlend, im eigenen Rhythmus.

Dazu aber mehr im nächsten Bericht.


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4 comments on “Camino France 2023 - die Meseta von Burgos nach Astorga, 3.Teil”

  1. Lieber Jörg!
    Eigentlich fehlen mir die Worte.... eigentlich bin ich jedesmal gleich sprachlos, wenn ich deine Erfahrungen am Camino mitverfolge. Immer wieder lerne ich durch dich: U. a.“Der Wille kann Berge versetzen!“
    Du bist mental so stark& durch diese mentale Stärke beherrscht du deinen Körper. Oder liege ich da falsch? Deine Sportlichen Erfahrungen vor deiner Erkrankung haben dich das Zielgerichtete Denken gelehrt, dies setzt du perfekt um. Es ist einfach grandios wie du das machst..... du bist grandios!!!!

    Ja, für uns Alle ist es eine der größten Übungen, im Hier und Jetzt zu sein. Der Geist , unsere Gedanken sind wie kleine unzähmbare Äffchen, die nach Aufmerksamkeit rufen. Ja, so viel gibt es noch für uns Alle zu erlernen.

    Die Meditation ist da sehr dienlich, im Augenblick zu sein.

    Lieber Jörg, ich wünsche dir weiterhin Mut& Ausdauer& Glück und Freude , Begegnungen mit Menschen und daraus resultierende inspirierende Gespräche , inneren Frieden und möge jeder Schritt, den du gehst, dich deiner HeilWerdung ein bißchen näher bringen!

    Alles Liebe
    Andrea Ziegler

    1. Hallo Andrea,
      ich versuche täglich, einfach das Beste aus mir rauszuholen. Der Camino erlaubt mir, mein bestes Ich in allen Facetten zu leben. Ich bin gerade am Camino Portugiese unterwegs. Er hat mir heute klargemacht, dass ich noch sehr limitiert bin und hat mir meine Grenzen aufgezeigt. Zumindest habe ich jetzt Themen, in denen ich in der Tanz-Therapie arbeiten kann. 🤗
      Liebe Grüße
      Jörg

Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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