Das Abenteuer „Across Britain“ – oder wie es hierzulande genannt wird: JOGLE – hat begonnen. Zwei bis dreitausend Kilometer warten auf mich, je nachdem wie ich gehe. Im Hinterkopf geistert in mir herum, dass ich wieder alle vier Kardinalpunkte erreichen möchte, also die vier entferntesten Punkte aller Himmelsrichtungen.
Allein die Nord-Süd-Durchquerung umfasst rund 2.000 Kilometer – mit dem Abstecher über den South West Coast Path werden es gut 2.500 km. Und wenn mich die Füße weitertragen, vielleicht noch mehr.
Für mich beginnt dieser lange Weg durch Großbritannien ganz oben im Norden – in Thurso, der nördlichsten Stadt Schottlands.
Von hier aus mache ich mich zu Fuß auf den Weg nach Dunnet Head, dem tatsächlich nördlichsten Punkt der britischen Insel. Allein der Gedanke, dort zu stehen – am Rand der Steilküste, wo der Wind vom Atlantik her weht – hat etwas Symbolisches.
Von Dunnet Head geht es weiter. Dreißig Kilometer südöstlich liegt John o’Groats – jener Ort, der traditionell als Startpunkt der großen Nord-Süd-Durchquerung gilt. Hier beginnt das Abenteuer JOGLE offiziell. Für mich ist es aber schon früher losgegangen – mit dem ersten Schritt in Thurso, mit der Entscheidung, wieder unterwegs zu sein.
Gleich zu Beginn empfängt mich das seltene Glück des Wetters: blauer Himmel, strahlende Sonne und Temperaturen um die 25 Grad – fast schon ungewohnt für diese Region. Die Einheimischen sprechen von einer Hitzewelle, dabei sind hier sonst 17 Grad und regelmäßiger Regen die Norm.
Trotz der warmen Tage bleiben die Nächte kalt – und vor allem feucht. Ein guter Zeltplatz ist dabei entscheidend. Denn wenn das Zelt am Morgen triefend nass ist, verliert man nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Ich merke schnell, wie wichtig es ist, am Abend mit Bedacht zu wählen, wo ich mein Lager aufschlage.
Schon der erste Tag führt mich fast ausschließlich durch die Natur, über grüne Felder, entlang weiter Wiesen. Die Farben hier tun meiner Seele gut. Das viele Grün, in allen Schattierungen, wirkt beruhigend, fast heilend. Ich kann nicht genug davon bekommen. Und so entscheide ich mich, dem John o’Groats Coast Trail zu folgen – nicht durch die Highlands zu gehen, wie ursprünglich überlegt.
Dort, in den Highlands, liegen oft mehrere Tage zwischen den Ortschaften. Das bedeutet: viel Wasser, viel Essen – viel zu tragen. Und mein Körper, so sehr ich auch trainiert habe, ist noch nicht bereit für diese zusätzlichen Lasten. Zwei, drei Kilo mehr machen bei meiner Muskelschwäche einen großen Unterschied.
Ich musste es mir eingestehen: Trotz jahrelangen Übens hat sich meine Muskelkraft, mein Bindegewebe, nur in kleinen Schritten verbessert. Aber ich gehe weiter – mit Maß, mit Achtsamkeit – und mit dem Wissen, dass jede Entscheidung auf dem Weg Teil des Gehens ist.
Schon jetzt, in diesen ersten Tagen, spüre ich: Dieser Weg ist mehr als eine Durchquerung. Er wird zur Therapie.
Das Gras wächst hier hoch und dicht, oft sehe ich meine eigenen Füße nicht. Ich stolpere über enge, unebene Pfade, die mich ständig fordern. Ohne die vielen tausend Kilometer, die hinter mir liegen – ohne diese jahrelange Vorbereitung –, hätte ich an dieser Stelle wohl schon umkehren müssen.
Jeder Schritt verlangt Konzentration. Nicht nur körperlich, sondern vor allem geistig. Es ist eine Aufmerksamkeit gefordert, die mich manchmal an meine Grenzen bringt. Ich muss denken, bevor ich gehe. Und ich muss beim Gehen denken.
Hinzu kommt: Der Weg verläuft oft direkt am Rand der Grundstücke, außerhalb der alten Mauern – und dort beginnen gleich die Abhänge zum Meer. Steil, ungesichert, unberechenbar. Der Pfad ist oft nur einen Fuß breit, manchmal kaum erkennbar.
Das Meer rauscht unter mir, das Gras schlägt gegen meine Beine, und ich merke: Es ist genau dieser schmale Grat – zwischen Anstrengung und Achtsamkeit –, auf dem ich gehe. Und vielleicht ist es genau das, was ich jetzt brauche.
Oft geht es steil hoch oder runter zum Meer, dass ich manchmal sogar die Hände benötige. Bis Inverness bin ich acht Tage unterwegs und schlafe immer im Zelt. Hotels sind zu teuer und billige Herbergen kommen erst später. Bei Regen zu Zelten wird sicher eine Herausforderung, besonders wenn es einige Tage durch regnet.
Ankommen in Inverness – mit jeder Faser
Der Weg entlang der Küste bleibt fordernd. Immer wieder geht es steil hinauf und ebenso steil wieder hinunter – oft so abrupt, dass ich die Hände zu Hilfe nehmen muss, um Halt zu finden. Die Pfade verlieren sich im Gelände, und das Meer ist selten fern – manchmal direkt unter mir.
Acht Tage bin ich nun unterwegs, jeden Tag im Zelt. Hotels sind für mich keine Option, zu teuer – einfache Herbergen gibt es hier oben erst später. Noch bin ich auf mich gestellt, auf das Zelt, auf das Wetter. Und mit jedem Tag wird klarer: Wenn der Regen kommt und bleibt, wird das Zelten zur Prüfung.
In Inverness bin ich nun angekommen – am achten Tag. Es ist keine geplante Pause, sondern eine erzwungene. Schon ab Tag sechs spüre ich eine Veränderung: Eine große Blase hat sich gebildet, unter dem Fuß, an genau jener Stelle, die bei jedem Schritt Druck spürt.
In Inverness bin ich jetzt am achten Tag angelangt und mache eine Zwangspause, denn nach sechs Tagen bildete sich eine große Blase. Die letzten Kilometer humpele ich in den Ort, denn diese Blase hat mein System derart gestört, dass das Gehen zur Herausforderung geworden ist. Meine Propriozeption ist überlagert vom Schmerz und funktioniert gar nicht.
Es ist, als würde mein ganzer Körper sagen: Stopp. Und ich höre zu.
Dabei war ich übervorsichtig. Ich habe auf meine Füße geachtet, jeden Schritt bewusst gesetzt, alle bekannten Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Und doch – diesmal hat nichts davon geholfen.
Ein Fehler war sicher der Schuhwechsel. Meine vertrauten Hoka habe ich gegen ein Paar Altra getauscht – eine Entscheidung, die ich inzwischen bitter bereue. Zwar hatte ich die neuen Schuhe zu Hause eingegangen, aber das reichte offenbar nicht. Der Belastung auf diesem Weg waren sie – oder vielmehr: meine Füße in ihnen – nicht gewachsen.
Das Problem: Ich hatte auf die Schnelle keinen neuen Hoka mehr bekommen. Und so ging ich los, mit einem Kompromiss an den Füßen, der sich nun rächt.
Vielleicht habe ich in Inverness Glück und finde Ersatz – denn so, mit diesem Schmerz bei jedem Schritt, kann ich nicht weitermachen. Die Blase allein ist das eine. Aber wenn dadurch mein ganzes System aus der Balance gerät, wenn die Propriozeption aussetzt, dann ist das nicht einfach nur unangenehm. Dann ist das gefährlich.
Der Kocher, den ich mithabe, tut mir zwar gut, bringt mich aber über mein Gewichtslimit. Besser wäre es gewesen, ich hätte mich von Anfang an auf kalte Küche einstellen sollen und warmes nur gegessen, wenn ich unterwegs etwas finde. Bisher war es mir immer zu schade den Kocher und Titantopf wegzugeben, also nutze ich ihn eben doch. Der Geldbeutel freut sich dafür, der Körper und Krafthaushalt weniger.
Leider konnte ich mich noch immer nicht an die fummelig Arbeit mit dem Kochen gewöhnen. Einmal war das Wasser heiß und ich stieß den Topf um, dass sich das Wasser auf mir und dem daneben liegenden Rucksack ergoss. Wäre weiter nicht tragisch gewesen, wenn ich nicht mit dem Wasserhaushalt aufpassen müsste und am nächsten Tag nicht noch über drei Stunden ins nächste Dorf gehabt hätte.
Es blieben mir am nächsten Tag nur 500 mml zum Trinken, bei Hitze und Schwerstarbeit die steilen Hügel hoch und runter. Trotzdem werde ich den Kocher behalten, denn ihn wegzugeben ist zu schade und es kommen noch einsame Gegenden, wo ich ihn brauchen werde.
Mein Kocher tut mir gut. Allein das Wissen, dass ich mir unterwegs etwas Warmes zubereiten kann, gibt mir ein Gefühl von Unabhängigkeit und Sicherheit. Und doch – er ist zu schwer. Zusammen mit dem Titantopf sprengt er mein eigentliches Gewichtslimit.
Rational betrachtet wäre es klüger gewesen, mich von Anfang an auf kalte Küche einzustellen. Warmes Essen nur dann, wenn es unterwegs etwas gibt. Aber der Gedanke, den Kocher ganz wegzugeben, fiel mir immer schwer. Also trage ich ihn weiter – und nutze ihn eben doch.
Der Geldbeutel freut sich. Der Körper weniger. Vor allem mein Energiehaushalt leidet unter dem Zusatzgewicht.
Und dann ist da noch die Sache mit der Gewöhnung. Ich habe mich bis heute nicht wirklich an das fummelige Kochen im Freien gewöhnt. Einmal war das Wasser endlich heiß – und ich stoße den Topf um. Das Wasser ergießt sich über meine Hose und den danebenliegenden Rucksack.
An sich kein Drama. Aber: Es war mein einziges Wasser. Und bis zum nächsten Dorf waren es über drei Stunden zu Fuß.
So blieb mir für den nächsten Tag gerade mal ein halber Liter zum Trinken – bei 25 Grad, mit schwerem Rucksack, über steile Hügel. Ich spürte bei jedem Schritt, wie mein Körper gegen das Defizit arbeitete.
Und doch werde ich den Kocher behalten. Nicht nur aus Trotz oder Sentimentalität. Es kommen noch einsame Gegenden, in denen ich ihn brauchen werde. Vielleicht lerne ich bis dahin sogar, den Topf nicht mehr umzuwerfen.
Der Weg durch Großbritannien ist bisher ein stiller. Nur wenige Begegnungen hatte ich – aber jene, die es gab, waren umso wertvoller.
Einmal sprach mich ein Mann an, dessen Haus einsam am Wegesrand liegt. Wir kamen ins Gespräch – ganz ungeplant, ganz offen. Es entwickelte sich ein Dialog, wie er nur unterwegs entsteht: ehrlich, ruhig, ohne Eile.
In Berriedale traf ich James – einen jungen Einheimischen, der seit einem Jahr im Haus seiner Großeltern lebt. Er ist Programmierer, arbeitet ortsunabhängig und hat sich bewusst entschieden, hierher zurückzukehren.
Auch dieses Gespräch blieb hängen. Nicht nur, weil es freundlich und interessiert war, sondern weil es mir ein Stück mehr von diesem Land gezeigt hat – aus der Sicht eines jungen Menschen, der zwischen Herkunft und Moderne seinen Platz sucht. Es ist nicht einfach, hier zurückzukehren. Und doch gibt es sie – jene, die es tun.
Danke nochmals, James, solltest du das irgendwann lesen. 🙏
Weiters möchte ich noch David mit seiner Frau Julie erwähnen, die auch schon lange unterwegs sind und mir unterwegs entgegengenommen sind. Sie machen diesen Weg gemeinsam. Leider habe ich vergessen ein Foto zu machen, deshalb verlinke ich auf Ihren Facebook Kanal, wo sie über Ihren Weg berichten. 👍
Überhaupt fühle ich mich sehr wohl in Schottland und fast heimisch. Die Menschen sind sehr freundlich und jederzeit hilfsbereit.
Dass es schwer werden würde, wusste ich. Aber so schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Körperlich wie geistig komme ich immer wieder an meine Grenzen. Die langen Tage, das viele Gehen, die kleinen und größeren Wehwehchen – sie fordern mehr, als ich erwartet hatte. Und doch: Ich habe den ersten Abschnitt geschafft.
Es tut gut, herausgefordert zu werden. Denn nur so kann ich weitergehen – nicht nur im wörtlichen Sinne.
Diese Reise ist anders als meine Wege auf dem Jakobsweg. Das Gehen hier verlangt mehr vom Kopf, mehr Konzentration, mehr Anpassung an die Umstände. Ich lerne, mit wechselnden Verhältnissen umzugehen. Ich lerne, Lösungen zu finden, wenn keine offensichtlich sind.
Und ich merke: Auch das ist Teil des Weges – nicht nur die Kilometer, sondern das, was sie mit mir machen.
Und wie sagt man auch:
"Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker!“
Aber soweit möchte ich nicht gehen – nicht ständig meine Grenzen ausloten. Denn eines ist mir klar: Dieser Weg, Across Britain, kann auch sehr schnell zu Ende sein, wenn ich nicht auf mich höre.
Ich bin nicht unterwegs, um mich zu verausgaben. Ich bin unterwegs, um mich zu verbessern. Schritt für Schritt. In meinem Tempo. Mit Achtsamkeit.
Lieber Jörg!
Dein Leitsatz „ Never give up“ wird dir wohl auch bei diesem Trip sehr oft in den Sinn kommen& dir hoffentlich immer wieder eine neue Antriebskraft schenken.
Du badest täglich in der satten Heilfarbe grün. Erzengel Raphael begleitet dich!
Möge er deine Blase rasch zur Heilung bringen!
Möge das Wanderglück dein steter Wanderbegleiter sein!
Alles Liebe
Andrea Z.
Hallo Andrea,
im Moment wollte ich zuviel und die Blase zeigte es mir sofort.
Ich bade mittlerweile wieder in Grün und komme mit mir ins reine. Ich erzeugte selbst in mir Stress, wo eigentlich keiner war. Ab sofort bin ich wieder auf "meinem" Weg und wie du schreibst: "never give up".
Trotz Antriebskraft, heißt es jetzt einmal still halten.
Alles Liebe und viele Grüße
Jörg