10.000 bis 20.000 Schritte am Tag, Dehnen, Kräftigen, Balance – so sieht mein Alltag jetzt aus. Kein Schritt ist umsonst. Es ist kein Camino in Spanien, doch es ist mein Camino hier zu Hause. Jeder Schritt, jede Übung ist Teil meines Weges, und genau darin liegt die Kraft: nicht aufzuhören, sondern anders weiterzugehen.
Eineinhalb Monate ist es nun her, dass ich den Camino Integrale abgebrochen habe. Dieser Entschluss fiel mir nicht leicht. Wer einmal auf einem Jakobsweg unterwegs war, weiß, wie sehr Körper und Seele nach dem Weitergehen verlangen. Jeder Morgen weckt die Sehnsucht nach einem neuen Abschnitt, nach einem weiteren Stück des Weges. Das Aufbrechen gehört zum Pilgern wie das Atmen zum Leben.
Doch diesmal war es anders. Schon nach wenigen Tagen spürte ich, dass ich an meine Grenzen gestoßen war – nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Jeder Schritt kostete mehr Kraft, als er mir schenkte. Mein Körper verlangte nach Ruhe, mein Inneres nach Ausgeglichenheit. Die Zahnsanierung arbeitete noch in mir und war nur ein weiterer Teil dazu.
Der Abbruch war kein Scheitern, sondern ein bewusstes Innehalten. Eine Entscheidung, der Gesundheit und Heilung den Vorrang zu geben. Zunächst war ich unsicher, ob ich zu früh aufgegeben habe. Aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde mir: Es war der richtige Moment, um anzuhalten. Denn dieser Schritt schenkte mir etwas, das genauso wertvoll ist wie das Pilgern selbst – eine Zeit der inneren Einkehr.
Seit jenem Tag gehe ich nicht mehr die Wege Spaniens, sondern die Wege hier zu Hause. Und doch gehe ich – Tag für Tag. 10.000 bis 20.000 Schritte sind mein tägliches Maß, eine Konstante, die mir Halt gibt. Auch wenn es nicht die langen Etappen des Camino Integrale geworden sind, so sind es doch Wege, die Bedeutung haben.
Sie führen mich über vertraute Straßen, durch kleine Wälder, an Feldern vorbei und entlang von Flussufern. Hier lernte ich überhaupt erst gehen und jeder dieser Schritte ist ein Teil meines neuen Weges.
Es ist ein Gehen ohne große Ziele, aber mit klarer Wirkung. Ich merke, wie mir diese täglichen Kilometer helfen, körperlich wie seelisch. Sie sind mein innerer Camino. Statt durch Frankreich, Kastilien oder Galicien führt er durch die Landschaften meines Alltags. Und auch hier gilt: Jeder Schritt bringt mich weiter, so wie seit zehn Jahren.
In dieser Zeit habe ich gelernt, dass das Gehen nicht immer Ferne braucht. Es kann genauso viel Kraft entfalten, wenn es nahe bleibt. Es zwingt mich, genauer hinzuhören, achtsamer zu werden – auf meinen Körper, auf meine Gedanken, auf mein Inneres.
Um nicht ins Schwanken zu geraten, habe ich mir feste Rituale geschaffen. Sie sind wie die Etappen eines Pilgerweges: Sie geben Struktur, sie setzen Schwerpunkte, sie machen Fortschritt (hoffentlich) sichtbar.
Am Morgen beginne ich mit Dehnübungen. Sie sind mein Start in den Tag, langsam und bewusst. Jede Bewegung weckt den Körper, erinnert ihn an seine Fähigkeiten und gibt mir das Gefühl, dass ich in Verbindung mit mir selbst stehe. Dieses Dehnen ist wie ein stilles Gespräch: „Ich kümmere mich um dich. Wir fangen gemeinsam an.“
Direkt im Anschluss am Vormittag folgen die Kräftigungsübungen. Diese Zeit ist für mich die beste, denn am Vormittag bin ich am leistungsfähigsten. Mein Körper ist ausgeruht, mein Kopf noch frisch. Genau diese Energie nutze ich. Es sind anstrengende Einheiten, manchmal mühsam, aber unverzichtbar. Ich spüre, wie die Stabilität langsam besser wird. Jede Wiederholung ist für mich wie ein Kilometer auf dem Camino – ein kleiner, aber bedeutender Schritt nach vorne.
Am Nachmittag liegt mein Schwerpunkt auf dem Gehen. 10.000 bis 20.000 Schritte sind mein Ziel, fast täglich erreiche ich sie, manchmal wird es auch mehr. Ich gehe über Feldwege, entlang von Wäldern. Manche Wege kenne ich schon auswendig, andere entdecke ich neu.
Ein weiterer fester Teil, mehrmals die Woche, sind die Übungen im Balancepark und am Balancebrett. Dort trainiere ich nicht nur Gleichgewicht, sondern auch die kleinsten Muskeln, die sonst sehr schnell verloren gehen. Gerade sie sind entscheidend für Stabilität und Haltung. Wichtig ist hier, ständig dranzubleiben.
Doch diesmal tue ich es in besserer Ausgewogenheit: nicht bis zur Erschöpfung, sondern so, dass auch mein Gehirn die nötige Pause bekommt. Diese Balance zwischen Anstrengung und Erholung ist vielleicht die wichtigste Lektion dieser Zeit.
Seit kurzem begleitet mich außerdem ein neues Gerät, das gegen meine Muskelschwäche wirkt. Es arbeitet mit feinen Rüttelbewegungen und nutzt die sogenannten Schumann Frequenzen. Auf den ersten Blick unscheinbar, hat es sich zu einem wertvollen Teil meiner Rehabilitation entwickelt. Kein Ersatz für das Gehen oder die Übungen, aber eine sinnvolle Ergänzung. Es schenkt neue Reize, aktiviert Muskeln auf andere Weise und hilft, Fähigkeiten zurückzugewinnen. So wie ein Pilgerstab das Gehen erleichtert, so unterstützt mich dieses Gerät in meinem Training.
Was ich in dieser Phase besonders lerne, ist das Maßhalten. Mein Körper, und vor allem mein Gehirn, fordern Ruhe. 10 Jahre Rehabilitation, Therapien und Wiederherstellung nach dem Hirnabszess fordern Ihren Tribut.
Diese Zeit hat Spuren hinterlassen. Sie haben mich geformt, aber auch viel Energie gekostet. Ich habe verstanden, dass Fortschritt nicht durch Überlastung entsteht, sondern durch kluges Wechselspiel. Muskeln brauchen Training, das Gehirn aber braucht Pausen. Zu viel führt nicht nach vorn, sondern zurück. Das richtige Verhältnis zwischen Dranbleiben und Pause machen, ist oft nicht leicht zu finden.
Darum übe ich nicht nur die Muskeln, sondern auch die Geduld. Es ist nicht leicht, sich selbst zu bremsen, wenn man voller Motivation ist. Aber Maßhalten ist entscheidend, genauso wie beim Pilgern. Auch dort findet jeder seinen eigenen Rhythmus: Wer zu schnell geht, brennt aus; wer zu langsam geht, verliert den Anschluss. Nur in der Mitte, im Gleichgewicht, findet man den langen Atem.
Oft denke ich zurück an meine früheren Caminos. Den Camino Frances, der mich über Tausende Kilometer getragen hat. Die unzähligen Wege in den Bergen rund um Graz, die mir zu Heimat geworden sind. Damals lernte ich: Gehen bedeutet Geduld. Schritt für Schritt, Stunde um Stunde. Kein Tag ist wie der andere, und doch gehört jeder zum großen Ganzen.
Genau dieses Wissen trage ich jetzt in meinen Alltag. Meine Übungen sind wie Etappen – mal leicht, mal schwer. Es gibt Tage, an denen alles gelingt, und Tage, an denen selbst kleine Schritte mühsam sind. Aber wie beim Pilgern gilt: Jeder Tag ist ein Teil des Weges, auch die schwierigen.
Die Parallelen sind offensichtlich. Auf dem Camino trägt man die Last des Rucksacks, hier trage ich die Last der Übungen. Dort geht es um Landschaften, hier um meinen Körper. Doch in beiden Fällen ist es eine Reise zu mir selbst.
Anfangs fiel es mir schwer, nicht nach Spanien unterwegs zu sein. Ich fühlte mich wie ausgebremst, wie ein Pilger, der sein Ziel nicht erreicht. Doch mit der Zeit wandelte sich dieses Gefühl.
Heute empfinde ich Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass ich die Chance habe, meinen Körper weiter zu stärken. Dankbarkeit für die kleinen Fortschritte, die ich Tag für Tag spüre. Dankbarkeit für die Erkenntnis, dass Heilung Zeit braucht – und dass auch eine Pause Teil des Weges ist.
Diese Zeit zu Hause ist keine Niederlage. Sie ist ein Abschnitt meines Lebens, vielleicht sogar ein besonders wichtiger. Denn sie zeigt mir, dass Gehen nicht nur Ferne bedeutet. Auch die Schritte vor der Haustür, auch das tägliche Üben, auch das achtsame Maßhalten sind Wege, die mich weiterbringen.
Ich weiß nicht, wann ich wieder aufbreche. Ob es der Camino Integrale sein wird, ein anderer Jakobsweg oder ein kleinerer Weg in meiner Heimat. Aber ich weiß: Der Tag wird kommen.
Bis dahin übe ich weiter. Ich dehne, ich kräftige, ich gehe meine 10.000 bis 20.000 Schritte, ich trainiere mein Gleichgewicht und nutze das neue Gerät mit seinen Rüttelbewegungen. Vor allem aber halte ich Maß – und schenke meinem Gehirn die Pausen, die es braucht.
Ich freue mich auf jede kleinste Verbesserung, auf jedes Stück Kraft, das zurückkehrt. Denn für mich ist Gehen nicht nur Bewegung. Es ist Therapie, es ist Lebensschule, es ist Heilung.
Auch wenn ich im Moment nicht durch Frankreich oder Galicien wandere, gehe ich doch meinen Weg. Ein innerer Camino, der mich ebenso prägt wie jeder äußere.
Vielleicht ist das die wichtigste Lektion dieser Monate: Das Gehen hört nie auf. Es verändert nur seine Form. Mal sind es tausend Kilometer durch Spanien, mal zwanzigtausend Schritte durch meine Heimat. Mal ist es der Weg über Berge, mal der Weg über ein Balancebrett. Doch jeder Schritt zählt. Jeder Schritt bringt mich weiter.
Und so gehe ich – Tag für Tag, Schritt für Schritt. Nicht mit Blick auf ein fernes Ziel, sondern mit Freude am Tun. Im Wissen: Ich bin auf meinem Weg.