Im August 2016 kam ich aus dem Krankenhaus zurück, somit beginnt im August mein viertes Jahr der Rehabilitation. Die letzten Jahre wurden unter anderem zu einer Suche nach Neuorientierung und Standortbestimmung. Der Hirnabszess hat alles auf den Kopf gestellt, noch immer.

Ich hatte keine Vorstellung davon, wie es weitergehen kann. Vorher selbstverständliches, war plötzlich nicht mehr möglich. Ich musste und muss noch, mich auf neue Dingen einlassen und meinem Körper Vorrang vor allem geben. Schritt für Schritt kämpfe ich mich zurück in ein neues Leben, dass ich erst wieder lernen muss.

Rehabilitation nach Hirnabszess

Rehabilitation und wieder Leben lernen

Mein Gehirn bedarf sämtlicher Ressourcen die ich habe. Da haben Sorgen oder unnötige Gedanken nichts zu verloren. Manchmal schwer zu handeln. Nein zu sagen konnte ich schon früher schwer. Genau das, heißt es jetzt aber zu tun.

Krankheiten vom Gehirn ausgehend, sind sehr sensibel zu behandeln. Bevor nicht eine gewisse Stabilität eingekehrt ist, soll ich nach Möglichkeit Dinge von mir fernhalten, die mir nicht gut tun. Sie behindern mein Vorwärts kommen.

Es dauert jetzt drei Jahre und es ist nicht vorhersehbar, wie lange es noch dauern wird. Ich habe von anderen Fällen gehört, die nach 8 Jahren wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnten. Ich kann nur Tag für Tag mein bestes geben und dranbleiben.

Mein Leben am Limit. Das vierte Jahr kann beginnen!


Vor genau drei Jahren kam ich nach fünf Monaten Aufenthalt im Krankenhaus nach Hause und meine Rehabilitation konnte beginnen. Diesen Tag werde ich nicht vergessen, denn er wurde einer der Emotionalsten seit dem Hirnabszess. Ich besuche die mächtigen Felsen beim Eingang zum Zigeunerloch und es wurde ein nachdenklicher Tag mit vielen Gedanken daran, wo ich heute stehe.

Ich habe jetzt drei Jahre hinter mir, in denen nichts blieb wie zuvor. Ich musste lernen, alles Stein für Stein neu aufzubauen. Weiter als bis zu den Grundmauern bin ich noch nicht gekommen. 

Klettern als Methapher

Es war eine der ersten Routen in Österreich, die im 10. Schwierigkeitsgrad lag. Imposant für mich, unter diesen Felswänden zu stehen. Ich wusste erst selbst nicht, warum es mich zum Zigeunerloch zog.

Erst als ich unter den gewaltigen, überhängenden Felsen stand, bekam ich eine Ahnung davon, was es mir zu sagen hat. Das Klettern in luftigen Höhen erfordert Mut und ist nur nach langem Training möglich. Es steht gleichbedeutend für mein Leben, für das ich Mut und Geduld brauche.

Mutig meinen Weg gehen, meine Komfortzone verlassen und mir zu Vertrauen, dass ich das Beste für mich finde und mache. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert oder ob es wirklich besser wird. Daher nutze ich jede Gelegenheit, mit dem was mir zur Verfügung steht. Die Bewegung hat einen dabei sehr großen Stellenwert bekommen. 

Klettern im Zigeunerloch

Kletter als Therapie

Klettern als Therapie steht schon länger auf meiner Liste. Die Gelegenheit bietet sich mir aber nicht oft und immer nur in Form von künstlichen Wänden. Wann immer es geht, bin ich in Graz an der Mur. Es galt bisher mich daran zu gewöhnen, mich überhaupt in eine Wand zu trauen.

Man sieht es mir fast nicht an, aber mein größtes Manko ist die Kraft. Fitnessstudio, spezielles Krafttraining und diverse Übungen haben mir bisher nur wenig in Bezug auf den Umfang gebracht. Muskelstärke aufbauen ist ein neurologisches Problem und geht nur sehr langsam vor sich.

Aber das es langsam geht, heißt noch lange nicht, darauf zu verzichten, weil Augenscheinlich nichts weiter geht. Es muss was weitergehen, denn immerhin bin ich zum Jakobsweg gefahren. Ich fühle mich zwar noch Kraftlos, aber zumindest kann ich mich schon fortbewegen. Zwischen Gehen und Fortbewegen habe ich einen Unterschied. Zum Gehen fehlt das Automatische und die Leichtigkeit. Darum spreche ich noch so oft vom "Gehen lernen".

Klettern im Zigeunerloch

Mein Jahrestag im Zigeunerloch

Dieser Spazierweg war mein Feiern. Ich war glücklich, seit dem Hirnabszess schon so viel geschafft zu haben. Sicher, es kann immer mehr sein, allerdings darf ich nicht vergessen, was ich erlitten habe. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.

Ich stieg noch ein bisschen an der Wand herum und mache mich dann auf den Weg neben der Mur. Ich genoss den Tag und hing meinem Gedanken nach, was ich in den drei Jahren erlebte.

Gehen neben der Mur

Pause an der Mur

Jeder Tag ist für mich ein neues Erleben und beginnt wie im Film: "Täglich grüßt das Murmeltier!". Zur Zeit gibt es immer noch keine Vergangenheit oder Zukunft und es hat keinen Einfluss darauf, wie es mir geht. Die Entscheidung, was ich mache oder was passieren soll, ist täglich neu.

In der Zwischenzeit habe ich aber gelernt, Schwerpunkte zu setzen, die aber über mehrere Wochen oder auch Monate führen können. Verbesserungen oder Veränderungen kann ich nicht in diesem Moment sehen, sondern kann sie nur über einen längeren Zeitraum erkennen.

Veränderung beginnt

Implodieren versus Explodieren

Ich habe an vielen Fronten zu arbeiten. Der Hirnabszess am Thalamus hat mein gesamtes Körpersystem durcheinander gebracht. Bücher über ähnliche Erlebnisse haben mir später sehr geholfen, mein Schicksal zu verarbeiten.

Allerdings hatten die meisten anderen Erlebnisse eines gemeinsam, fast alle sind durch Unfälle entstanden oder hatten eine Ursache von Außen. Einzig die Moderatorin Monica Lierhaus erlebte ähnliches. Ihr Buch hat mir viel Verständnis für die Folgen die ich erlitt gebracht. Hier ein Link zum Bericht und ein Auszug, wie es auch ich fühle:

"Etwas in mir ist damals gestorben, und etwas hat überlebt", schreibt Lierhaus. Sie sei, was ihre Fähigkeiten angeht, eine andere geworden. Aber der Kern sei geblieben. "Deshalb kann ich sagen, ich bin immer noch ich, auch wenn mir manches an diesem neuen Ich fremd ist. Vielleicht immer fremd bleiben wird."

Bericht über Monica Lierhaus von Solveig Bach/NTV

Bei mir war es ähnlich, ich explodierte von Innen. Wobei ich diese Implosion nicht so wahrgenommen habe. Ich war von einer auf die andere Stunde gezwungen, mich aufgrund von Schwindel hinzulegen.

Plötzlich auf Null gestellt

Es passierte nicht von Außen, durch einen Unfall oder ähnliches. Ich war plötzlich auf NULL gestellt, nichts funktionierte mehr, körperlich wie geistig. Ein eigenartiger Zustand bemächtigte sich meiner. Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein, anders als alle um mich herum. Meine Körperfunktionen wurden auf ein Minimum herunter gefahren, alle geistigen und in den folgenden Tagen auch immer mehr meine körperlichen. Alle Energie wurde für mein Überleben aufgewendet. Mein Überlebenskampf beginnt, der für mich keiner war.

Ich im Krankenhaus
...auf Null gestellt

Auf Vergangenheit und Zukunft konnte ich nicht reagieren und es war zunächst auch nicht wichtig. Mein Denken war stark beeinträchtigt und aufs Minimum reduziert. Mir selbst war das gar nicht bewusst. Alle Emotionen und Gefühle wurden ebenfalls ausgeschalten. Ein Grund, warum ich mit nichts belastet werden durfte. Ich lebte zwar, aber ich war zu schwach zum Sprechen oder denken, bald auch in der Bewegung.

Schädel MRT

Plötzlich geht gar nichts mehr

Es war anders als wie bei den meisten Unfällen. Bei mir ist neben dem Körperlichen eben auch das Geistige betroffen und das ohne offensichtlichen Grund. Das finden dieses Grundes oder der Ursache liegt aber im Geistigen. Das machte es mir besonders schwer, es mit etwas in Verbindung zu bringen. Ein Radsturz oder ein Kletterunfall zeigt oft einen Grund, wenngleich auch solche eine geistige Ursache haben. Diese heißt es zu erkennen.

Im Sport riskierte ich oft etwas oder war in teils schwere Stürze beim Radrennfahren verwickelt. Da war sofort klar, warum etwas passiert ist oder warum die Schwere einer Verletzung die Folge davon war. Das Geistige dahinter ist dann allerdings oft nicht mehr so klar. Dabei gibt das, was passiert, einen guten Hinweis darauf, was im Leben nicht passt. Deshalb war die Zeit, die ich im Sport verbrachte, mehr Bewusstseinsbildung, als das mir die Ergebnisse wichtig waren. Sogenannte Niederlagen waren oft mehr lehrreich als Siege.

Krankheiten oder Unfälle passieren nur, wenn über einen längeren Zeitraum Fehler gemacht werden. Diese Fehler zwingen einen wieder in die richtige Richtung und es beginnt Gesundung. Auf diese Fehler draufkommen und sie verändern zu können, ist das Ziel. Je nach Schwere kann es länger oder kürzer dauern. 

Therapie, das Leben beginnt

Postbeamter, Sportler, Filmer

Ich habe nach 14 Jahren, als Beamter bei der Post, meinen damaligen Beruf gekündigt, weil es nicht mehr meinem Leben entsprach. Im Sport konnte ich mich dann selbst verwirklichen. Es machte mir Freude und ich war in meinem Element. Nach dem Sport ging ich in die Wirtschaft, gründete eine Familie und gelangte in ein System, dass meiner Freiheit widersprach.

Ich versuchte zwar das Beste daraus zu machen, aber es sollte bis zum Hirnabszess dauern, bis ich Fehler im Denken erkannte. Das Hamsterrad hatte mich gefangen und ich fand keinen Ausweg daraus für mich. Obwohl ich es erkannte, hatte ich nicht die Kraft, darauf richtig zu reagieren. Es kam, wie es kommen musste.

Der Thalamusabszess, mein neues Leben beginnt

Dieses Abszess am Thalamus wurde eine besondere Lernerfahrung für mich. Das gesamte Leben von der Pieke auf neu zu lernen, ist eine Herausforderung. Es benötigt eine gesamte Neustrukturierung meines Lebens, aber auch meines Denkens. Step by Step oder Schritt für Schritt komme ich zurück ins Leben. Aber es dauert.

Alte Lebensstrukturen heißt es zu erkennen und umzuprogrammieren. Mein Denken lässt nur kleine Schritte zu, wie auch in der Bewegung. Erst wenn ich einen Schritt verinnerlicht habe, kann der nächste Schritt drankommen. Deshalb beginnt auch jeder Tag von neuem. Ich kann zwar auf wieder Erlerntes aufbauen, aber jeder Tag fängt für mich in der Früh von neuem an.

Es ist schwer zu erklären, weil mir noch immer so viele Wörter und Formulierungen fehlen. Es ist meine Arbeit, diese zu finden, um es in naher oder ferner Zukunft, immer besser erklären zu können. Ich kann es derzeit nur so, dass ich auf Gelerntes aufbauen kann, aber trotzdem für mich der Film: "...und täglich grüsst das Mumeltier!", gilt.

Tag für Tag neu

Da alles in so kleinen Schritten passiert, scheint jeder Tag aufs neue zu passieren. Die Fortschritte sind so gering, dass ich sie kaum bemerke. Mehr Struktur in meinen Tagesablauf zu bekommen, hilft mir sehr. Deshalb fühle ich mich am Jakobsweg so wohl. Seit ich alleine in einer Wohnung lebe, fehlt mir diese Struktur, weil ich mehr mit Überleben beschäftigt bin, als mit meiner Rehabilitation.

Am Camino lernte ich, einen Tagesablauf zu bewerkstelligen. Jeder Tag hat gewisse Anforderungen, die aber über einen längeren Zeitraum dieselben sind. Gehen, Essen und schlafen, nichts anderes ist dort wichtig. Aufs einfachste reduziert zu sein, tut mir sehr gut. Ablenkungen von zu Hause fallen weg und das Leben im Jetzt ist wichtig. Beinahe alles was mich belastet, fällt am Camino weg. Trotzdem therapiere ich, eigentlich unbemerkt. Der Weg ist das Ziel, wurde dort besonders bemerkbar.

Das Leben beginnt

So erlebe ich jeden Tag neu und versuche für mich das Maximum heraus zu holen. Das kann auch bedeuten, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Das gehört für mich zum Training dazu. Viele sehen natürlich nur die Fotos, was ich alles mache. Das ist aber nur ein Ausschnitt von vielem. Es vermittelt den Eindruck, als ob ich dauernd aktiv bin. Das bin ich aber nicht und kann es gar nicht. Denn solange der Tag länger ist, als das meine Energie reicht, bin ich darauf angewiesen, auch öfter nichts zu tun.

Ein Leitsatz gilt für mich aber aber nach wie vor für mich:

"NEVER GIVE UP!"

oder

"Niemals aufgeben!"

Der Tag beginnt für mich jedesmal neu und am Ende des Tages kann ich beruhigt schlafen gehen, mit der Gewissheit, trotz des vielen Therapierens, niemals aufgegeben und mein bestes gegeben zu haben!


Pilgern ist mein neues Trailrunning, besser gesagt, mein "Trail-Gehen". Mein größter Wunsch war, wieder Gehen und Laufen zu können. Das mit dem Gehen habe ich mir mit jahrelangem Training erfüllt. Laufen muss noch warten.

Trailrunning ist immer noch nicht möglich. Dafür bin ich noch zu wenig stabil und es ist mir noch zu intensiv. Jeder Schritt beim Laufen bringt eine Erschütterung mit sich, die mein Körper noch nicht verträgt.

Pilgern als Reha

1. Reha - 2. Leben - 3. Pilgern

Aus diesen drei Faktoren besteht mein Leben. Bestimmend in meinem Leben ist noch immer der Punkt "Rehabilitation"

Meine Defizite sind noch zu groß, als das es anders wäre. Solange ich die Chance einer Verbesserung sehe, werde ich daran arbeiten. Ich akzeptiere meinen derzeitigen Zustand, aber ich nehme ihn nicht als gegeben hin. Nur darf es nicht ausschließlich Reha sein, ich soll trotzdem wieder Leben lernen.

Allerdings ist das jetzt mein Leben. Es wäre naiv, meinen derzeitigen Zustand nicht Annehmen zu wollen. Nur indem ich ihn annahm, konnte ich diese mittlerweile über dreijährige Phase überstehen. 

Camino del Norte, meine Reha Anstalt

Pilgern mit Behinderung

Das Pilgern nimmt einen wichtigen Stellenwert für mich ein. Es war im letzen Jahr mein erster Ausbruch aus der Welt der Rehabilitation, als ich zum Camino Frances fuhr.

Denn egal was ich bisher tat, die geringste Bewegung ließ mich besser werden und war Rehabilitation. Es war nicht leicht, aus diesem Gedanken zu kommen. Die Behinderung des Körpers, wie auch des Geistes war allgegenwärtig.

Beim Pilgern brauchte ich daran nicht denken. Denn viele andere Pilger hatten Bänder, Sehnen und Gelenksprobleme und wackelten entsprechend daher. Es gab kaum einen Unterschied.

Mit Geh-Behinderung am Camino

Pilgern ist auch Rehabilitation, aber unter dem Aspekt zu Leben

Es geschieht nebenbei und das unter "gewöhnlichen" Bedingungen. Pilgern mit Behinderung hat einen wichtigen Aspekt, nämlich wieder Leben zu lernen. Am Jakobsweg brauche ich mich nur um das zu kümmern, was anstand. Das ist ein großer Vorteil, gegenüber zu Hause. Dort bin ich zu sehr in das tägliche Überleben involviert.

Es ist im heimischen Zuhause nicht möglich, sich ganz und gar nur auf sich zu konzentrieren. Aber gerade das brauche ich.  Mein Gedächtnis ist ebenso betroffen, wie die Bewegung und lässt sich nur gleich langsam wie alles andere verbessern. Daher versuche ich, allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen oder besser gesagt, alles zu vermeiden, was mir keine Freude bereitet.

Daher tut mir das Pilgern so gut. Denn nur in einem Zustand der Freude ist Heilung möglich und am Camino bin ich immer unter einem Zustand der Freude. Selbst im starken Regen gehe ich pfeifend durch Gatsch und Wasser, vollkommen durchnässt. Diese Freude am Leben ist echt und sehr emotional. In solchen Momenten fühle ich mich gut aufgehoben und bringt mich gesundheitlich weiter, als Stunden in der Kraftkammer.

Pfeifend beim Pilgern

Pilgern und die Defizite

Am Camino denke ich nicht über meine Defizite oder über die Behinderung nach. Sie sind ein Teil von mir, wie der Weg, der Hunger oder der Durst. Natürlich sind sie da, aber sie sind nicht vorherrschend. 

Zu Hause gehe ich zur Therapie oder auf Reha. Ich werde dabei immer daran erinnert, dass ich behindert bin und Defizite habe. Es ist weitaus gefährlicher, weil ich immer wieder in die Stadt muss. Dieses dauernde Erinnern und darauf gestoßen zu werden, an meinen Defiziten zu arbeiten, ist oft nicht leicht. Am Camino kann ich leben und therapiere gleichzeitig, ohne das es mir auffällt.

Am Camino halte ich mich praktisch nur in der Natur auf. Die wenigen Großstädte durchquerte ich in einem Stück, meist am Sonntag, wo weniger los war. So wurde meine Aufmerksamkeit geschont und es blieb mehr Energie für den Rest. Gerade meine Hochsensibilität macht mir in den Städten zu schaffen.

Freude beim Pilgern und das ich überhaupt wieder gehen kann.

Bergauf, Bergab

Ich fühle mich wohl, wenn ich gehen kann. Mit entsprechenden kurzen Pausen dazwischen, kann ich schon weit gehen. Diese Pausen sind unter anderem meinen Sprunggelenken geschuldet. Das Ziel der mehrmonatigen Physiotherapie Anfang des Jahres war eine Stärkung dieser. Das war gelungen. Knöchelte ich am Anfang des Jahres noch öfter um, so kippte ich am Camino nur mehr einige Male um, ohne größere Auswirkungen.

Wichtig war die innere Stärkung und die erreicht man durch balancieren. Dazu war am Camino mehr als genug Gelegenheit. Das Gleichgewicht und die Muskulatur zu verstärken, heißt auch die Gehirnzellen auf Trab zu bringen.

Besonders bergab war es wichtig die Balance auf den Steinen zu halten. Allerdings konnte ich nicht springen. Trotzdem wurde der Körper aktiviert und arbeitete mehr als genug. Es geht mir gleich wie kleinen Kindern, die durch Herumtollen ihre Bewegung verbessern. Mein Körper ist steif, unbeweglich und die Geschmeidigkeit fehlt ihm. Daher tut das Abwärts Gehen auf den schmalen Pfaden sehr gut, weil ich ständig meinen Körper verdrehen muss.

Balancieren, Pilgern als Reha am Camino

Lieber durch den Wald, wie durch die Stadt

Der Wald ist mein Fitness-Studio. Durch den weichen und unebenen Boden wird meine Bein- und Rumpfmuskulatur gestärkt. Ich verwendete diese Woche zum ersten Mal eine Puls Uhr. Dabei bemerkte ich einen um fünf Schläge höheren Puls auf einer Schotterstrasse, als auf Asphalt.

Gerade der Küstennahe Regenwald brachte zusätzliche Wirkung. Da es doch oft regnete, war die Luft durchdrungen von den Düften des Waldes. Es war eine einzigartige Stimmung, die meine Fröhlichkeit förderte, froh darüber das alles erleben zu dürfen.

santiagoways.com/en/camino-de-santiago-routes/camino-del-norte/(öffnet in neuem Tab)

Diese Freude am Leben spiegelte sich in vielem wieder. Ich konnte plötzlich wieder pfeifen, was mir lange wegen der Halbseitenlähmung nicht gelang. Meine Zunge und Gesichtshälfte sind ja betroffen davon.

Dazu kann ich mich nicht einmal daran erinnern, während des Caminos nicht gut drauf gewesen zu sein. Der Jakobsweg war Balsam für meinen Körper, Geist und Seele.

Pilgern gehen

Das Pilgern wurde meine liebste Tätigkeit, die ich auch mit Handicap unternehmen kann.


Meine Hochsensibilität, der Camino und ich!

Seit einer Woche bin ich nun zurück vom Camino. Und wie jedes Mal stellt sich mir die Frage: Konnte ich meine Wahrnehmung, meine Hochsensibilität weiterentwickeln?

Ich bin mir dieser feinen, intensiven Wahrnehmung bewusst – und ich arbeite seit zwei Jahren daran, sie in gute Bahnen zu lenken. Sie ist ein Teil von mir geworden, einer, der mein Leben tief beeinflusst.

Diese Hochsensibilität ist auch ein Grund dafür, warum ich mich nur Schritt für Schritt weiterentwickeln kann. Mein Gehirn kennt keine Filter mehr – seit der Erkrankung treffen sämtliche Reize ungefiltert auf mich ein. Geräusche, Stimmungen, Worte, Blicke – alles kommt gleichzeitig. Und es braucht Zeit, das einzuordnen.

Doch genau deshalb war der Camino wieder eine Schule des Wahrnehmens. Eine Einladung zur Achtsamkeit. Eine Erinnerung daran, dass Wachstum nicht in Sprüngen geschieht – sondern in kleinen, stillen Schritten.

Camino del Norte

Die Hochsensibilität

Seit drei Jahren trainiere und übe ich daran, sie zu verbessern. Der Schwindel, die Gleichgewichtsstörungen und die sich nur langsam aufbauende Muskelkraft sind das Eine. Dazu aber die Hochsensibilität, das alles zusammen macht ein normales Bewegen in der Stadt noch immer nicht leicht möglich.

Schon letztes Jahr am Camino France war es nicht leicht. Ich blieb in keiner Stadt, durchquerte jede und hielt mich quasi nur in der Natur oder den Herbergen auf. Kirchenbesuche musste ich auf ein Minimum beschränken und Menschenansammlungen vermied ich.

Am wohlsten fühlte ich mich, wenn ich alleine am Weg war. Die Natur stresste mich nicht und ich fühlte mich in ihrem Rhythmus wohl. Diese Feinfühligkeit und Hochsensibilität umfasst aber mehr als nur diese äußere Wahrnehmung. Doch dazu später noch mehr. Dieses "überfordert sein von Reizen" war zunächst vordergründig.

Hochsensibilität

6 Wochen am Camino del Norte

Ich war gespannt, ob sich an meinem Verhalten etwas geändert hatte. Viele Fragen tauchten im Vorfeld der Reise auf. Zusammengefasst behandelten alle das gleiche Thema:

"Wie wird meine Wahrnehmung diesmal sein?"

Dementsprechend vorsichtig ging ich alles an. Keine Energie durfte vergeudet werden. Irun, San Sebastian wurden durchquert und nicht als Zielpunkt genommen. Die Stadt strengt mich noch zu sehr an.

Auch später noch Bilbao oder Gijon. Ich durchschritt sie und schaute, wie in Gijon, dass ich am Sonntag durch gehen konnte. So wurden die langen Abschnitte durch die Industriezonen leichter, weil kaum Verkehr war. Das richtige Timing war wichtig.

Santiago de Compostela

In der dritte Woche begann sich was zu verändern. Ich konnte plötzlich öfter und wesentlich länger während dem Gehen auch die Gegend anschauen. Ich musste nicht immer auf den Boden blicken, wo ich hinsteige.

Ich wurde Aufnahmefähiger und das machte sich besonders bemerkbar in Santiago. Natürlich strengten mich die vielen Menschen noch an. Aber es war doch anders als im letzten Jahr. Ich besuchte sogar die Pilgermesse und holte mir die Compostela. Das wäre voriges Jahr noch undenkbar gewesen.

Vor der Kathedrale

Die andere Seite der Hochsensibilität

Es gibt sie auch – die andere Seite der Hochsensibilität. Nicht nur die verstärkte Reizaufnahme, die einen schnell erschöpfen kann. Sondern auch diese tiefe Empfindsamkeit für Menschen, für Beziehungen, für Dinge und Situationen.

Besonders der feine Sinn für Ethik, für Ganzheitlichkeit und Stimmigkeit – er kann bereichern, aber auch blockieren. Ich spüre sehr schnell, wenn etwas nicht stimmig ist, wenn etwas im Raum hängt, das nicht passt. Doch diesem Gefühl zu trauen, ist nicht einfach. Oft kann ich gar nicht sagen, warum es sich nicht richtig anfühlt. Es ist mehr ein inneres Wissen – ohne Worte, ohne Begründung.

Ich glaube oft zu spüren, was andere brauchen, denken oder fühlen. Als Energetiker hatte ich das im Griff – es war meine Stärke, mein Werkzeug. Doch jetzt scheint es, als gäbe es keine Filter mehr. Alles kommt ungefragt herein. Diese Flut an Eindrücken, Gedanken und Emotionen – sie überfordert meinen Geist.

Und manchmal weiß ich nicht mehr, wohin mit all dem. Ich kann Wichtiges nicht mehr von Unwichtigem trennen. Mein Verstand – der einst mein Verlass war – ist überfordert. Und das Schlimmste: Ich kann ihm noch immer nicht wirklich vertrauen.

Doch ich lerne. Jeden Tag ein wenig mehr. Vielleicht braucht es einfach Zeit – und diesen sanften Blick nach innen.

Wahrnehmung einmal anders

Besonders schwierig wird es, wenn ich all das in Worte fassen möchte. Mein Wortschatz – reduziert, seit der Krankheit – reicht oft nicht aus, um das auszudrücken, was ich eigentlich sagen will. Und so musste ich schmerzlich erfahren, wie oft ich missverstanden wurde. Nicht, weil ich nicht fühlte. Sondern weil mir die Worte fehlten, es mitzuteilen.

Ob ich will oder nicht – meine Art, zu beobachten, hat sich verändert. Ich achte stärker auf Kleinigkeiten, nehme Nuancen wahr, die mir früher entgangen wären. Und irgendwie fließen sie ganz von selbst in mein Gesamtbild ein. Das geschieht meist unbewusst – fast wie eine innere Landkarte, die sich von allein zeichnet.

Manchmal wirkt es übersinnlich, was ich da spüre. Und das passt nicht immer in unsere Welt. In eine Gesellschaft, die lieber das Sichtbare zählt, das Messbare, das Logische. Man hat es nicht leicht mit solcher Art Wahrnehmung. Und doch gehört sie zu mir.

Camino de Norte

Die Intuition

Der Intuition zu vertrauen – das musste ich erst wieder lernen. Überhaupt diese gesteigerte Wahrnehmung ins Leben zu integrieren, war eine Herausforderung. Der Camino war der ideale Ort dafür.

Hier, auf diesem Weg, begann ich langsam, mich wieder auf meine innere Stimme zu verlassen. Zuvor konnte ich meine Wahrnehmung nur abschalten – oder sie war zu hundert Prozent da, überwältigend und ungefiltert.

Erst am Camino fand ich den ersten Zugang zur Steuerung. Ich lernte, zwischen den Extremen zu unterscheiden. Ein zarter Anfang – und doch ein großer Schritt.

Auch hier gilt: Schritt für Schritt. Der Anfang ist gemacht. Und darauf kann ich aufbauen. Es wird seine Zeit brauchen, bis ich damit wieder sicher umgehen kann. Aber ich bin unterwegs. Und das zählt.

Hochsensibel sein hat auch Vorteile

Es gibt viele Beispiele für den Einsatz dieser Wahrnehmung. Doch bevor man sie nutzen kann, heißt es: lernen, damit umzugehen.

Denn Intuition ist keine übersinnliche Fähigkeit. Ganz im Gegenteil. Sie öffnet nur den Zugang zu Informationen, die eigentlich allen zur Verfügung stehen – oft unbemerkt, oft überlagert vom Lärm des Alltags.

Und genau da beginnt die eigentliche Herausforderung: zu unterscheiden. Zwischen innerem Wissen und alten Glaubenssätzen. Zwischen Vorurteilen, Prägungen – und dem feinen Gespür für das, was wirklich ist.

Denn es gibt nicht die eine Wahrheit. Es gibt viele. Und oft liegt die Kunst darin, sie nebeneinander stehen zu lassen, ohne zu urteilen.

Vertrauen – darauf kommt es an. Vertrauen in sich selbst. In die eigene Wahrnehmung. In das, was zwischen den Zeilen spürbar ist.

Und vielleicht ist genau das der Weg: Nicht alles erklären zu müssen. Sondern zu lernen, mit dem zu gehen, was man fühlt. Schritt für Schritt.


Was kann ich vom Camino del Norte mitnehmen, was habe ich gelernt?

Ich konnte in allen Bereichen mein Leben verbessern, zumindest am Camino. Wie ich es Zuhause erlebe, werde ich noch sehen.

Der am Thalamus sitzende Abszess störte das gesamte Körper System. Somit habe ich in allen Bereichen zu trainieren. Meine vorrangigste Arbeit ist es, alles zu Harmonisieren. Auch wenn ich nur im Single-Tasking Modus unterwegs bin, werden auch alle andere Bereiche harmonisiert, mit dem, was ich tue.

Vor der Kathedrale
Vor der Kathedrale in Santiago de Compostela

Ich geh dann mal Leben!

Mit diesen Worten startete ich den Camino und hatte die nächsten Wochen die Zeit und das Ziel dafür, wieder am Leben teilhaben zu können. Ich hatte das Gefühl, dieser Camino würde eine wichtige Rolle in meiner Rehabilitation spielen und ich sollte Recht behalten.

So startete ich also in den Weg, dessen Ziel unendlich weit vor mir lag und den ich "Step by Step" bewältigen wollte. 

Das Leben zelebrieren
Das Leben zelebrieren!!!

Fragen über Fragen

Viele Fragen stellten sich mir in den Tagen vor der Reise. Beantworten würde sie aber nur die Zeit und der Camino selbst. "Du bekommst, was du brauchst, nicht was du möchtest", das sollte sich immer wieder bewahrheiten.

Meine ersten Fragen waren noch sehr auf die Reise bezogen. Das sollte sich aber ändern.     

  • Wie werde ich die Stöcke verwenden können?
  • Wie sehe ich den Camino diesmal. Therapie oder Leben?
  • Kann ich mein Gehen verbessern?
Mit Stöcken am Camino
Mit Stöcken am Camino

Die erste Frage...

...tauchte bereits am ersten Tag auf. Ich nahm diesmal Trailrunning Stöcke mit. Sie sollten mir in den steilen Anstiegen helfen das Gleichgewicht zu bewahren. Letztes Jahr am Camino Frances bin ich in jede Gatschlacke (Dreckpfütze) gefallen, weil ich nicht springen konnte oder über Baumstämme balancieren konnte. Dabei sollten mir die Stöcke helfen.

Dieses Jahr hatte ich aber auch eine andere Einstellung zum Dreck. Was ist schon Dreck? Ich konnte froh sein, ihn überhaupt erleben zu dürfen.

Nichtsdestotrotz, waren mir die Stöcke in manch heiklen Situationen eine sehr gute Hilfe. Ich musste sie allerdings zwischendurch immer wieder wegpacken, um mich nicht zu sehr daran zu gewöhnen. Mein Gleichgewicht verschlechterte sich sofort damit. Darum habe ich am Camino France keine verwendet, um mein Gleichgewicht besser schulen zu können.

Mit Stöcken am Camino

Therapie oder Leben?

Eine weitere, für mich sehr wichtige Frage? Sah ich den Weg als Therapie oder konnte ich ihn auch als wieder Leben sehen. In den letzten Monaten hatte ich ja die Aufgabe, zwischen Leben und Therapie zu unterscheiden. Diese Frage sollte sich als sehr spannend herausstellen. Konnte ich das Pilgern als das Leben sehen oder ist es mehr, wie im letzten Jahr, Therapie?

Therapie

Die ersten 14 Tage des Camino waren definitiv als Therapie zu sehen. Der Weg war ungewohnt steil, hinauf wie hinunter, es sollte kein Honiglecken werden. Das stand gleich einmal fest.

Bereits die ersten Tage zeigten, dass dieser Camino ein anderer war, als wie ich ihn am Camino France erlebte, den ich als einzigen kannte.

Auf und Ab

Es war zwar wie erwartet, aber trotzdem kam es unerwartet. Ständiges Auf und Ab überraschte mich trotz aller Vorbereitung. Aufgrund zahlreicher Berichte anderer, erwartete ich es. Allerdings überraschten mich meine Körperdefizite, das Gehen war weit anstrengender als gedacht.

Es war mir unbekannt, wie mein Körper auf diese Menge an Bergen reagierte. Nach drei Jahren Rehabilitation und Training bedeutete noch jeder Hügel und jeder Berg nach wie vor eine Anstrengung, wie ein Höhenbergsteiger in 7-8000 Meter braucht.

Klettern als Therapie, auch am Camino

Wie werde ich wohl die An- und Abstiege meistern? 

Es kam wie es kam. Bergauf kämpfte ich um jeden Meter und bergab ....war es dasselbe. Ich konnte es nicht "laufenlassen". Schritt für Schritt musste ich auch nach unten steigen. Es war gleich anstrengend wie hinauf. 

Ich war zwar überrascht, aber gleichzeitig motivierte es mich. Denn nur durch TUN konnte ich Verbesserungen erzielen. Dass es eine Herausforderung werden sollte, wusste ich schon vorher.

Der Tagesablauf

Es war überhaupt alles anders, wie am Camino France. Dort war es frühes Aufstehen, dann einige Kilometer bis zur ersten Bar, wo ich Kaffee und Tortillas essen konnte und dann weiter.

Das sollte es hier nicht spielen. Meinen Tagesablauf musste ich umstellen. Als einer der Ersten ging ich gegen sieben Uhr los, das war ungewohnt spät. So früh nehme ich um diese Zeit kein Frühstück zu mir, aber damit wartete bereits die erste große Herausforderung auf mich.

Oft erst gegen Mittag war es möglich, die erste Mahlzeit einzunehmen oder einen Kaffee zu trinken. Bis dahin gab es Nüsse, mein oft trockenes Brot und Wurst. Für solche Fälle hatte ich immer eine Not-Ration dabei, die allerdings zu oft herhalten musste. Es gab viele Herbergen ohne Essen oder Einkaufsmöglichkeit in der Nähe, da musste dann das reichen, was ich als Not-Ration dabei hatte.

Das war eine große Umstellung, denn es gab zwar Dörfer, aber keine mit einer offenen Bar. So konnte ich mich nie darauf verlassen, dass ich bis Mittag etwas zu Essen oder Trinken bekam.

Endlich Pause

Der Camino - Du bekommst, was du brauchst!

Dieser Camino hielt wirklich jederzeit für mich bereit, was ich brauchte, nicht immer das, was ich mir wünschte. Es war beinahe unheimlich, wie er immer wieder das getroffen hat, was ich WIRKLICH brauchte.

In den letzten beiden Wochen war es ein geflügeltes Wort unter uns. Ich war die letzten beiden Wochen und speziell die letzte Woche mit Günter, einem Bildhauer unterwegs. Wir diskutierten viel über das Leben und das Wie und warum es so und nicht anders, mit uns spielt.

Dieses Reflektieren war für mich besonders wichtig, denn es war ein Austausch möglich, wie es mir die letzten Jahre nicht möglich war. Dieses Reden können war die wohl wichtigste Errungenschaft am Camino. Ich brauchte es und habe es bekommen. Es war kein einseitiges Nehmen, ich konnte auch geben. So wurde es ein Geben und Nehmen, das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Daher ist der Camino in so vielem die beste Therapie. Er ersetzt natürlich keine professionelle Hilfe. Aber ich bin der Meinung, viele Therapien wären nicht nötig, würden die Menschen den Camino gehen.

Camino versus Reha

Ich "therapierte" dasselbe, wie in der Reha. Physio-, Ergo- und Psychotherapie standen hier täglich am Programm und das unter lebensnahen Bedingungen.

Der Camino gibt dir das, was du brauchst. Man wird täglich damit konfrontiert, bis man es lernt. Ich habe enorm viel gelernt. Am Anfang hatte ich besonders Fuß- und Gelenkschmerzen. Füße, Knie und Hüfte stehen für den geraden Gang durchs Leben. Habe ich dort ein Problem, so hindert es mich an etwas.

Kann ich es lösen, verschwinden auch die Probleme. Sie sind nur ein Aufzeiger dafür, das etwas nicht stimmt. Meine anfänglichen Schmerzen verschwanden komplett. Besonders der rechte Fuß machte Schwierigkeiten. Schmerzen hängen mit dem Denken zusammen.

Ich nahm sie für mich als Thema und arbeitete geistig, anstatt eine Ruhepause einzulegen, wie es viele unterwegs vom Arzt geraten bekommen. Ich ging durch den Schmerz durch und löste es geistig. Von einem Tag auf den anderen war der Schmerz weg und ist bis heute nicht wieder gekommen.

Die Füße zeigten mir, wo es lang geht

Viel zu Erzählen

Es gibt so viel zu erzählen, aber ich schaffe das noch nicht. Mein Denkvermögen ist noch verringert und um das, was ich denke, auch in Worte oder Sprache umzusetzen, fehlt mir noch der Wortschatz.

Ich werde in einem weiteren Teil darüber mehr berichten.


Ich habe mittlerweile Santiago und Finesterre erreicht. Rund 950 km liegen am Camino del Norte somit hinter mir. Es ist hier für mich hier erträglicher, weil ich mit allem was ich mache, auf mich selbst zurückgeworfen werde. Mein neues Leben geht weiter!

Da ich nicht viel Zeit zum Schreiben habe, berichte ich nur wenig. Ich bin noch unterwegs und das Schreiben erfordert Zeit. Daher gebe ich nur eine schnelle Übersicht. Einen längeren Bericht gibt es später, vorab aber ein paar Fotos.

Neues Leben

Eines aber vorweg: Ich habe mein Leben wieder gefunden, zumindest ein Gefühl dafür bekommen. Das ist wohl mein größter Erfolg und das kann ich meinen Mit-Pilgern zuschreiben. Sie unterstützten mich darin so großartig und es zeigte mir ein Leben, dass ich so nicht mehr kannte.

Erstmals war dieses Lebensgefühl stärker, als das Behindert sein. Es war ein wichtiger Schritt in meinem Leben.

Die Bilder vom Camino de Norte

Hier ein paar Bilder, in einer Woche dann mehr.

In Santiago, das Neue Leben am Camino
Santiago de Compostela erreicht
Endlich auch wieder Leben,
Santiago de Compostela
Finesterre, dem Ende des Camino.
Ein Neues Leben beginnen
Finesterre
Finesterre, Camino del Norte, beim Kilometerstein 0
In Finesterre

Im Großen und Ganzen komme ich am Camino Norte recht gut über die Runden und habe die Sinneseindrücke, mehr oder weniger gut, unter Kontrolle. Eine Brücke wurde aber zur bisher größten Herausforderung dieses Caminos.

Brücke über einen Meeresarm

Die Brücken Überquerung

Rechts geht es tief ins Meer und links donnern die PKW und Lastwagen vorbei und dazu schwankt alles. Alle meine Sensoren arbeiten auf Hochtouren, aber durcheinander. Das Gehen fällt mir schwer, die Koordination leidet darunter.

Der Verkehr auf der Brücke
Rechts vom LKW geht man

Es ist meinem Gehirn unmöglich, alles zu koordinieren. Ich brauche alle Konzentration für das Gehen und um nicht schwindlig zu werden. Meine Energie sinkt mit jedem Schritt.

Auf den Boden schauend, Schritt für Schritt, bewege ich mich vorwärts. Nur ja kein Blick zur Seite. Dazu kommt ein Wind, der mich immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Am liebsten würde ich auf dem Boden vorwärts kriechen. So sehr bin ich noch selten ans Limit gekommen.

Ans Limit gebracht

Auf der anderen Seite angelangt, brauche ich eine längere Pause, um mich wieder sammeln zu können. So ist es mir noch nie ergangen.

Solche einfachen Dinge können mich ans Limit bringen, vor allem wenn meine Sinne irritiert werden. Das Wissen, dass nichts passieren kann, ist da, trotzdem wird einem anderes vorgegaukelt.

Bei jedem Schritt habe ich Angst, in die Tiefe zu stürzen. Ich fühle mich wie auf einem Hochseil, ohne Sicherung. Ich kann nur schwer das Ende meines Körpers abschätzen, geschweige denn die Entfernung bis zum Wasser oder den Abstand der Autos. Mein Gehirn ist unter Dauerbeschuss.

Aber was hat mir dieser Vorfall zu sagen?

Alles, was passiert, hat mit einem selbst zu tun. Was möchte es mir also sagen?

Es ist ein Metapher Bild, wie es mächtiger nicht sein konnte und mir viel aufzeigt.

Die Brücke

Eine Brücke stellt immer einen Übergang dar, für mich der Übergang in ein neues Leben. Ich habe diese Brücke aber erst zu bauen, denn bisher bin ich noch nicht im Leben angekommen.

Ich hatte schon auf kleinen Brücken Probleme bekommen, wie ich vor einigen Tagen auf Instagram schrieb, allerdings beachtete ich es noch zu wenig.

Brücke

Das "neue" Leben

Mit dem Überleben des Hirnabszesses wurde mir ein neues Leben gegeben. Damit habe ich erst begonnen, über die Brücke zu gehen, das Ende ist noch weit entfernt. 

Dieses neue Leben soll nicht eine bessere Ausgabe meines alten Leben oder eine kosmetische Veränderung werden, sondern soll einen Wandel von weit größerer Bedeutung beinhalten, nach dem sich mein Herz schon lange sehnt.

Noch weiß ich nicht, was dieses neue Leben ist oder wie es aussehen wird. Mit dem Hirnabszess habe ich die Zeit bekommen, mich Schritt für Schritt an dieses Neue anzupassen und das Vertrauen in mich selbst wiederzuerlangen.

Schritt für Schritt
Schritt für Schritt, wie am Jakobsweg

Das Neue, die Metapher Brücke

Das Metapher Brücke sagt mir, etwas Neues zu beginnen und ist ein Synonym für den Übergang in ein neues Leben. Ich bin unter anderem hier am Jakobsweg, um mich neu zu (er-)finden. Das habe ich noch nicht, allerdings hat es mir die Brücke gezeigt, dass ich wieder näher dran bin.

Mein Übergang ist noch nicht vollzogen. Ich brauche noch Erfahrungen, bin aber auf gutem Weg, die "Brücke" zu überqueren.

Brücke

Was wartet auf mich?

Das kann ich nicht sagen, ich weiß es nicht. Es wird etwas Größeres sein, als bisher und damit ist nicht ein größeres Auto oder Haus gemeint, sondern eine neue Lebensstufe. Ich spüre es, kann es aber nicht beschreiben.

Der Hirnabszess und die Zeit jetzt, sind nur die Vorbereitung darauf. Kraft sammeln und gesund werden, ist jetzt wichtig. Meine Konzentration hat sich nur darauf und auf meine beiden Kinder zu beziehen. Ich war ja praktisch zwei Jahre nicht für sie da.

Der Hirnabszess

Die Folgen des Hirnabszess und meine Verbesserung, halten mich noch in Beschlag und ich brauche alle Konzentration dafür. Allerdings, soviel Zeit mir bleibt, möchte ich für die Kinder da sein.

Noch bin ich in Rehabilitation und das wird auch noch eine Zeitlang so bleiben. Aber in der Ergotherapie habe ich schon begonnen, das Leben zu versuchen.

Ein Anfang ist gemacht und die Brücke war ein wichtiger Hinweis auf das Kommende!


Jetzt bin ich seit drei Wochen am Camino Norte mit meinen Handicaps unterwegs. Worin habe ich meine Erfahrungen und Erlebnisse seither gemacht?

Die Folgen des Hirnabszess werden mich noch länger begleiten und bleiben immer wieder eine Herausforderung. Erfahrungen und Erlebnisse mache ich dort, wo ich an meine Grenzen stoße und davon gibt es nicht zu wenige.

Erfahrungen und Erlebnisse am Camino Norte

Körperliche Erfahrungen

Diesen setze ich mich zwangsläufig aus. Sobald ich ungewohntes Terrain verlasse, bin ich diesen ausgesetzt. Am Camino Norte sind es die ungewohnt vielen An- und Abstiege, die mich immer wieder an die Grenze kommen lassen.

Bisher übte ich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die letzten Monate machte ich viele Kräftigungsübungen, vor allem, um nicht nur gehen, sondern auch steigen zu können. Das Hochsteigen fordert mir noch viel Energie ab, die ich aber nur begrenzt zur Verfügung habe.

Das schwierigste ist das Kniehohe steigen und das habe ich hier in vielfältiger Form. Treppensteigen ist nach wie vor nur unter Anstrengung möglich. Mit Felsen durchsetzte Wege fordern mir hier bergauf, wie bergab, alles ab.

Es ist ein vollkommen anderes Gehen als am Camino Frances, ein hoch konzentriertes Gehen, denn jeder Schritt muss hier passen und genau hingesetzt werden. Ein intuitive Gehen ist mir unmöglich. Jeder Gedanke und die Konzentration darf nur beim Gehen sein.

Lasse ich mich ablenken, passiert sofort ein Missgeschick. Ich kippe um, komme ins Straucheln oder falle in eine allgegenwärtige Lacke.

Camino Norte

Fuß anheben

Am Camino Frances lernte ich gehen, besonders die Fußschaufel weit genug anheben, um nicht am Boden hängenzubleiben.

Am Norte ist es gesteigert. Die Felsen sind zahlreicher, höher und öfter am Weg. Das heißt für mich, den Fuß hoch genug anzuheben, um nicht ins Stolpern zu kommen.

Da muss ich natürlich mit den Gedanken dabei sein, denn ein Sturz wäre bei zu viel Unachtsamkeit die Folge. Für Außen stehende hat das die Folge, dass ich sehr unnahbar scheine, weil ich immer auf den Boden schauen muss, um nicht zu stürzen. Dabei kann ich rechts und links von mir nichts wahrnehmen, dabei gehe ich nur hoch konzentriert, tief in mich versunken und passe auf, nicht zu stürzen. Unterhaltungen mit anderen am Weg, sind daher auf ein Minimum eingeschränkt.

Es sind aber viel weniger Menschen unterwegs, als am Camino Frances. Jeder geht sein eigenes Tempo, das aufgrund der zahllosen Anstiege und Abstiege sehr unterschiedlich ist.

Fuß anheben, Erlebnisse beim Gehen
Fuß anheben nicht vergessen

Geh-Meditation

Manche Abschnitte lege ich in Form von Geh-Meditation zurück. Es ist eine entspannende Art zu Gehen und macht das Gehirn frei.

Das Leer werden ist ebenfalls schon eingetreten. Gehen ohne Gedanken, nur gehen. Eine meiner liebsten Arten, aber nur auf Asphalt durchführbar.

Gespräche

Unter dem Tag bin ich meist alleine. Das Gelände ist zu anspruchsvoll und lässt für mich keine Unterhaltung während dem Gehen zu.

Am Abend habe ich dann allerdings öfter interessante Gespräche mit Pilgern aus aller Welt. Besonders faszinierend für mich, ich kann mich relativ problemlos in Englisch unterhalten und schaffe immer mehr Synapsen herzustellen. Einmal gekonntes ist leichter für mich, als zum Beispiel eine neue Sprache zu lernen.

Leben oder Therapie?

Es hat sich mittlerweile eingependelt. Die Bewegung ist noch immer Therapie, dafür bin ich aber auch da. Gleichzeitig ist es aber auch wieder Leben, der Camino ist dafür einzigartig. Hier wird beides kombiniert, ein toller Zustand.

Ein Aufkleber unterwegs sagt es sehr treffend:

"The Camino is the best Therapie!"

Was gibt es da noch viel dazu zu sagen?

Ich werde demnächst einen umfangreicheren Bericht und genauere Erlebnisse Posten, wenn ich mehr Zeit habe. Tägliche Neuigkeiten und Bilder gibt es auf Instagram.


Das Gehen wurde für mich zur Leidenschaft. Ich kann die Rehabilitation und das Leben lernen nirgends sonst so gut kombinieren wie hier am Camino. Therapie und Leben in einem.

Der Camino del Norte ist sehr anspruchsvoll. Das ewige Auf und Ab fordert mich doch mehr als angenommen, aber ich lasse mir Zeit und genieße jeden Meter.

Therapie am Camino Norte

Mein Tagesablauf

Es ist hier anders, als am Camino France. Ich stehe schon sehr früh auf, was bei den meisten Mitpilgern nicht der Fall ist. Am liebsten bin ich ab halb Sieben auf dem Weg.

Ich bin dann alleine und genieße den Morgenaufgang. Die Vögel singen und das schönste Lichtspiel beginnt am Morgen. Allerdings sind die Abstände von der Herberge zur nächsten Bar oft weit. Erst spät am Vormittag komme ich so zu meinem Frühstückskaffee.

Am Camino Frances war ich es gewohnt, im nächsten Dorf etwas zu bekommen. Hier bin ich gefordert, viele Kilometer vorher zu gehen, ehe ich eine offene Bar finde.

Schäghang
Schräghang Querungen am Weg

Der Vorrat 

Ein kleines Stück Salami, Brot, eventuell Oliven und Schokolade lassen mich über den Tag kommen. Damit ist oft auch mein Abendessen abgedeckt. Ich benötige überraschend wenig zum Essen.

Überhaupt reicht mir das Essen aus, dass ich über den Tag zu mir nehme. Es gibt einmal täglich Kaffee mit Tortillas und immer wieder dazwischen kleinere Snacks. Das aufwendige Pilgermenü erspare ich mir meistens.

Therapie oder Leben

Ich möchte ja wieder Leben lernen, bisher bestand es allerdings ausschließlich aus Therapie. Es ist nicht einfach zwischen Leben und Therapie zu unterscheiden, wenn ich bei allem, was ich tue, mich behindert fühle.

Ich muss schon zu lange in allem von vorne anfangen. Jede kleinste Tätigkeit möchte erst erlernt und verbessert werden. Und das hört noch lange nicht auf. Deshalb ist es wichtig, auch wieder leben zu lernen.

Meine Defizite sind sehr vielfältig. Von der Bewegung bis zum Denken ist alles dabei. Leben oder Therapie, es ist eigentlich nur ein kleiner Gedankenunterschied. Es ist aber oft nicht leicht, dahingehend umzuschalten, vom Therapiegedanken wieder ins Leben zu kommen.

Zu sehr sind die Gedanken noch bei der Bewegung, ja, bei jedem einzelnen Muskel. Die Automatik möchte ich verbessern, deshalb ist es auch so schwer ins Leben zu kommen.

Auf und Ab

Der Weg ist weit anspruchsvoller, als am Camino Frances. Die steilen Anstiege machen ihn so viel schwerer, besonders für mich.

Das Gehen bekommt hier eine neue Dimension. Ich tue mich bergauf besonders schwer, hinzu kommt das Austarieren des Körpers, denn jede Änderung des Neigungswinkel erfordert ein Umpositionieren. Komme ich nach einer längeren Bergauf Phase ins Flache, gehe ich fast torkelnd, weil ich die Ebene nicht gewöhnt bin. Ich brauche einige Zeit, bis sich der Gleichgewichtssinn einzustellen beginnt.

So kommen viele Reize hinzu, an die ich mich nur langsam gewöhne. Das Ausrichten soll schneller und vor allem automatischer gehen. Im Moment kann alles nur bewusst geschehen, das macht es anstrengend, mich immer wieder neu auszurichten.

Therapie am Weg, Berggehen

Das Meer und die Berge sind meine Therapie

So viel ich hier übe und trainiere, so sehr bin ich auch fasziniert von der Landschaft und den Menschen. Das Meer und die Berge so nahe zusehen, tut gut. Gerade die Natur brauche ich besonders, darum genieße ich jeden Meter.

Es führt oft nahe am Meer entlang, wo man sich Angesicht der Landschaft fast wie auf einer Alm wähnt. Dabei sind sie gar nicht so weit entfernt, die bis zu 2000 Meter hohen Berge, einige davon noch mit Schnee bedeckt.

Meer

So kämpfe ich mich eine Steigung nach der anderen am Limit hoch, aber die traumhafte Umgebung entschädigt für die Anstrengung.

Also Therapie und Leben in einem!


Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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