Seit einer Woche bin ich nun zurück vom Camino. Und wie jedes Mal stellt sich mir die Frage: Konnte ich meine Wahrnehmung, meine Hochsensibilität weiterentwickeln?
Ich bin mir dieser feinen, intensiven Wahrnehmung bewusst – und ich arbeite seit zwei Jahren daran, sie in gute Bahnen zu lenken. Sie ist ein Teil von mir geworden, einer, der mein Leben tief beeinflusst.
Diese Hochsensibilität ist auch ein Grund dafür, warum ich mich nur Schritt für Schritt weiterentwickeln kann. Mein Gehirn kennt keine Filter mehr – seit der Erkrankung treffen sämtliche Reize ungefiltert auf mich ein. Geräusche, Stimmungen, Worte, Blicke – alles kommt gleichzeitig. Und es braucht Zeit, das einzuordnen.
Doch genau deshalb war der Camino wieder eine Schule des Wahrnehmens. Eine Einladung zur Achtsamkeit. Eine Erinnerung daran, dass Wachstum nicht in Sprüngen geschieht – sondern in kleinen, stillen Schritten.
Seit drei Jahren trainiere und übe ich daran, sie zu verbessern. Der Schwindel, die Gleichgewichtsstörungen und die sich nur langsam aufbauende Muskelkraft sind das Eine. Dazu aber die Hochsensibilität, das alles zusammen macht ein normales Bewegen in der Stadt noch immer nicht leicht möglich.
Schon letztes Jahr am Camino France war es nicht leicht. Ich blieb in keiner Stadt, durchquerte jede und hielt mich quasi nur in der Natur oder den Herbergen auf. Kirchenbesuche musste ich auf ein Minimum beschränken und Menschenansammlungen vermied ich.
Am wohlsten fühlte ich mich, wenn ich alleine am Weg war. Die Natur stresste mich nicht und ich fühlte mich in ihrem Rhythmus wohl. Diese Feinfühligkeit und Hochsensibilität umfasst aber mehr als nur diese äußere Wahrnehmung. Doch dazu später noch mehr. Dieses "überfordert sein von Reizen" war zunächst vordergründig.
Ich war gespannt, ob sich an meinem Verhalten etwas geändert hatte. Viele Fragen tauchten im Vorfeld der Reise auf. Zusammengefasst behandelten alle das gleiche Thema:
"Wie wird meine Wahrnehmung diesmal sein?"
Dementsprechend vorsichtig ging ich alles an. Keine Energie durfte vergeudet werden. Irun, San Sebastian wurden durchquert und nicht als Zielpunkt genommen. Die Stadt strengt mich noch zu sehr an.
Auch später noch Bilbao oder Gijon. Ich durchschritt sie und schaute, wie in Gijon, dass ich am Sonntag durch gehen konnte. So wurden die langen Abschnitte durch die Industriezonen leichter, weil kaum Verkehr war. Das richtige Timing war wichtig.
In der dritte Woche begann sich was zu verändern. Ich konnte plötzlich öfter und wesentlich länger während dem Gehen auch die Gegend anschauen. Ich musste nicht immer auf den Boden blicken, wo ich hinsteige.
Ich wurde Aufnahmefähiger und das machte sich besonders bemerkbar in Santiago. Natürlich strengten mich die vielen Menschen noch an. Aber es war doch anders als im letzten Jahr. Ich besuchte sogar die Pilgermesse und holte mir die Compostela. Das wäre voriges Jahr noch undenkbar gewesen.
Es gibt sie auch – die andere Seite der Hochsensibilität. Nicht nur die verstärkte Reizaufnahme, die einen schnell erschöpfen kann. Sondern auch diese tiefe Empfindsamkeit für Menschen, für Beziehungen, für Dinge und Situationen.
Besonders der feine Sinn für Ethik, für Ganzheitlichkeit und Stimmigkeit – er kann bereichern, aber auch blockieren. Ich spüre sehr schnell, wenn etwas nicht stimmig ist, wenn etwas im Raum hängt, das nicht passt. Doch diesem Gefühl zu trauen, ist nicht einfach. Oft kann ich gar nicht sagen, warum es sich nicht richtig anfühlt. Es ist mehr ein inneres Wissen – ohne Worte, ohne Begründung.
Ich glaube oft zu spüren, was andere brauchen, denken oder fühlen. Als Energetiker hatte ich das im Griff – es war meine Stärke, mein Werkzeug. Doch jetzt scheint es, als gäbe es keine Filter mehr. Alles kommt ungefragt herein. Diese Flut an Eindrücken, Gedanken und Emotionen – sie überfordert meinen Geist.
Und manchmal weiß ich nicht mehr, wohin mit all dem. Ich kann Wichtiges nicht mehr von Unwichtigem trennen. Mein Verstand – der einst mein Verlass war – ist überfordert. Und das Schlimmste: Ich kann ihm noch immer nicht wirklich vertrauen.
Doch ich lerne. Jeden Tag ein wenig mehr. Vielleicht braucht es einfach Zeit – und diesen sanften Blick nach innen.
Besonders schwierig wird es, wenn ich all das in Worte fassen möchte. Mein Wortschatz – reduziert, seit der Krankheit – reicht oft nicht aus, um das auszudrücken, was ich eigentlich sagen will. Und so musste ich schmerzlich erfahren, wie oft ich missverstanden wurde. Nicht, weil ich nicht fühlte. Sondern weil mir die Worte fehlten, es mitzuteilen.
Ob ich will oder nicht – meine Art, zu beobachten, hat sich verändert. Ich achte stärker auf Kleinigkeiten, nehme Nuancen wahr, die mir früher entgangen wären. Und irgendwie fließen sie ganz von selbst in mein Gesamtbild ein. Das geschieht meist unbewusst – fast wie eine innere Landkarte, die sich von allein zeichnet.
Manchmal wirkt es übersinnlich, was ich da spüre. Und das passt nicht immer in unsere Welt. In eine Gesellschaft, die lieber das Sichtbare zählt, das Messbare, das Logische. Man hat es nicht leicht mit solcher Art Wahrnehmung. Und doch gehört sie zu mir.
Der Intuition zu vertrauen – das musste ich erst wieder lernen. Überhaupt diese gesteigerte Wahrnehmung ins Leben zu integrieren, war eine Herausforderung. Der Camino war der ideale Ort dafür.
Hier, auf diesem Weg, begann ich langsam, mich wieder auf meine innere Stimme zu verlassen. Zuvor konnte ich meine Wahrnehmung nur abschalten – oder sie war zu hundert Prozent da, überwältigend und ungefiltert.
Erst am Camino fand ich den ersten Zugang zur Steuerung. Ich lernte, zwischen den Extremen zu unterscheiden. Ein zarter Anfang – und doch ein großer Schritt.
Auch hier gilt: Schritt für Schritt. Der Anfang ist gemacht. Und darauf kann ich aufbauen. Es wird seine Zeit brauchen, bis ich damit wieder sicher umgehen kann. Aber ich bin unterwegs. Und das zählt.
Es gibt viele Beispiele für den Einsatz dieser Wahrnehmung. Doch bevor man sie nutzen kann, heißt es: lernen, damit umzugehen.
Denn Intuition ist keine übersinnliche Fähigkeit. Ganz im Gegenteil. Sie öffnet nur den Zugang zu Informationen, die eigentlich allen zur Verfügung stehen – oft unbemerkt, oft überlagert vom Lärm des Alltags.
Und genau da beginnt die eigentliche Herausforderung: zu unterscheiden. Zwischen innerem Wissen und alten Glaubenssätzen. Zwischen Vorurteilen, Prägungen – und dem feinen Gespür für das, was wirklich ist.
Denn es gibt nicht die eine Wahrheit. Es gibt viele. Und oft liegt die Kunst darin, sie nebeneinander stehen zu lassen, ohne zu urteilen.
Vertrauen – darauf kommt es an. Vertrauen in sich selbst. In die eigene Wahrnehmung. In das, was zwischen den Zeilen spürbar ist.
Und vielleicht ist genau das der Weg: Nicht alles erklären zu müssen. Sondern zu lernen, mit dem zu gehen, was man fühlt. Schritt für Schritt.