Früher oder später stellt man sich die Frage:
Wie sehr hat der Hirnabszess mein Leben verändert?
Ich habe elf Punkte gefunden, die mein Leben nach dem Hirnabszess geprägt und verändert haben. Für Außenstehende mag es vielleicht nicht offensichtlich sein, doch der Hirnabszess hat mein Leben zu einem großen Teil positiv beeinflusst. Ich durfte Erfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen, die den meisten Menschen verborgen bleiben.
Natürlich gibt es auch Dinge, die unangenehm sind – das lässt sich nicht leugnen. Doch ohne die schweren Momente hätte ich vieles nie entdeckt, nie verstanden. Manchmal braucht es Umwege, um den richtigen Weg zu finden.
Man lernt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich könnte mit meinem Schicksal hadern, alles aufzählen, was nicht mehr geht, was mir verloren geblieben ist. Oder ich entscheide mich bewusst für den anderen Weg: den Blick auf das, was ich neu entdecken durfte, was ich anders machen darf. Ich habe mich für Letzteres entschieden.
Vieles habe ich schon in meinem Sportlerleben erlebt, doch manches glaubte ich nur zu wissen, ohne es wirklich verstanden zu haben. Erst der Hirnabszess hat mir die Augen geöffnet, hat mir gezeigt, was es heißt, Schattenseiten anzunehmen und in das Leben zu integrieren. Diese Erfahrungen, so schwer sie auch sein mögen, sind zu einer Quelle der Stärke geworden.
Seit dem Hirnabszess lebe ich im Hier und Jetzt – gezwungenermaßen. Doch gerade darin liegt ein Vorteil: Nicht an Zukunft oder Vergangenheit zu denken, macht es mir leichter, im Moment zu bleiben. Das Glück finde ich nur in der Gegenwart, nicht in einer fernen Zukunft, die vielleicht nie so kommt, wie man es sich ausmalt.
Schon in den letzten Jahren war das ein großes Thema für mich. Ich habe viele Bücher darüber gelesen, mich immer wieder damit beschäftigt. Doch trotz aller Theorie lebte ich zu oft in der Vergangenheit oder plante schon den nächsten Schritt, anstatt den gegenwärtigen bewusst zu erleben. Es klang gut, verstand sich leicht, doch aus meinem Gedankenkarussell auszusteigen war mir nie wirklich möglich.
Erst durch den Hirnabszess habe ich auf eindrucksvolle Weise erfahren, was es wirklich heißt, im Jetzt zu leben. Es ist keine Wahl mehr, sondern eine Notwendigkeit. Gedanken an morgen oder gestern haben keinen Platz, wenn der nächste Schritt alles ist, was zählt. Das Leben findet nur hier statt, genau in diesem Moment.
Und so finde ich in der erzwungenen Gegenwart eine unerwartete Freiheit. Die Freiheit, das Leben so zu erleben, wie es jetzt ist – ohne Gedanken daran, was war oder sein könnte. Ein einfacher Schritt, ein tiefer Atemzug, ein Moment voller Klarheit. In dieser Einfachheit liegt eine Kraft, die ich nie geahnt hätte.
Manches muss neu erlernt werden – Bewegungsabläufe, aber auch Verhaltensmuster. Doch nicht alles, was früher fest verankert war, war wirklich gut für mich. Im Rückblick erkenne ich nun vieles, was mich mehr belastet als gestärkt hat. Jetzt habe ich die Möglichkeit, bewusst umzudenken und meine „Festplatte“ neu zu beschreiben – so, wie es mir heute guttut und wie ich es wirklich brauche.
Im Grunde funktioniert geistiges Heilen genau so: Alte Muster erkennen, loslassen und durch neue, gesündere ersetzen. Das Gehirn neu programmieren, Schritt für Schritt. Es ist eine zweite Chance – ein Neuanfang, der nicht einfach ist, aber voller Möglichkeiten steckt.
Manchmal frage ich mich, ob ich ohne den Hirnabszess je die Notwendigkeit erkannt hätte, Dinge zu ändern. Vielleicht nicht. So gesehen ist dieser Einschnitt auch eine Einladung, das Leben bewusster zu gestalten und alte Pfade zu verlassen. Eine Gelegenheit, das eigene Denken und Handeln neu auszurichten.
Ich schreibe meine Festplatte neu – nicht, weil ich es will, sondern weil ich es muss. Und genau darin liegt die Chance.
Abläufe, die früher automatisch abliefen, sind verschwunden. Routinen, die sich über Jahre eingebrannt hatten, existieren nicht mehr. Auf den ersten Blick ein Verlust, doch bei genauerem Hinsehen auch eine Befreiung. Vieles, was mich unbemerkt eingeschränkt hat, ist einfach weg.
Jetzt habe ich die Chance, mein Leben neu zu ordnen – nicht nach alten Mustern, sondern so, wie es mir wirklich entspricht. Warum also nicht gleich so gestalten, wie ich es möchte? Ohne die Automatismen, die mich gebremst haben, ohne die Gewohnheiten, die längst überholt waren.
Es ist, als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt. Eine Herausforderung, ja, aber auch eine Gelegenheit. Ich kann mein Leben bewusst formen, Schritt für Schritt. Es ist nicht einfach, diesen neuen Weg zu gehen, aber es ist mein Weg. Und ich bestimme, wohin er führt.
Für den Blog zu schreiben hilft mir, die Krankheit zu verarbeiten. Es ist ein Weg, meine Gedanken und mein Tun festzuhalten und zu reflektieren. Da ich oft länger brauche, um Dinge wirklich zu verstehen, lege ich meine Gedanken schriftlich ab – um sie später, wenn die Zeit reif ist, noch einmal aufzugreifen und zu verarbeiten.
Manches halte ich gezielt für ein Buchprojekt fest. Bis zum fertigen Buch ist es jedoch noch ein weiter Weg, denn im Moment fehlt mir oft der passende Wortschatz. Für den Blog spielt das keine Rolle – hier bin ich einfach ich. Es muss nicht perfekt sein. Das Schreiben ist eine wertvolle Übung für mein Gehirn, auch wenn es lange nicht fehlerfrei ist. Die richtigen Formulierungen werden später kommen.
Oft vergesse ich, Dinge ausführlich zu beschreiben, weil mir schlicht die Worte fehlen. Doch das stört mich nicht. Wichtig ist, dass ich weitermache. Jeder Satz ist ein Schritt nach vorne, jeder Gedanke ein Baustein für das große Ganze. Schritt für Schritt wächst etwas heran – ein Buch vielleicht, aber vor allem ein Stück mehr Verständnis für meinen eigenen Weg.
Das ist zwar noch weit weg, aber ich betrachte es als Möglichkeit. Da ich ja vom Film komme, ein naheliegendes Vorhaben. Derzeit fehlt mir der Überblick dafür. Ich kann noch immer schwer zusammenhängend und weiterführend denken. Für einen Film aber eine Voraussetzung. Vielleicht übernimmt diesen Part aber auch jemand anderes. Mir ist es derzeit einfach nicht möglich, mich damit zu beschäftigen. Mal schauen was die Zukunft bringt.
Das wird ein längeres Projekt. Ich war die letzten 2 Jahre vor der Krankheit Trailrunner, davor allerdings ein Leben lang Radfahrer. Jetzt muss ich in allem von 0 beginnen, wie ein Kind. Gerade die Technik beim Gehen und Laufen muss ich neu lernen. Das alles ist abhängig vom Fortschritt der Genesung. Gleichgewichts- und Koordinationsverbesserung sind der Grad meines Fortschrittes. Noch muss ich alles einzeln andenken, nichts geht automatisch. Ich kann keinen Schritt überspringen. Hier ist step by step angesagt, bis Gehen (Laufen) wieder automatisch funktioniert.
Langsames Gehen war lange Zeit nicht meines. Erst im Jahr vor der Krankheit begann ich Überlegungen über einen Pilgerweg anzustellen. Zu Silvias und meinem runden Geburtstag wollten wir uns mit dem Franziskusweg, von Florenz nach Rom, selbst beschenken. Es war ein Versuch, aus dem immer schneller werdenden Leben, auszusteigen. Es sollte nicht mehr dazu kommen.
Jetzt wird dieser Wunsch in mir wieder stärker. Die Muße für die Langsamkeit habe ich, Pilgern kann kommen. Ich lese Reiseführer und beschäftige mich mit dem Jakobsweg. Noch lässt es mein Körper nicht zu, obwohl der Plan in mir reift. Es ist ein gutes Zwischenziel auf dem Weg zum Laufen. Wobei der Jakobsweg eigentlich schon ein eigenständiges Ziel darstellt. Allerdings sollte die Kondition schon passen und da bin ich beim Gehen noch nicht so weit.
Alles geht bei mir langsam. Bewegung, Aufmerksamkeit, Denken, einfach alles. Aus dieser Not habe ich eine Tugend gemacht. Ich konnte mein Leben wegen des Hirnabszesses entschleunigen. Ich sehe das als grossen Benefit. Manch einer sieht nur mein Handicap, meine Behinderungen im täglichen Leben. Aber dass ich damit aus dem Hamsterrad aussteigen konnte, ist vielen nicht bewusst.
Hape Kerkeling hat es schon vor Jahren vorgemacht. Mit dem Spruch und seinem Buchtitel "Ich bin dann mal weg!", hat er vielen aus dem Mund gesprochen. Immer mehr Menschen suchen einen Weg um auszusteigen, aus dieser schnelllebigen Welt zu fliehen. Auch ich suchte einen solchen, sah aber keinen und hatte nicht den Mut, es trotzdem zu tun. Das Hirnabszess regelte es dann für mich. Manchmal brauchen wir eben einen ordentlichen Hinweis, bis wir begreifen, dass ein Ausstieg doch geht.
Es gilt ähnliches wie fürs Entschleunigen. Das alles auf einmal langsamer geht, habe ich erst lernen müssen. Besonders die Bewegungen. "Zu schnell" geht gar nichts. Zeit ist nicht mehr von Bedeutung. So lange wie es dauert, dauert es eben. Schneller geht einfach nicht. "Kannst du mal schnell in den Keller Kartoffeln holen gehen?". Holen kann ich sie, aber nicht schnell.
Die Langsamkeit stellt aber auch einige Fragen:
Eine davon: "Was will ich eigentlich?"
Der Knackpunkt ist, nicht mehr so weiterzumachen wie bisher. Bei mir war für diesen radikalen Schnitt eben die Krankheit nötig. Sie definierte meinen Umgang mit Gesundheit neu. Der Lebensstil wird dem Neuen angepasst. Überlegungen wie "Was will ich wirklich?", kommen jetzt öfter.
Das war etwas besonders Wichtiges für mich. Ich wollte immer für alle da sein. Habe immer "Ja" gesagt, auch wenn ich eigentlich nicht wollte. Ich durfte erkennen, dass mit einem NEIN trotzdem alles funktioniert.
Aufgrund meines Handicaps muss ich oft NEIN sagen. Es würde mich sonst überfordern und oft einfache Sachen sind nicht machbar. Ich bin ja kaum belastbar. Die Krankheit brachte mir also vieles, was ich sonst kaum verändert hätte. Zu etwas "Nein" zu sagen, ist heute kein Problem mehr für mich. Hätte ich geahnt, wie einfach das ist, hätte ich nicht krank dafür werden brauchen. 😉
Der Wald und die Natur haben einen besonderen Stellenwert bekommen. Ich war schon immer gerne in der Natur unterwegs und genoss die Stille und Einsamkeit. Mit dem Hirnabszess bekam alles eine neue Bedeutung. Viele Menschen spüren sich nicht mehr und können so die Sprache der Natur nicht mehr verstehen. Durch meine Sensibilität und die gesteigerte Wahrnehmung kann ich die Natur jetzt noch besser wahrnehmen und aufnehmen. Ohne den Wald würde es mir jetzt noch nicht so gut gehen.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als es im Krankenhaus zum erstenmal nach draußen, in die Nähe von Bäumen, ging. Nach über 4 Monaten im Zimmer war es endlich soweit. Ich sehe und spüre noch heute, wie es mir damals erging. Ich blühte innerlich auf. Hätte ich die Bedeutung des Waldes für meine Krankheit schon damals gewusst, ich hätte mich früher in den Wald bringen lassen. Er beschleunigt die Rehabilitation enorm. Darum gehe ich auch heute fast täglich in die Natur. Ein Tag ohne Wald ist für mich wie ein verlorener Tag.
Diese 11 Punkte umfassen großteils Punkte, die ich auch schon vor dem Hirnabszess ändern wollte. Allerdings konnte ich vieles nicht umsetzen, manches nur anreißen oder ich gestattete es mir nicht. Viel zu groß schienen mir die auferlegten Pflichten zu sein. Dafür opferte ich vieles, wenn nicht alles.
Um aus dem Hamsterrad des Lebens auszusteigen, ist Mut erforderlich. Nicht jeder braucht dafür ein Hirnabszess, so wie ich. Vielleicht kann der eine oder andere Punkt helfen, sich hin und wieder aus der schnelllebigen Zeit ein bisschen zu entziehen. Ich wünsche es Euch!