Meine Rehabilitation nach dem Hirnabszess ist untrennbar mit Bewegung verbunden. Anfangs war es mein einziges Ziel, das Gehen neu zu erlernen – ein Prozess, an dem ich bis heute arbeite. Doch mit dem therapeutischen Tanzen kam eine neue Dimension hinzu: die intuitive Bewegung. Sie führte mich über das bloße Gehen hinaus und ließ mich spüren, dass Bewegung nicht nur äußerlich geschieht, sondern auch tief im Inneren wirkt. Welche Impulse zur Bewegung nehme ich wahr? Kann ich ihnen folgen – oder will ich es überhaupt?
Die letzte Tanztherapiestunde vor meinem Aufbruch zum Camino war ein Wendepunkt. Wochenlang hatte mich die Schwere begleitet – nach dem Sturz auf dem Eis, nach den Schmerzen des Nierensteins. Doch in dieser Stunde veränderte sich etwas. Mein Körper, noch gezeichnet vom Nierenstein, geplagt von Kreuzweh und einer gestörten Propriozeption, fand plötzlich zur Leichtigkeit zurück. Zum ersten Mal seit Wochen spürte ich wieder Beschwingtheit – eine Erinnerung daran, wie sehr Bewegung mein Leben trägt.
Eine Stunde Bewegung in der Therapie kann anstrengend sein. Diesmal fühlte ich mich aber beschwingt und leicht danach. Es tat so gut, dass ich beschloss, die über 20 Kilometer zu Fuß nach Hause zu gehen. Unterwegs ließ ich die intuitive Bewegung zu, spürte sie im Rhythmus meines Schrittes und verinnerlichte das Gelernte. Es wurde ein Gehen unter Freude und die Bewegung tat gut.
Die in unserem Körper erlebten Erfahrungen, werden durch Bewegung sichtbar. Aufrichtung, Beweglichkeit, Geschmeidigkeit und vieles andere, zeigen vieles im Körper auf, was es schwer oder leichter macht. Einerseits sich diesem Fluss hingeben zu können und andererseits, bewusst etwas korrigieren zu können, macht es faszinierend.
Es kann aufregend sein, den eigenen Körper frei in der Natur zu bewegen. Weder Leistungsfähigkeit noch Befinden, weder Körperform noch andere äußere Faktoren sollten uns davon abhalten. Denn wir sind Natur – und genau deshalb fühlen wir uns in ihr so wohl. Jede Bewegung draußen verbindet uns mit ihr, lässt uns aufatmen und gibt uns zurück, was wir oft vergessen: das einfache, pure Dasein.
Die Natur ist kein Wettkampf. Schaffen wir es, den Leistungsdruck hinter uns zu lassen, kann uns das nur guttun. Doch dazu müssen wir bewusst aus diesem Denken aussteigen und einfach das tun, was uns entspricht. Vergleiche – besonders mit Sportlern – führen uns nur zurück in den Leistungsmodus. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, sich selbst zu spüren, den eigenen Rhythmus zu finden und die Bewegung in ihrer reinen, natürlichen Form zu genießen.
Tue ich das, was mir guttut, komme ich mir selbst näher – und mein Befinden verbessert sich. Die richtige Balance zu finden, früh genug zu erkennen, wann es genug ist, hängt davon ab, wie gut ich mich spüre und auf mich höre. Dieses Spüren ist essenziell für mehr Wohlbefinden – und genau das ist seit Beginn meiner Rehabilitation das Wichtigste für mich.
Der Nierenstein war ein Weckruf. Er erinnerte mich daran, wieder mehr in mich zu vertrauen, meinen Körper bewusster wahrzunehmen und meinem eigenen Weg treu zu bleiben.
Seit zweieinhalb Jahren ist das therapeutische Tanzen meine wichtigste Therapie – und ich bedaure, nicht früher davon erfahren zu haben. Es hätte so vieles erleichtert, gerade in der ersten Zeit nach dem Hirnabszess, als jeder Fortschritt entscheidend war. Die ersten zwei Jahre nach dem Eingriff waren von enormer Bedeutung, und ich bin sicher, dass die Tanztherapie damals vieles besser vorangebracht hätte.
Dabei ist diese Form der Therapie nicht nur für mich wertvoll. Sie ist für alle geeignet, die Schwierigkeiten haben, sich mit sich selbst zu verbinden. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sehr sie Menschen verändert – oft schon nach wenigen Sitzungen und in so vielen Lebensbereichen. Über die Bewegung spürbar zu machen, was sich im Inneren bewegt, ist einfach genial. Umso bedauerlicher, dass Tanztherapie in unserem Gesundheits- oder besser gesagt Krankheits-System noch immer kaum bekannt und anerkannt ist.
Je nach Corona-Situation fand die Therapie in der Gruppe oder als Einzeltraining statt. Beide Formen haben ihre eigenen Vorteile. Rückblickend sind es Meilensteine, die ich ohne die Tanztherapie nie erreicht hätte. Meine Beweglichkeit hat sich auf eine Weise verbessert, die mir so viel mehr Lebensqualität geschenkt hat.
Gerade in den Jahren der Pandemie war die Tanztherapie meine Rettung. Sie hat mir geholfen, diese Zeit zu überstehen, meine alltäglichen Bewegungen zu verbessern und intuitiver zu erfassen. Natürlich geht es auch um Fortschritt – aber nicht im Sinne eines Vergleichs mit anderen. Ich verfolge immer noch das Trailrunning, obwohl ich seit sechs Jahren nicht mehr laufen kann. Doch allein die Beobachtung hilft mir, diese innere Leichtigkeit zu verinnerlichen – auch wenn sie sich im Außen nicht zeigt.
Meine „Behinderungen“ sehe ich selbst nicht als solche. Eigentlich gibt es sie gar nicht. Es sind vielmehr die Strukturen um uns herum, die uns in bestimmte Schubladen drängen. Doch Bewegung – in welcher Form auch immer – zeigt mir immer wieder, dass Grenzen oft nur in den Köpfen existieren.
Am Camino wird einem schnell bewusst, ob man im eigenen Tempo geht oder versucht, sich dem Rhythmus anderer anzupassen. Hier lernt man, dem eigenen Schritt zu vertrauen und sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen – wenn man es zulässt. Es ist eine Schule der Achtsamkeit, in der es nicht darum geht, schneller oder weiter zu gehen, sondern den Weg in der eigenen Weise zu erleben.
Der Camino in Spanien war für mich die beste Heilung – so wie für viele andere auch. Zum ersten Mal seit dem Hirnabszess konnte ich wieder wirklich mit mir in Verbindung treten. Schritt für Schritt fand ich zurück zu mir selbst, zur eigenen Kraft und zum Vertrauen in meinen Körper. Der Weg war mehr als nur eine Reise – er wurde meine Therapie, mein Lehrer und meine Heilung zugleich.
Zwei Jahre lang machte Corona es unmöglich, diesen Weg und diese Form der Heilung weiterzugehen. Doch dieses Jahr scheint es endlich wieder möglich zu sein – und ich werde es wagen. Nächste Woche breche ich auf, mit dem Bus nach Frankreich, um den Camino Francés zu gehen.
Es fühlt sich an wie eine Rückkehr – nicht nur auf den Weg, sondern zu mir selbst.
Ich weiß noch, wie ich mich letztes Jahr auf dem Weg durch Österreich, noch oft schwergetan habe. Pilgern in Spanien hätte ich vorgezogen. Corona hat das Reisen zu meinem Nachteil sehr verändert. Aber ich habe mich letztes Jahr quasi hineingeworfen und die Herausforderung angenommen, dieses neue Leben zu lernen. Genauso mache ich es auch dieses Mal. Ich lasse alle Regeln auf mich zukommen und versuche damit klarzukommen. Allein die Anreise ist für mich schon eine Herausforderung.
Bin ich zum Walkabout von zu Hause losgegangen, reise ich diesmal mit dem Bus an, so wie zu meinem letzten Camino, im Jänner 2020. Von daheim losgehen nach Santiago de Compostela, geht für mich diesmal nicht, denn wenn ich es auch noch so gerne täte, es ist zu früh, zu kalt und nach dem Nierenstein ist mein Zustand auch nicht gut.
Ich verfolge dieses Mal andere Ziele. Ich werde versuchen zu Schreiben und an meinem Buch weiterarbeiten, meine Bewegung zu verfeinern, zu Malen und einfach eine gute Zeit zu verbringen. Nach diesen zwei Jahren mit Corona, wo es im Gesamten mit meiner Rehabilitation bergab ging, ist es dringend an der Zeit, wieder etwas in die andere Richtung zu machen.
Mein Glaube in die Politik und die Ärzte hat in dieser Zeit sehr gelitten und nur das therapeutische Tanzen hat mich einigermaßen oben gehalten. Es geht in unserem System noch immer sehr um das Geld und weniger um den Menschen. Daher werde ich meinen Weg weiterhin verfolgen.
Bewegung in der Natur hilft mir schon lange, trotz der Behinderung, ein erfülltes Leben zu leben. Innere und äußere Bewegung wurden mein wichtigstes und das kann ich in der Natur am besten ausleben. Mein "Zurück ins Leben" veränderte sich sehr, hauptsächlich durch Corona.
Es ist mir wichtig, wieder Beziehung zu Menschen zu lernen, mich austauschen zu können und andere Sichtweisen kennenzulernen. Das wird am Camino besonders interessant, da dort so viele verschiedene Nationalitäten anzutreffen sind. So lasse ich mich überraschen, wie sich meine innere und äußere Bewegung verändert.
Bezüglich der Nationalitäten möchte ich noch eine Geschichte vom Camino Norte 2019 erzählen. Ich übernachtete in einem Kloster und war zu einem Empfang und Gottesdienst für die Pilger eingeladen. Allerdings kam ich mit einem Israeli zu spät zum Treffpunkt und so suchten wir den Raum, wo es stattfinden sollte.
Jemand schickte uns nach außerhalb des Klosters, in deren Nähe eine Kirche stand. Wir öffneten die große Eingangstüre und blickten vorsichtig hinein. In diesem Augenblick drehten sich dreißig Köpfe nach uns um und der Pfarrer winkte uns mit einer einladenden Geste zu sich. Wir überlegten kurz, konnten aber nicht mehr zurück.
Es waren nur Einheimische anwesend und beim Hineingehen flüsterte der Israeli in Englisch zu mir: "But it´s not my Confession!". "I think, it´s ok. No problem!", antwortete ich ihm. Sein Gesicht dabei werde ich nie mehr vergessen.
Beim nach vorne gehen an den Sitzreihen vorbei, bekamen wir aus jeder Reihe einen Gruß oder ein "Buen Camino" zu hören. Der Pfarrer setzte uns in die erste Reihe und führte seine Predigt auf Spanisch fort. Es war zum Glück bereits das Ende des Gottesdienstes, aber er hatte dann noch eine Extrazulage, eine Pilgergeschichte über den heiligen Jakob auf Englisch für uns, dem auch die dreißig Einheimischen gespannt zuhörten.
Im Anschluss gab es sogar noch einen Pilgerseegen für uns. Daraufhin sollte jeder von uns beiden erzählen, woher wir kamen und etwas, was wir am Weg erlebt haben. Danach wurden wir vom Pfarrer und allen dreißig Personen persönlich mit Handschlag verabschiedet und uns alles Gute für den weiteren Weg gewünscht.
Ein tolles Erlebnis, das zeigte, wie tief verankert der Jakobsweg in Spanien ist und wie freundlich alle Nationalitäten aufgenommen werden. In dieser heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit. Es wird spannend, wie ich es diesmal aufnehmen werde.
Am Dienstag geht es in Saint Jean Pied del Port los und die nächsten Wochen werde mich 800 Kilometer zu Fuß nach Santiago bringen. Seit dem Nierenstein habe ich mich wieder verstärkt der Propriozeption gewidmet und auch am Camino werde ich mich dem widmen, ebenso wie dem Leben.
Am Camino kann ich so sein, wie ich bin und darauf freue ich mich.
"Buen Camino!"
Lieber Jörg,
jetzt habe ich (instagram: kraft.art.ct) nach langer Zeit wieder einen Artikel von dir gelesen. Irgendwie warst du mir entschlüpf.... Umso mehr freue ich mich, dass der Zufall mich wieder erinnert hat. Toll, dass du wieder auf dem Camino unterwegs bist. Ich wünsche dir eine tolle Zeit und viele positive Erlebnisse. Bleibe im eigenen Energie-Fluss und schaue hinter alle Türen, auf die du unterwegs Lust bekommst. Ich bin gespannt auf deine Reise-Berichte. Aber jetzt muss ich mich erstmal durch deine alten Artikel schmökern. Es scheint ja eine Menge bei dir los gewesen zu sein. Liebe Grüße
Carola
Hallo, danke das du dich gemeldet hast. Ich habe Anfang Oktober meinen Instgramm Account beim großen Chrash verloren und die Wiederherstellung war für mich zu kompliziert und ich habe ihn aufgegeben.
In letzter Zeit war in der Tat eine Menge los, da tut der Camino jetzt gut, überhaupt nach der Pandemie-Zeit.
Schön von Dir zu hören und liebe Grüße
Jörg