31. Zwischen-Resümee nach dem Hirnabszess

17. November 2017
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6 Minuten Lesezeit

In meinem mittlerweile 31. Blogbeitrag seit April 2017 ziehe ich ein gesundheitliches Resümee nach meinem Hirnabszess. Ein Jahr und neun Monate sind seit der Erkrankung vergangen. Ich habe bereits mehrere Reha-Aufenthalte hinter mir und weitere stehen noch bevor. Derzeit trainiere ich täglich zu Hause – mit Fokus auf Bewegung und Ergotherapie.

In den letzten Wochen stellte ich mir nach dem Hirnabszess öfter die Fragen:

  • Wo stehe ich jetzt?
  • Was kann ich, was kann ich nicht?
  • Bin ich zurück im Leben?
  • Wie geht es mir eigentlich

Diese Fragen lassen mich nicht los – klare Antworten habe ich bisher kaum gefunden. Noch immer lerne ich, damit umzugehen, dass der Heilungsprozess so lange dauert. Die ständigen Veränderungen meines körperlichen Zustands erschweren es mir, mich selbst richtig einzuschätzen.

Manche haben das Ausmaß meiner Erkrankung gar nicht wahrgenommen – ich selbst eingeschlossen. Erst seit Kurzem kann ich mich intensiver damit auseinandersetzen, vorher fehlte mir diese Fähigkeit. Doch mein Gehirntraining zeigt erste Erfolge: Hin und wieder gelingt es mir, mehrere Gedanken gleichzeitig zu fassen und miteinander zu verknüpfen – zumindest, wenn es um meine Krankheit geht, mit der ich mich zwangsläufig oft beschäftige.

Daher möchte ich zunächst erklären, was ein Hirnabszess überhaupt ist und welche Folgen er für mich hatte.

Der Hirnabszess

Bei mir waren die Kopfschmerzen und der Schwindel so stark, dass ich von einer zur nächsten Stunde nicht mehr aufstehen konnte. Der Abszess lag am Thalamus, der Steuerzentrale des Körpers. Viele Bereiche wurden beschädigt oder beeinträchtigt.

Ein Hirnabszess – eine seltene, aber gefährliche Infektion. Dabei sammelt sich Eiter in einer Kapsel im Gehirn. Meist sind Bakterien die Ursache, die auf unterschiedlichen Wegen ins Gehirn gelangen. Oft entstehen sie durch Infektionen in der Nähe – in den Nebenhöhlen, den Zähnen. In meinem Fall waren es die Zähne. Keime überwanden die Blut-Hirn-Schranke und drangen ins Gehirn ein.

Ein Hirnabszess kann epileptische Anfälle auslösen. Oft treten Übelkeit und Erbrechen auf. Bei mir waren es vor allem die Kopfschmerzen und der Schwindel. Sie wurden so stark, dass ich von einer Stunde auf die nächste nicht mehr aufstehen konnte. Der Abszess saß am Thalamus – der Steuerzentrale des Körpers. Viele Funktionen wurden beeinträchtigt, einige dauerhaft beschädigt.

Thalamus im Gehirn.
Hirnabszess
Thalamus

Rechtsseitig war ich vollständig gelähmt – selbst mein Mund und die Gesichtsmuskeln waren betroffen. Dazu kamen Sprachstörungen. Mir selbst fielen sie kaum auf, doch für mein Gegenüber mussten sie unüberhörbar gewesen sein. Oft brachte ich nur einzelne, unzusammenhängende Wörter hervor, ohne es zu merken.

Mein Körper war schwach. Einen Arm zu heben, war Schwerstarbeit. Sich im Bett auf die Seite zu drehen, beinahe unmöglich. Auch mein Denken war eingeschränkt. Es gab nur das HIER und JETZT.

Nach der OP am Hirnabszess
Nach der OP

Nach zwei Monaten entschloss man sich für die Operation, die bei vollem Bewusstsein ablief. Da der Thalamus recht tief lag, eine nicht ganz ungefährliche Operation, die aber an und für sich recht gut verlief. Nachlesen über die OP, hier klicken.

Wenn du krank bist - sollst du nicht denken: "Ich bin krank", sondern - "Ich befinde mich in einem Heilungsprozess" - Die Krankheit ist die Heilung.


Safi Nidiaye

So war es auch bei mir. Auch ich hatte das Empfinden, vom ersten Tag an im Heilungsprozess zu sein.

Meine Aussichten vor einem Jahr

Die Aussichten vor einem Jahr waren ganz gut. Aber die Rehabilitation würde dauern, meinten die Ärzte. Ich soll mich auf einen längeren Zeitraum einstellen. Wie recht sie hatten!

Meine größte Herausforderung besteht darin, mein Denken mit meiner Bewegung zu verbinden. Am Anfang der Krankheit war das schon so und ist es jetzt noch immer. Bewegung hat für mich im Leben eine wichtige Bedeutung, daher nimmt es einen großen Teil meiner Therapie ein. Wieder unbeschwert gehen zu können, eine Runde im Wald laufen. Im Moment Wunschträume!

Und wie steht es jetzt um meine Bewegung?

Kurz gesagt: besser als vor einem Jahr. Ich kann weitere Strecken zurücklegen, und wenn ich über einen Platz gehe, fällt es kaum auf. Doch das ist nur die Außensicht. Innerlich sieht es anders aus. Noch immer muss ich jede Bewegung bewusst vorwegnehmen, mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren.

Die Automatisierung der Bewegungen? Nur teilweise gelungen. Am besten auf Asphalt. Für ein paar Meter kann ich gehen, ohne darüber nachzudenken – doch dann kommt die Unsicherheit. Das fehlende Gleichgewicht holt mich ein, das Denken kehrt sofort zur Bewegung zurück.

Eine meiner Übungen: Bälle in die Luft werfen, während ich gehe. Ich zwinge mich, mich abzulenken – und trotzdem weiterzugehen. Jonglieren? Noch kaum möglich. Vor allem in Bewegung. Meine Hände sind zu ungelenkig, meine Reaktionszeit zu langsam. Aber es wäre der nächste Schritt. Mal sehen, wann es so weit ist.

Bälle zum Jonglieren
Meine Jongliere-Bälle sind immer dabei

Laufen oder Trailrunning nach dem Hirnabszess

Gehen im Wald nach dem Hirnabszess

Aus oben genannten Gründen ist Laufen eben noch nicht möglich. Es geht mir zu schnell. Laufen passiert größtenteils automatisch. Ich komme mit der Koordination nicht mit, da ich nicht so schnell denken kann. Stürze wären die Folge und bei meiner Ungelenkigkeit zurzeit auch gefährlich. Das stresst mich. Deswegen bleibe ich beim Gehen. Laufen oder Trailrunning wird noch kommen, gut Ding braucht eben Weile.

Ich habe nie damit gerechnet, dass das Gleichgewicht eine so große Rolle spielt. Aber es ist so. Zusammen mit meiner verlangsamten Fähigkeit auf Reize zu reagieren, lässt es mich nur langsam vorankommen.

Standfestigkeit

In den letzten Monaten habe ich Fortschritte mit meiner Standfestigkeit gemacht. Löcher oder Unebenheiten im Boden sind kein so großes Problem mehr, wie am Anfang. Auch anrempeln vertrage ich jetzt besser und falle nicht gleich um. Begonnen habe ich in der Reha im Juni damit und dann damit fleißig weiter trainiert. Das Ergebnis freut mich, denn damit ist es mir leichter, wieder unter Menschen zu gehen. Ein Erfolg, den ich diesmal auch selbst mitbekommen habe.

Ergotherapie

Ergotherapeutisch habe ich noch Aufholbedarf. Es geht zwar schon besser, aber mir ist klar, dass noch mehr geht. Das Gefühl, die Hände gehören nicht zu mir, habe ich leider noch oft.
Es fühlt sich an, als seien sie Computer gesteuert. Kleine pingelige Arbeiten sind noch immer schwer, wie zum Beispiel eine Nadel aufheben oder mit dem Schraubenzieher hantieren.

Schreiben lernen
Meine ersten Schreibversuche


Mit der Hand schreiben tue ich mir noch immer schwer. Sehr langsam geht es ganz gut. Aber ich ermüde doch recht schnell mit der Hand. Eine halbe Seite DIN A2 voll schreiben ist das Maximum. Dann wird es unleserlicher. Deswegen bevorzuge ich den Computer, da geht mehr. Die Zweifingertechnik geht schon ganz gut.

Besonders die Kraft fehlt mir in den Händen. Eine Flasche aufschrauben oder hantieren mit Werkzeug geht nicht gut. Das ist für mich schwer zu verkraften. Ich habe Probleme, die Fahrräder der Kinder zu reparieren oder in der Wohnung kleinere Reparaturen zu machen.

Denken

Das Denken ist eine eigene Sache. Ich brauche viel Ruhe, dann kann ich über gewisse Dinge nachdenken. Was nicht heißt, dass ich auch zu einem Ergebnis komme. Unter Stress geht gar nichts. Die Reaktionsfähigkeit hat sich verbessert, ist aber noch immer langsam. Denken heißt aber auch, einzelne Körperfunktionen andenken, um sie ausführen zu können. Es ist sehr komplex und für mich schwer zu beschreiben.

Das Denken spielt jedenfalls in jeder Situation eine große Rolle. Multitasking zum Beispiel. Früher war das für mich, beruflich gesehen, ein Interview zu führen. Gleichzeitig die Kamera bedienen - das Bild im Auge zu behalten und auf die Antworten zu hören, um darauf reagieren zu können.

Heute ist Multitasking für mich anderes. Darüber habe ich früher gar nicht nachgedacht. Ein Beispiel - Gehen. Zum Gehen gehört so vieles. Ich muss jeden Muskel andenken, jede Bewegung, die Körperneigung, eventuelle Richtungsänderungen und, und, und...!

Multitasking
Multitasking

Diese Art Multitasking war früher selbstverständlich. Heute ist es das nicht mehr. Ich muss wieder lernen, alle Körperfunktionen zu automatisieren, eben Multitasking in Urform. Der Hirnabszess veränderte mein Leben.

Wo stehe ich jetzt?

Oft kommt es mir vor, als wäre alles ein Traum. Aber es ist umgekehrt. Der Traum ist Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit heißt es jetzt zu meistern. Das Schicksal annehmen, gehört zu den wahrlich nicht einfachen Dingen dieser Welt.

Aber zum Glück zeigen mir viele vor, dass es geht. Die Trailrunning- und Skitourenläuferin Gela Allmann, die Fernsehmoderatorin Monica Lierhaus oder der Skispringer Lukas Müller. Sie alle haben schwere Schicksale zu meistern.
Wie sagt Lukas Müller:

"Ich kann nur beeinflussen, was vor mir liegt, nicht das Vergangene." 

Auch mein Blick ist nur vorwärts gerichtet. Nie rückwärts. Leben tue ich nur nach vorne. Manchmal fällt es aber nicht leicht. Dann muss ich mir mein Ziel vor Augen halten und ich weiß wieder, wo es lang geht.

Es gibt noch viele Sachen, die betroffen sind. Ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Das wichtigste ist hier beschrieben.


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Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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