Mission JOGLE - Bristol und Beginn South West Coast Path, Teil 4/5

14. September 2023
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14 Minuten Lesezeit

Mission JOGLE - Bristol und Teil 1, South West Coast Path

Mein letzter großer Teilabschnitt des JOGLE steht bevor. Ich entscheide mich für den Weg an der Küste, mit dem South West Coast Path am Ende. So lerne ich auf meiner Mission JOGLE beinahe alle großen Weitwanderwege Englands kennen.

Zum South West Coast Path habe ich eine besondere Beziehung aufgebaut, da er schon seit Jahren in meinem Geiste herumschwebt, mir aber immer zu schwer war. Nicht umsonst gilt er als einer der schwersten Weitwanderwege in Europa. Eigentlich hatte ich ihn zuerst alleine ins Auge gefasst und erst danach die England-Durchquerung für mich entdeckt.

Die letzten zwei Wochen habe ich mich gut erholt, allerdings nicht meine Geldtasche. Ich merke, dass die Ferienzeit in England beginnt, denn alle Quartiere sind preislich merklich gestiegen. Hostels, die noch im Mai 15 - 20 Pfund verlangten, wollen plötzlich das doppelte und mehr, nur für ein Bett im Schlafraum, wohlgemerkt.

Ein Hotel oder eine Pension unter 100 Euro zu finden, wird fast unmöglich. Wenn ich etwas finde, ist es zu Fuß meist zu weit abseits vom Trail oder ausgebucht, so bleibt mir meist nur das Zelt.

South West Coast Path

Start in Bristol

Frühmorgens gehe ich los und finde natürlich kein offenes Café. Ich habe schon damit gerechnet, denn so früh hat hier kaum was offen. Die meisten sperren erst ab 10 Uhr auf. Ich möchte aber am liebsten in zwei Tagen in Minehead sein, wo sich der offizielle Start des South West Coast Path befindet, daher mein früher Aufbruch.

Um Strom für das Handy zu sparen, möchte ich den Samarither Weg gehen, der an für sich gekennzeichnet ist und ich daher nicht so oft das Handy zum Navigieren brauche. Allerdings wird der Weg anscheinend wenig begangen, denn die Wege sind schlecht, führen durch hohe Wiesen mit Brennesseln und sind nicht gepflegt.

Es sind oft öffentliche "Footpath Wege", die meist über privates Land führen. Schon auf den ersten Kilometern vergehe ich mich einige Male, weil die Wegweiser zugewachsen oder gar nicht vorhanden sind. Dann stehe ich mitten im Nirgendwo und muss mich in die richtige Richtung selbst durchkämpfen. Also wieder nichts mit Dahinspazieren, ohne nachdenken zu müssen.

An einem Gatter gehe ich durch, um nach einem Hügel eine Rinderherde zu bemerken. Ich habe noch etwa hundert Meter bis zum nächsten Gatter, da bemerkt mich die erste Kuh. Aufschauen und losrennen passiert in einem Augenblick, aber nicht nur sie, auch die anderen dreißig Kühe laufen augenblicklich los. Es wird einem zwar geraten stehenzubleiben, aber wenn dreißig Kühe hinter dir  losstürmen, dass der Boden wackelt, habe selbst ich kein Vertrauen mehr darauf, dass sie ebenfalls stehenbleiben, wenn ich es tue.

Es wird mein längster Sprint seit sieben Jahren. Wenige Meter vor dem für mich "lebensrettenden" Gatter, ist die erste Kuh noch etwa zwanzig Meter hinter mir. Da sehe ich, dass der Riegel für mich, mit meiner schlechten Feinmotorik, zu langsam zu öffnen ist. Also entscheide ich mich fürs raufklettern und auf der anderen Seite hinunterspringen. Das Gatter ist allerdings höher als normal, nämlich rund 2 Meter und damit noch mehr ein Hindernis.

Ich springe gleich auf eine obere Sprosse, klettere höher und werfe mich auf die andere Seite hinunter. Nach unten sind es rund eineinhalb Meter, zu viel für mich, um eine Landung auf zwei Beinen zu überstehen. Irgendwie schaffe ich es, mich mit Rucksack in der Wiese abzurollen und liege dann wie erschlagen da, hinter mir das Gatter mit schnaubenden, mit den Hufen am Boden scharrenden Kühen. Wäre es mit Vertrauen leichter abgegangen? Ich weiß es nicht und muss mich erst einmal erholen.

Ab diesem Erlebnis gehe ich erst einmal auf der Straße weiter, verzichte auf "Footpath" Wege, bis ich bei Bridgwater an den Meeresarm gelange. Zum Übernachten klettere ich am Abend über ein Gatter, auf eine Weide neben der Straße. Dort finde ich eine ebene Flächen für das Zelt, nicht ohne mich vorher zu vergewissern, dass ich alleine bin und die Weide nicht von Kühen besetzt ist. Von den Farmern wird das allgemein toleriert, wenn man nichts zurück lässt und sich entsprechend verhaltet.

Wind und Atomkraftwerk

Starker Wind erschwert mir das Vorwärtskommen. Dazu regnet es immer wieder und die schmalen Pfade kommen mir nicht entgegen. Wegen dem Gleichgewicht gehe ich eher breitbeinig und so wanke ich oft von links nach rechts, als wäre ich betrunken. Seit Beginn in Schottland, erarbeite ich mir jeden Meter, ein einfaches Dahingehen ist einfach nicht möglich.

In der Ferne tauchen riesige, alleinstehende Gebäude neben dem Meer auf, die sich als Atomkraftwerk entpuppen. Es steht direkt am Meer und muss von uns Wanderern umgangen werden. Dabei merkt man erst die eigentliche Größe, denn für den Umweg brauche ich fünf Kilometer, immer entlang eines stark gesicherten Zaunes. Das sind immerhin etwa eine Stunde Gehzeit, immer das Kernkraftwerk neben sich.

Irgendwie habe ich ein mulmiges Gefühl, wie ich daran vorbeigehe und bin froh, als ich vorüber bin. Von weitem sehe ich es noch lange, wenn ich zurückblicke. Bilder von Demonstranten vor einem Atomkraftwerk kommen mir in Gedanken. So allein und abseits stehend, inmitten von grasenden Kühen, hat es etwas befremdliches, verstörendes an sich.

Atomkraftwerk direkt am Meer

Minehead

Kurz vor Minehead übernachte ich und am nächsten Vormittag gehe ich in die Stadt. Die vielen Menschen erschlagen mich. Es wimmelt nur so an jeder Ecke von Touristen und mehrere Vergnügungsparks machen Lärm. Überall befinden sich Spielsaloons für Kinder und Geschäfte für Souveniers. Es ist so ein Trubel, der mich nach so langer Zeit in der Natur verstört und ich bin ein wenig enttäuscht, dass an einem solch geschäftigen Ort der "berühmte" South West Coast Path beginnt.

Noch schnell in einem Laden einkaufen, denn die nächsten Tage weiß ich nicht, was mich erwartet. Für zwei Tage möchte ich immer mit Essen grundversorgt sein. Das heißt, genug Energieriegel, Brot und Fertignudeln.

Nach diesem letzten Einkauf gehe ich weiter ans Ortsende. Plötzlich treffe ich auf die Jakobsmuschel und Hinweise auf den Jakobsweg. Sie werde ich immer wieder treffen und mir kommt die Idee, danach mit der Fähre nach Spanien zu fahren und den Camino Ingles nach Santiago zu gehen. Mit dem Blick auf den Preis für die Fähre, verwerfe ich aber diesen Plan. 

Dann das Schild, wo der South West Coast Path beginnt. Während dem Fotografieren sehe ich in der Nähe eine alte Dame am Gehsteig stürzen. Sie fällt so unglücklich auf das Gesicht, dass ihre Lippe aufplatzt und sie Schürfwunden im Gesicht und an den Händen erleidet. Sie ist geschockt und kommt kaum hoch. Ich setze mich zu ihr und wir reden beruhigend, so kann sie sich ein wenig erfangen. Bekannte warten 15 Gehminuten entfernt, so helfe ich ihr auf, bis sie kommen und sie setzt sich in ihr Auto, welches nicht weit entfernt parkt.

Ich mache meine Fotos fertig, immer mit einem Blick auf die Dame, bis ihre Bekannten kommen. Für mich beginnt nach dieser Aufregung der letzte große Abschnitt, der berühmte South West Coast Path.

Der South West Coast Path

Rund 1400 km liegen hinter mir und etwa 500 km bis Lands End und Point Lizzard, vor mir. Da ich niemals die Kilometer zähle, weiß ich es gar nicht genau. Gleich der erste Anstieg zeigt mir, was mich hier erwartet. Steil geht es lange durch einen Wald bergauf und ich spüre den überladenen Rucksack. Immer wieder einsetzender Regen erschwert alles. Das kann ja heiter werden.

Seit dem West Highländer Way in Schottland habe ich täglich Regenwetter und wie es ausschaut, wird sich das in nächster Zeit nicht ändern. Kurze Regenpausen, manchmal auch mit ein wenig Sonne, erleichtern alles, bevor es gleich wieder zu schütten beginnt.

Steiler Anstieg, South West Coast Path

Konzentriertes Gehen

Im Gehen dem Augenblick begegnen

Seit dem Start des JOGLE ist jeder Meter eine Übung in Konzentration. Und auch auf diesem Abschnitt bleibt es dabei: Regen, steile An- und Abstiege, kein einziges Stück zur Erholung – alles fordert mich heraus, zwingt mich, ganz da zu sein. Eine Konzentration, wie ich sie auf keinem anderen Weg in dieser Intensität erlebt habe.

Oft muss ich innehalten, durchatmen – nicht, weil der Körper nicht mehr will, sondern weil das Gehirn eine Pause braucht. Mehr noch als die Muskeln verlangt es nach Momenten der Ruhe. Dieser Weg zwingt mich seit Wochen dazu, im Hier und Jetzt zu leben. Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Und je länger ich gehe, desto näher komme ich mir selbst.

Denn sich selbst findet man nur in der Gegenwart. Und davon gibt es hier reichlich – in jeder Sekunde, in jedem Tritt, in jedem Windstoß. Schön langsam fügt sich eines zum anderen. Die tausenden Kilometer der letzten Jahre waren nicht umsonst. Ich werde weitergehen, so lange, bis ich wieder ganz bei mir bin.

Der Gegenwind bläst mir hart ins Gesicht, manchmal wird er zum Sturm. Da gibt es kein „Fuß anheben und er fällt schon von allein nach vorn“. Nein – jeder Schritt will bewusst gesetzt werden. Und wenn ich nicht aufpasse, drückt der Wind meinen Fuß zurück, bevor er den Boden berührt. Dann lande ich nicht dort, wo ich hinwollte – das Stolpern ist vorprogrammiert. Aber genau dadurch wächst meine Achtsamkeit.

Dazu kommen schmale Steige, auf die sich das Gras von beiden Seiten legt. Ich sehe meine Füße oft nicht, gehe tastend voran – Schritt für Schritt, dem Unsichtbaren entgegen. Das Wasser sammelt sich an den Halmen, ich streife es bei jedem Tritt ab. Die Folge: durchweichte Schuhe, nasse Socken, klamme Zehen – seit Stunden.

Und dann sind da noch die Höhenmeter. Es geht ständig auf und ab, ohne Pause. Manche Steige sind so steil, dass sie mit Brettern abgestützt wurden – doch diese Stufen reichen mir oft bis zum Knie. Kein einfacher Gang. Kleine Menschen werden es hier schwer haben. Und wenn selbst ich mich schwertue, sagt das einiges.

Mit Muskelschwäche am South West Coast Path

So viele Stufen wie auf diesem Abschnitt bin ich seit dem Hirnabszess nicht mehr gestiegen. Bilder steigen in mir auf – vom Schlossberg in Graz, meinem alten Übungsplatz. Dort lernte ich einst das Stufensteigen, Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. Am Anfang der Rehabilitation dachte ich nur an eines: Ich muss wieder Kraft aufbauen. Ich hoffte auf Fortschritt, auf Muskelwachstum – doch was ich für Kraftlosigkeit hielt, entpuppte sich als etwas anderes. Eine bleibende Muskelschwäche. Und dazu die gestörte Propriozeption, die nichts mit der Muskelkraft zu tun hat – sondern mit der tiefen Wahrnehmung des Körpers im Raum.

Ich musste erst verstehen, was da mit mir passiert war. Die Nervenverbindungen sind nachhaltig geschädigt. Und doch habe ich mich weiterentwickelt – weit mehr, als ich es anfangs für möglich hielt. Immer im Rahmen dessen, was mit der Muskelschwäche und der fehlenden Propriozeption möglich ist.

Am Anfang war schon das Aufstehen aus dem Bett eine Höchstleistung. Heute ist es noch immer nicht leicht – aber es fühlt sich nicht mehr unmöglich an. Und so ist es mit vielem.

Dass ich heute 50 Kilometer gehen kann, bedeutet mehr als eine Zahl. Es ist die Grundlage, um im Alltag durchzuhalten. Zuhause. Im Leben. Denn jedes Gehen schenkt mir Kraft – nicht nur für die Beine, sondern für alles, was durchzuhalten ist.

Das viele Gehen ist – in einem weiteren Sinn – auch eine Form der Flucht. Ich fliehe vor der Starre. Vor der Angst, mich nicht mehr bewegen zu können. Diese Angst sitzt tief. Und deshalb meide ich alles, was mich in diese lähmende Situation zurückführen könnte. Ich spüre es sofort, wenn etwas in mir zu erstarren droht. Dann wird jeder Schritt doppelt wichtig.

Lasse ich das Gehen für ein paar Tage aus, spüre ich, wie ich zurückfalle. Schnell, unerbittlich. Es ist, als würde der Körper vergessen, was er gelernt hat – und mit ihm auch der Geist. Genau das möchte ich vermeiden. Denn was es damals brauchte, um wieder in Bewegung zu kommen, war eine Kraftanstrengung, die ich nicht noch einmal durchleben möchte.

Das Gehen ist mein Weg geblieben. Mein Schutz, mein Weiterkommen – Schritt für Schritt aus der Angst heraus.

Ziele

Für mich ist es wichtig, ohne Ziele genauso glücklich zu sein. Klar habe ich den JOGLE als Ziel, jedoch mache ich mein Glück nicht davon abhängig, ob ich es erreiche oder nicht. Nur wenige Tage vor dem Beginn des SWCP, fühlte ich mich so glücklich und gut drauf, dass ich nach Hause fahren hätte können. Mein Glück hing nicht davon ab, ihn zu beenden oder nicht, so wie alle Wege die ich bisher bestritt.

Mein Weg darf niemals ein Kampf sein oder mich in ein Ziel gar zu verbeißen. Natürlich ist der JOGLE das bisher schwierigste Unternehmen, welches ich seit dem Hirnabszess mache, aber ich denke in anderen Dimensionen. Es geht mir nicht um das Prestige oder damit ich sagen kann, ich habe England durchquert. Jeden Schritt mache ich für mich und mein Leben, welchem ich damit einen Sinn gebe.

In den letzten Jahren hat sich immer mehr gezeigt, wie sehr mir der Aufenthalt in der Natur guttut. Die ersten Jahre war ich noch bemüht, mich auch wieder in der Stadt zurechtzufinden. Das ging nur schleppend und langsam dahin und in der Pandemie verschlechterte es sich sogar. Bis ich mich entschied, vorrangig in der Natur zu bleiben und mithilfe der Natur Verbesserung zu erwirken.

Deshalb tut es so gut, England, praktisch bis auf wenige Ausnahmen, in der Natur zu durchqueren. An größeren Städten besuchte ich nur Inverness, Glasgow, Bristol, Penzance und Exiter, wo ich Ruhepausen einlegte

Kleine Fischerdörfer am Weg des South West Coast Path

Meine Highlights entlang des Weges sind die kleinen Fischerdörfer. Sie liegen wie Ruhepunkte im Sturm – eingebettet zwischen Felsen, Meer und Wind. Oft – aber nicht immer – finde ich hier meinen Kaffee. Und wenn ich Glück habe, eine Steckdose für mein Telefon und die Powerbank. Dann bleibe ich sitzen, mit der Tasse in der Hand. Manchmal eineinhalb Stunden. Oder so lange, bis genug Strom da ist, um bis zum nächsten Tag durchzukommen.

Es ist meist meine einzige Pause am Tag. Denn draußen verhindern Sturm und Regen jedes Innehalten. Es gibt keine Unterstände, keine trockenen Plätze – alles ist klatschnass. Die wenigen kurzen Sonnenfenster nutze ich, um das Zelt zu trocknen. Ein tägliches Ritual zwischen Weitergehen und Warten.

Die Dörfer selbst bestehen aus alten Steinhäusern. Davor kleine, liebevoll gepflegte Gärten – manchmal wild, manchmal akkurat. Am Anfang stellte ich mir genau so die Küstendörfer vor: ruhig, schlicht, ehrlich. Doch je näher ich nach Land’s End komme, desto mehr verändert sich das Bild. Die Orte werden touristischer, voller, auf Hochglanz gebracht. Menschenmengen ziehen durch enge Gassen. St. Ives gehört zu den teuersten Gegenden hier – alles ausgebucht, alles belegt.

Ein völliger Kontrast zu den einfachen Fischerdörfern auf der Westseite. Und doch blitzt für einen Moment die Sonne durch – als würde sie mir diesen Übergang zeigen wollen. Genau in diesem Licht entdecke ich das Jakobswegzeichen, die vertraute Muschel. Ein stiller Moment, mitten im Trubel.

South West Coast Path

Zelten im Sturm, am South West Coast Path

Jeder Tag beginnt mit der Suche nach einem Schlafplatz. Das ist es, was mich beschäftigt. Nicht der Wind, nicht der Regen, sondern: Wo kann ich heute Nacht liegen? Hinter einer Hecke, geschützt vom Wind – dort geht es einigermaßen. Aber diesen Platz muss ich erst einmal finden.

Über steile Stufen geht es Klippe um Klippe rauf und wieder runter. Stundenlang. Und oft dauert es bis in den späten Nachmittag, ehe ich einen Platz finde, an dem ich mein Zelt aufstellen kann. Wenn es am Morgen regnet, ist der Start besonders unangenehm. Das nasse Zelt abbauen, alles zusammenpacken, im Wind verstauen – es kostet Kraft. Dann hoffe ich auf eine Regenpause, am besten mit ein wenig Sonne, um das Zelt unterwegs trocknen zu können. Denn eines ist sicher: Es gibt kaum etwas Unangenehmeres, als am Abend in ein klammes Zelt zu kriechen.

Oft bleibt mir nichts anderes übrig. Dann passe ich auf, dass der Schlafsack nicht den Boden berührt – alles, damit er trocken bleibt. Ich esse noch etwas, meist im Sitzen, in mich gekehrt, und versuche dann zu schlafen.

An Abenden mit Regen lasse ich das Kochen meist sein. Dann gibt es, was da ist: ein Stück Brot, Käse, manchmal ein wenig Salami. Wenn ich Glück hatte und am Nachmittag noch ein Kaufhaus kam – und ich die Kraft fand, mehr zu tragen – dann vielleicht auch eine Avocado. Man wird genügsam. In drei Monaten habe ich vielleicht fünfmal Butter gegessen. Jedes Mal ein kleines Highlight.

Mit der Dauer der Tour verändern sich die Bedürfnisse. Fett und Zucker bekommen plötzlich ihren Platz. Sie geben Energie, schnell und verlässlich. Für Eiweiß habe ich Kapseln dabei. Wenn ich Mozzarella finde, kaufe ich ihn – schwer ist er, deshalb wird er meist gleich unterwegs gegessen.

Manchmal nutze ich eine Regenpause am Nachmittag zum Kochen. Dann fällt das Abendessen aus – und das ist gut so. Denn wenn die Sonne untergeht, wird es rasch kalt. Dann bin ich froh, wenn ich einfach nur noch in meinen Schlafsack kriechen und zur Ruhe kommen kann. Nichts mehr tun. Nur liegen. Nur sein.

Alleinsein in der Natur

Eigentlich hatte ich gehofft, am South West Coast Path mehr Menschen zu treffen. Ich wollte an meiner Kommunikation arbeiten, Gespräche führen, mich austauschen. Doch das Wetter macht vieles zunichte – ich bin oft allein unterwegs. Regen, Sturm und kalte Tage lassen kaum jemand draußen verweilen. Seit dem Start in Schottland habe ich vielleicht mit zwanzig Menschen wirklich gesprochen. Die kurzen Sätze mit der Bedienung im Pub oder an der Supermarktkasse zähle ich nicht dazu.

Und doch bekommt das Alleinsein auf dieser JOGLE-Reise eine ganz neue Bedeutung. Ich entscheide mich, es anzunehmen – nicht als Mangel, sondern als Möglichkeit. Ich habe mich nie einsam gefühlt. Im Gegenteil: Diese Stille, diese Abgeschiedenheit geben mir Raum. Raum, um Vertrauen zu entwickeln – in mich selbst. Denn nur, wenn ich mir selbst vertraue, können andere eine Quelle der Freude sein. Keine Bedrohung, keine Sorge. Diese Tage sind lehrreich. Und sie bringen mich weiter – Schritt für Schritt, ganz leise.

Zum ersten Mal beginne ich zu verstehen, was Alleinsein wirklich bedeutet. Es ist nicht das Fehlen von anderen, sondern das Wahrnehmen von sich selbst. Ich sehe mich – und ich kann mich selbst einschätzen, ohne das Echo der Außenwelt zu brauchen. Innere Konflikte zeigen sich mir in einem größeren Zusammenhang. Und ich beginne zu erkennen, wo sie ihren Ursprung haben. Das ist für mich der Beginn von Heilung.

Hier, an der rauen Küste, neben dem Ozean, den Elementen ausgesetzt, führe ich ein Leben, das ganz bei mir ist. Ein Leben ohne Umwege, ohne Ablenkung. Es geht ums Wesentliche: um das Leben selbst. Um das Vertrauen in meine Intuition – besonders auf den wilden, einsamen Wegen, oben über den Klippen. Dort spüre ich sie am deutlichsten: die leise Gewissheit, dass dieser Weg der richtige ist.

South West Coast Path
Klippe runter, Klippe hoch!

Oft vergehen Stunden, bis ich wieder auf ein Dorf treffe. In unserer Zeit ist das ein Luxus, den viele gar nicht mehr kennen. Tagelang bin ich unterwegs – gehe einkaufen, versorge mich – und verschwinde dann wieder in die Natur. Dass ich dabei so viel lernen würde, hätte ich nicht erwartet.

Aber das funktioniert nur, wenn man bereit ist, mit sich allein zu sein. Ich beginne, meine eigenen Grenzen zu erkennen, meine Bedürfnisse, meine Sehnsüchte. Gedanken, die ich seit dem Hirnabszess kaum mehr in dieser Tiefe hatte. Doch langsam, ganz langsam, macht auch mein Gehirn Fortschritte. Und dafür bin ich dankbar.

Was mir die Natur bisher gegeben hat, lässt sich kaum in Worte fassen. Je mehr ich mich auf sie einlasse, desto mehr zeigt sie mir – ihre Ruhe, ihre Kraft, ihre Weisheit. Ich sehe sie klarer, verstehe sie besser. Und spüre, was sie mit mir macht. Ohne den Aufbruch auf den Jakobsweg vor fünf Jahren hätte ich diese Form der Heilung nie erfahren.

Manchmal denke ich daran, wie viele Menschen in Einrichtungen verharren, ohne die Chance, sich noch einmal ganz neu kennenzulernen. Ohne Wind im Gesicht, ohne Erde unter den Füßen, ohne Weite vor den Augen. Ich hatte das Glück, aufzubrechen. Und was ich dabei finde, bin ich selbst.

Das Land entdecken und mich selbst

In Portreath übernachte ich in einem der wenigen Hostels entlang des Weges. Die Besitzerin wird mit Jahresende schließen – sie geht in Pension. Es ist eines dieser Häuser, in denen man sofort merkt: Hier ist jemand mit Herz bei der Sache gewesen. Ich bin mit einer Familie die einzigen Gäste, obwohl das Haus eigentlich ausgebucht war. Doch viele haben wegen des schlechten Wetters abgesagt – und so wurde für mich ein Platz frei.

Viele Hostels liegen zu weit abseits vom Weg, um sie zu erreichen. Und da ich nie genau weiß, wie weit ich an einem Tag komme, kommt Vorreservieren für mich nicht infrage. Das Zelt ist flexibler. Und es erdet mich. Es bringt mich näher zur Natur, zu mir selbst.

Mit der Wirtin spreche ich lange. Über Gott und die Welt. Über das Leben. Es sind diese Gespräche, die in Erinnerung bleiben – unerwartet, ehrlich, offen. Zum Abschied gibt sie mir noch einen Tipp: Ein Stück weiter, gut versteckt zwischen Felsen, kann man Seehunde beobachten. Ich wäre daran vorbeigegangen, hätte sie für Steine am Strand gehalten.

Die Möwen, die Meisen – sie begleiten mich auch an diesem Tag. Trotz des Windes, trotz des Regens. Manche von ihnen tauchen wie kleine Zeichen auf, Krafttiere vielleicht, die mich ein Stück weit begleiten. Und mir zeigen: Ich bin auf dem richtigen Weg.

Unter all dem ist es mein eigentliches Abenteuer, das Einfache wiederzufinden – und neu zu entdecken. Meine Gedanken kreisen nicht um das, was ich erreicht habe, sondern um das, was wieder möglich wird. Ich beginne zu erkennen: Es wird möglich, was ich möglich mache.

Ein kleines Beispiel: Trotz der täglichen Anstrengung verspüre ich beim Niederbücken immer seltener Schwindel. Ein Fortschritt, der nicht nur körperlich ist. Ich spüre, dass es auch damit zu tun hat, dass ich zu mir stehe – dass ich endlich das tue, was ich wirklich möchte.Jetzt, zu Hause, wo ich diese Zeilen schreibe, muss ich wieder mehr aufpassen. Beim Aufstehen ist der Schwindel wieder spürbarer. Es ist ein Zeichen. Vor dem Hirnabszess habe ich vieles getan, das mir nicht guttut – und es trotzdem weitergemacht. Viel zu lange.

In Städten wird mir heute schneller schwindlig. Es ist, als würde mein Körper dort noch stärker zeigen, was ihm nicht bekommt. Hier draußen, fast ausschließlich in der Natur, geht es mir besser. Die Natur gibt mir Raum. Und Schwindel – so habe ich für mich erkannt – hat oft mit Dingen zu tun, die man verdrängt, zur Seite schiebt, nicht anschauen will.So arbeite ich mich voran – Schritt für Schritt, auf dem Weg wie in mir. Manchmal mühsam, aber immer weiter.

Am schönsten ist es, in der Gegenwart zu leben. Hier draußen ist das möglich. Tag für Tag, Tritt für Tritt. Und anders wäre es für mich gar nicht möglich, überhaupt weiterzukommen.

Am Meer angekommen, South West Coast Path

Den Abschluss bis zum Ende in Lands End und Point Lizzard, beschreibe ich dann das nächste Mal, mit einem Resümee, was mich der Weg durch England lehrte.


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Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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